Kommentar: Die Angst der Medien vor dem Despoten
Wie Erdogan den deutschen Redaktionen Vorschriften macht. Ein Kommentar von Kalle Schönfeld.
Wie Erdogan den deutschen Redaktionen Vorschriften macht. Ein Kommentar von Kalle Schönfeld.
Bei der Berichterstattung der deutschen Medien springt eine merkwürdige Einheitlichkeit ins Auge: die großen Presseorgane betitelten den nicht provozierten Angriff auf ein fremdes Staatsgebiet durch die Türkei lange fast ausnahmslos als „Offensive“ oder „Militäroffensive“. Diese Verharmlosung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges zeigt nicht nur die Einheitlichkeit der von Großkonzernen beherrschten Presselandschaft. Sie weist auch auf die Beeinflussbarkeit der hiesigen Presse durch den türkischen Staat hin.
Das Wort „Offensive“ stammt aus dem militärtaktischen Bereich und bezeichnet eine bestimmte Operationsform innerhalb eines laufenden Krieges. Es ist ein technokratischer Begriff ohne jeglichen politischen Kontext. Alternativen sind den deutschen Journalisten durchaus bekannt. Bei der Ukraine-Krise 2014 etwa bezeichneten sie die russischen Aktionen als „Angriff“ (Spiegel), „Besetzung“ (Süddeutsche Zeitung) oder gar „russische Invasion“ (Welt, Stern, Zeit).
Auch am 7.Oktober warnte die „Frankfurter Allgemeine“ vor einer drohenden „Invasion“ der Türkei. Was am 9.Oktober schließlich stattfand, war dann plötzlich zur „Militäroffensive“ geworden. Den möglichen Grund dafür verkündete Erdogan öffentlich am darauffolgenden Tag: „Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Tore öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen “. Die deutsche Presse fühlte sich offensichtlich berufen, diese Sprachregelung mit Rücksicht auf Erdogans Drohung mit der „Flüchtlingswaffe“ wortwörtlich zu befolgen. Die nächsten Tage tauchte kaum eine negative Bezeichnung für den Angriffskrieg in der Berichterstattung auf. Stattdessen beherrschte das verharmlosende Wort der „Militäroffensive“ die Titelseiten.
Erst am Montag fiel die Sprachregelung: Staatssekretär Niels Annen hatte in einem NDR-Interview das Wort „Invasion“ in den Mund genommen. Auf der Bundespressekonferenz war noch ausschließlich von „Offensive“ oder „Militäroperation“ die Rede. Als aber ein Journalist den Sprecher des Auswärtigen Amtes, Christopher Burger, auf Annens Äußerung ansprach, reagierte der offensichtlich verärgert und wollte sich erst nicht „auf Wortklaubereien“ einlassen. Weiter in die Ecke gedrängt, platze er heraus „Der Sachverhalt ist doch völlig klar! Welchen Begriff Sie dafür präferieren, überlasse ich Ihnen.“
Am Dienstag dann erschien der Begriff „Invasion“ wieder auf den Seiten von „Zeit“, „Spiegel“ & Co. Die Wortwahl der Artikel war deutlich kritischer, Augenzeugen aus der betroffenen Zivilbevölkerung wurden zitiert und die Statements der SDF-Verteidiger erwähnt. Auch wenn die Berichterstattung seitdem wieder vorsichtiger zu werden scheint, ist das Ende der offensichtlichen Selbstzensur auf den ersten Blick positiv. Besorgniserregend jedoch bleibt, dass die großen Presseorgane im vermeintlich liberalen Westen sich anscheinend von den politischen Drohungen des türkischen Regimes einschüchtern lassen und auf die Erlaubnis ihrer Regierung warten, um ihre Wortwahl von den Fakten und nicht von politischer Erpressung abhängig machen.