Immer noch erregt die als „Kompromiss“ deklarierte Neuausrichtung des europäischen Asylsystems die Gemüter. Sie bedeutet eine Zäsur und ist faktisch eine Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Während Rechtspopulisten und Faschisten in Feierlaune sind, laufen nahezu alle linken bis liberalen NGOs Sturm gegen die Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze, von denen man annahm, sie seien Konsens. Die für diese „Reform“ Verantwortlichen von SPD und den Grünen nennen die Aushebelung des Flüchtlingsschutzes „historisch“ und jammern vielleicht öffentlichkeitswirksam kurz über „Bauchschmerzen“ – besonders die vorgesehene Inhaftierung von Kindern gehe zu weit. Ansonsten seien Knäste für Schutzsuchende wie in Moria oder Lesbos offenbar in Ordnung.
Außenministerin Baerbock wird konkret und erklärt, worum es geht: „Auch um unser Europa ohne Kontrollen an den Binnengrenzen zu erhalten, war dieser Kompromiss nötig.“ Also: Freizügigkeit für privilegierte EU-Bürger:innen (inklusive der „guten“ Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine), Abschottung und weitere Aufrüstung an den Außengrenzen, Legalisierung von Push-Backs, „Rückführungsabkommen“ mit möglichst allen Staaten auf den Fluchtrouten. Die Blaupause dafür ist der perfide Deal von 2016 mit Erdogan, in dem ausgerechnet die Türkei als „sicherer Drittstaat“ definiert wurde. Betroffen sind vor allem Flüchtende aus Syrien, Irak und Afghanistan.
Bei der sogenannten Reform des EU-Asyl-Systems geht es nicht um den Schutz von Menschen. Geschützt werden Grenzen. Mag sein, dass die Weichen jetzt schon gestellt wurden mit Blick auf die zu erwartenden Klimaflüchtlinge, deren Heimat unbewohnbar wird durch die Verwüstungen, die das Dogma eines grenzenlosen Wachstums in den Metropolen der Wirtschaft und des Wohlstands mit sich brachte. Kluge Voraussicht?
Getrieben von der Angst vor Rechtspopulisten und Faschisten in vielen Ländern Europas meint man mit martialischer Flüchtlingsabwehr und militärischer Aufrüstung jene beschwichtigen zu können, die immer lauter am rechten Rand randalieren und das neo-liberale Projekt Europa stören. Sie produzieren hässliche Bilder. Brennende Flüchtlingsunterkünfte hinterlassen braune Flecken in den Hochglanzbroschüren, mit dem für Europas grün-gewaschene „Werte“ geworben wird.
Undifferenzierter Rassismus ist daher bei den (meisten) Mitgliedern der Ampelkoalition (noch) verpönt. Denn man weiß, dass ohne Migration diese Gesellschaft nicht überlebensfähig ist. Deshalb wurde nun ein „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ beschlossen. Weltweit wird derzeit um ausgebildete Arbeitskräfte geworben. Sie sollen – möglichst billig – den hiesigen Mangel an Lohnarbeiter:innen beheben. Dass man sie dem Arbeitsmarkt in ihrer Heimat entzieht… egal! Wer für deutsche Unternehmen brauchbar scheint, dem öffnen sich die Tore nach Europa. Fein säuberlich wird sortiert: Die Guten ins Töpfchen zur Stabilisierung der nationalen Ökonomie, die anderen dürfen im Mittelmeer ertrinken oder in der Wüste verdursten.
Es geht nicht um Werte, es geht um Verwertung. In der krisengeschüttelten Kapitalistischen Moderne des 21. Jahrhunderts Realität und folgerichtig. Deshalb gibt es auch keinen Grund, von der SPD, den Grünen oder sonst einer Partei im parlamentarischen Spektrum „enttäuscht“ zu sein. Ihre Aufgabe ist es, im Auftrag des Staates nationale Interessen zu schützen.
Oft ist auch die Rede von der „Doppelmoral“ des Regierungshandelns. Beispiele: Den Ukrainer:innen wird das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen, den – ebenfalls völkerrechtswidrig angegriffenen – Kurd:innen aber verweigert. Mit „Jin Jiyan Azadî“ zu posieren gilt als schick, gleichzeitig steht das Zeigen von Abbildungen des Urhebers dieser Parole unter Strafe. 2015 wurden – für kurze Zeit – die Held:innen der PKK und YPG/YPJ im Kampf gegen den sogenannten IS gefeiert, heute gelten sie als „Terroristen“. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen…
Nein, Moral ist keine Kategorie politischen Handelns in der Kapitalistischen Moderne. Das wissen alle, warum also die Empörung?
Wäre es nicht kräftesparender, an die politischen Repräsentanten adressierte Moralappelle zu unterlassen? Der Traum, innerhalb des parlamentarischen Systems ein gutes Leben für alle im Gleichklang mit der Natur zu erstreiten, ist spätestens seit dem Marsch durch die Institutionen der alten 68er ausgeträumt.
Linke Bewegungen sind heute marginalisiert. Man ist sich einig in der Ablehnung des Bestehenden, hat sich vielleicht noch ein Gespür für Utopien bewahrt und diskutiert darüber am Feierabend in kleinen Zirkeln. Doch es fehlt die Bereitschaft zu einer umfassenden Widerstandspraxis. Sie würde die Aufgabe des in der zumeist hedonistischen Blase gefangenen Individuums bedeuten. Ausrichtung auf das Gemeinwohl statt Breittreten der subjektiven Befindlichkeit. Der lange Prozess der Organisierung. Kritik und Selbstkritik. Zweifellos mühsam und nicht frei von Enttäuschungen und Rückschlägen. Dann lieber doch Party feiern…?
Eine Antwort auf die alte Lenin’sche Frage „Was tun?“ gibt Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): Um die Gesellschaft zu verändern, muss man zuerst sich selbst verändern. Ist jede:r Einzelne innerhalb der Linken dazu bereit?
Foto: „Widerstand heißt Leben" (Jinwar)