Kommentar: Der „Rasierklingen-Skandal” und die Doppelmoral

Beim Drittligaspiel zwischen Amedspor und Sakaryaspor soll Amedspor-Spieler Mansur Çalar seine Gegenspieler mit einer Rasierklinge verletzt haben. Die Skandal-Nachricht schlägt ein und geht viral, türkische Nationalisten ergießen sich in einem Shitstorm.

Was war passiert? Am Samstag kam es beim türkischen Drittligaspiel zwischen Amedspor und Sakaryaspor zu zahlreichen Rangeleien und Rudelbildungen. Dabei soll Amedspor-Spieler Mansur Çalar seine Gegenspieler mit einer Rasierklinge verletzt haben. Fernsehbilder würden dies belegen, heißt es in der Bild und zahlreichen anderen Medien. Die Skandal-Nachricht schlägt ein und geht viral, türkische Nationalisten ergießen sich in einem Shitstorm gegenüber Medien, die kürzlich kritisch über Repressionen gegen den kurdischen Verein und seine Fans berichtet hatten.

Doch was passierte wirklich und was ist auf den Bildern genau zu erkennen? Im verlinkten Fernsehausschnitt zeigt der türkische Fernsehkanal TV 264 zunächst Mansur Çalar während dem Abspielen der Nationalhymne und will eine Rasierklinge in seiner linker Hand erkennen.

In der Folgeszene wischt Mansur Çalar einen Gegenspieler von hinten am Trikot und in einer dritten Szene geht er einem weiteren an die Gurgel. Konkret erkennen kann man aber gar nichts, man kann maximal vermuten. Die „Greifhaltung” der Hand bei der Hymne ist typisch, wie man auch bei anderen Spielern erkennen kann. Würde er nicht „greifen”, sondern eine Faust ballen, wäre Mansur Çalar in den gleichen Medien möglicherweise als „respektloser Kurde” gebrandmarkt worden. Genauso könnte man auf den Fernsehbildern auch eine Rasierklinge bei dem Sakarya-Spieler vermuten, der bei der Nationalhymne den faschistischen Gruß der grauen Wölfe formt. Was weitere Zweifel aufwirft sind die Reaktionen der Sakarya-Spieler bei den erwähnten Szenen, die lediglich überrascht schauen. Ob so eine typische Reaktion nach einem Angriff mit Rasierklinge aussieht, darf zumindest angezweifelt werden.

Als weiterer Beweis für den Rasierklingenangriff dienen Fotos der attackierten Sakarya-Spieler mit leichten Kratzern im Gesicht, die aber ganz offensichtlich nicht mit einer Rasierklinge zugefügt worden sein können. Kurz zusammengefasst, was genau passiert ist, wissen wir nicht – wir können nur spekulieren. Beide Teams haben ihre Version des strittigen Vorfalls, aber in den türkischen Medien wird mit Begriffen wie „Fußballterror” vorverurteilt. Auch in Deutschland ist die Skandal-Meldung schnell geteilt. Der türkischen Presse wird nach dem Mund geplattert, obwohl man sich sonst gerne über die Zustände der Pressefreiheit in der Türkei empört. Hinterfragen? Recherchieren? Fehlanzeige. Stattdessen wird ein Sakaryaspieler ganz Bild-like als Opfer zitiert: „Wir sind nach Diyarbakir gereist, um Fußball zu spielen – und nicht, um in den Krieg zu ziehen!” Und weiter: „Immer wieder kommt es in Spielen mit Beteiligung von Amedspor zu Skandalen. So gelten die überwiegend kurdischen Anhänger des Klubs als Befürworter eines unabhängigen kurdischen Staats, pfeifen während der türkischen Nationalhymne, die vor jeder Ligabegegnung abgespielt wird.” Für letzteres gibt es keine Belege bzw. hätte der werte Metin Gülmen sich auch nur ein Spiel von Amedspor angeschaut, würde er feststellen, dass diese Behauptung schlicht und einfach gelogen ist. Aber da ich einfach mal davon ausgehe, dass es Herrn Gülmen und seinen Chefredakteur*innen primär nicht um seriösen Journalismus geht, hinterfrage ich an der Stelle mal kritisch die Ursachen der „unschönen Szenen” und das Verhalten der türkischen Medien.

Was war also der Auslöser, dass beide Mannschaften in diesem Spiel bei jeder Gelegenheit aneinander gerieten? Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf das Hinspiel in Sakarya am 13. Oktober 2018. Zum Einlaufen beider Mannschaften spielt der Heimverein über die Videoleinwand Kriegsaufnahmen von Militäroperationen aus kurdischen Gebieten wie Sur, Cizre und Nusaybin ab. Das Fußballspiel gegen den „Kurden-Verein” wird bewusst zum Krieg hochstilisiert.

Die Spieler von Amed zeigen sich schockiert, was ihnen wiederum als Terroristen-Sympathie ausgelegt wird. Die Emotionen schaukeln sich hoch und enden in tätlichen Angriffen auf Amedspor. Spieler und Fans von Sakarya versuchen nach Spielende die Kabine der Kurden zu stürmen, Videoaufnahmen belegen all diese Vorkommnisse. Allein dieser Vorfall verdeutlicht die Doppelmoral der zitierten Aussage des Sakarya-Spielers, man wolle nur Fußball und keinen Krieg. Auch sonst sind Schikanen und rassistische Angriffe gegen Amedspor an der Tagesordnung und eigentlich ganz einfach zu recherchieren. Denken wir an Deniz Naki, der vom Fußballverband wegen eines Tweets für zwölf Spiele gesperrt wurde. Er hatte an verstorbene Zivilist*innen bei Operationen des türkischen Militärs erinnert. Amedspor erlebt landauf, landab ausufernden Rassismus und Gewalt. Ein Vorstand wird beim Auswärtsspiel bei Ankaragücü 2016 fast tot geprügelt. Beim Auswärtsspiel in Sivas verweigert jedes Hotel in der Stadt Amedspor die Übernachtung. Der Fußballverband bestraft Amedspor für ein Transparent der Spieler mit der Aufschrift „Die Kinder sollen nicht sterben, sie sollen zum Spiel gehen”. Die Systematik und die Projezierung des sogenannten „Kurden-Problems” und des Krieges auf den Sport ist unübersehbar. Angesichts dessen setzt die „Analyse” der Bild, Amedspor sorge immer wieder für Negativschlagzeilen, dem Ganzen die Krone auf.

Was die erwähnten Spielszenen betrifft, können wir abschließend festhalten, dass wir maximal spekulieren können. Es gab „unschöne Szenen”, wo auch Mansur Çalar nicht zimperlich mit seinen Gegenspielern umging. Allerdings sind es Szenen, die so jede Woche auf Sportplätzen bis in die Kreisliga runter passieren. Sticheleien und Psychotricks gehören wahrscheinlich zum Repertoir eines jeden guten Verteidigers. In Südamerika sind Stecknadeln bei Abwehrspielern Usus, um die gegnerischen Stürmer zu zermürben. Das muss man alles nicht gut finden, aber auch nicht übermäßig dramatisieren. Welche Motivation bei den türkischen, regierungsnahen Medien dahinter steckt, den Vorfall als „Fußballterror” aufzubauschen, ist allerdings angesichts der systematischen Unterdrückung des Clubs unschwer zu durchschauen. Es stimmt bedenklich, wenn die türkischen Medien den Fall nicht mal mehr als „Skandal”, sondern wörtlich als „Terror” behandeln. Was das in der Türkei bedeutet, kann man sich vorstellen. Gegen Mansur Çalar, der von seinen Gegenspielern angezeigt wurde, ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft. Dem Spieler wurden Meldeauflagen bei der Polizei auferlegt und ein Ausreiseverbot verhängt – wegen einer mehr oder weniger harmlosen Fußballrauferei. Informationen, die in der hiesigen Berichterstattung – bewusst oder unbewusst – unter den Tisch fallen. Die Heuchelei von Medien, die Deniz Yücel noch als Geisel Erdogans beweinten, ist unübersehbar.


Friedemann Pitschak gehört zu den Macher*innen der Dokumentation „Ayaktakımı” über die Fankultur in der Türkei zwischen industriellem Fußball und staatlicher Repression. Er ist Herausgeber vom Fanzine „Direniş - Fußball im Ausnahmezustand”  und im Orgateam der Amedspor Solitour.