Kommentar: Abrechnung mit dem letzten Jahrhundert

Vor hundert Jahren wurde die Republik Türkei gegründet. Heute wird der monistische Nationalstaatsfaschismus rigoros umgesetzt. Mesopotamien und Anatolien, die in der Geschichte als Paradies bezeichnet wurden, sind zur Hölle geworden.

Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik Türkei gegründet. Sie besteht jetzt seit hundert Jahren, und leider beginnt das neue Jahrhundert unter der faschistisch-genozidalen Regierung von Tayyip Erdoğan und seiner Volksallianz. Die letzten Wahlen am 14. und 28. Mai waren eine wichtige Gelegenheit, diese Situation zu ändern. Aber diese Chance konnte nicht ausreichend genutzt werden oder der Erdoğan-Bahçeli-Faschismus hat sie verhindert. Nun gilt es, mit dem antifaschistischen revolutionären Kampf das zu tun, was mit Wahlen nicht möglich war, und durch den Sturz der faschistischen Diktatur den Weg für eine Demokratisierung in der Türkei zu öffnen.

Mit dem Näherrücken des 29. Oktober, der der Gesellschaft seit einem Jahrhundert als „Tag der Republik" aufgezwungen wird, nahmen die Bemühungen der Erdoğan-Regierung zu, sich selbst zum Staat zu erklären. Tayyip Erdoğan wollte an diesem hundertsten Jahrestag seine absolute Macht, seine Position als „zweiter Atatürk" verkünden. Darauf hat er sich intensiv vorbereitet. Auf dieser Grundlage wollte er enthusiastische Feierlichkeiten veranstalten, die sich über Tage und vielleicht Wochen hinziehen sollten. Er hatte alles entsprechend vorbereitet, so auch die Wahlen im Mai.

Doch die Kalkulation ging nicht auf. Tayyip Erdoğans Lüge „Ich habe die PKK erledigt" wurde durch die Fedai-Aktion, die am 1. Oktober das Innenministerium traf, eindeutig dementiert. Die darauf folgenden Entwicklungen haben die Erdoğan-Regierung weiter entlarvt und allen gezeigt, dass sie schwach und am Ende ist. Daher ist sein Bajonett sozusagen gefallen. Zweifellos versucht er, alle seine Macht spüren zu lassen, indem er wieder extravagante Feiern veranstaltet. Aber es wird nicht über den Anschein eines gerupften Huhns hinausgehen.

In diesem Rahmen werden weiterhin falsche Reden gehalten und der rassistisch-chauvinistische Nationalismus wird so weit wie möglich eskalieren. Die Kriecher werden weiterhin Tayyip Erdoğan loben und sagen, er sei der „zweite Atatürk". Die Gesellschaft der Türkei wird mit dieser Demagogie erstickt und daran gehindert, eine korrekte und angemessene Bilanz des letzten Jahrhunderts zu ziehen. Aus diesem Grund müssen die sozialistischen und demokratischen Kräfte wachsam sein und daran arbeiten, dass diese chauvinistische Propaganda die Gesellschaft nicht zu sehr vergiftet. Das Bewusstsein der Gesellschaft muss durch eine wirkliche und richtige Abrechnung mit dem vergangenen Jahrhundert geschärft werden.

Was aber ist der grundlegende Rahmen für eine korrekte Bilanz? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist es zunächst notwendig, einen kurzen Blick auf die Ereignisse und Kämpfe in der Zeit vor der Ausrufung der Republik zu werfen. Zum einen kämpfte das kurdische Volk gegen die britische und französische Besatzung, und es waren vor allem die Kurden, die das Land verteidigten. Die Armee, die gegen die griechische Besatzung kämpfte, war wiederum die osmanische Armee unter dem Kommando von Kâzım Karabekir, die in Kurdistan überlebte. In Anatolien leisteten viele Einzelpersonen und Gruppen, darunter der Tscherkesse Ethem, an vorderster Front Widerstand gegen die Besatzung. Kurzum, dieser vielschichtige Kampf bereitete die Gründung der Republik vor.

Das Parlament, das die Republik proklamierte, wurde auf der Grundlage der Kongresse von Sivas und Erzurum gegründet, an denen Kurden aktiv teilnahmen. Bis zur Ausrufung der Republik beteiligten sich die Kurden sehr aktiv an der Arbeit des Parlaments. Die Grenzen des Misak-ı Milli wurden als „das Land, in dem Türken und Kurden leben" definiert. Mustafa Kemal selbst kündigte an, dass die Kurden in der neuen Staatlichkeit Autonomie erhalten würden. Die Verfassung von 1921 enthielt diese Bestimmung ausdrücklich. Die Kurden waren also eine fundamentale Kraft und ein wesentliches konstituierendes Element bei der Vorbereitung der Republik.

Nach der Ausrufung der Republik und der Etablierung der Staatsmacht wurde jedoch die Politik der Gründungszeit umgekehrt und eine andere Politik verfolgt. Im Wesentlichen wurden alle, die zur Gründung der Republik beigetragen hatten, einer nach dem anderen liquidiert. Dieser Prozess begann mit der Liquidierung von Ethem, dem Tscherkessen, und setzte sich mit der Liquidierung von Kâzım Karabekir und anderen Gründungspaschas fort. Viele Organisationen und Gemeinschaften, die am Befreiungskampf teilgenommen hatten, wurden verboten. Das Autonomiesystem für die Kurden wurde aus der Verfassung gestrichen, und es entstand ein neues Verständnis und eine neue Strategie mit dem einheitlichen Konzept einer „türkischen Nation", das die Kurdinnen und Kurden ignorierte und ihre Vernichtung vorsah.

Kurz gesagt, der Staat der Republik Türkei wurde auf der Grundlage des Verständnisses gegründet, die Kurden zu ignorieren und zu vernichten. Er ist seit einem Jahrhundert den Kurdinnen und Kurden feindlich gesinnt und hat seine gesamte andere Politik entsprechend gestaltet. Dieser genozidale Angriff wurde in geplanter und organisierter Weise das ganze letzte Jahrhundert hindurch fortgesetzt. Die Regierungen haben gewechselt, es gab Militärputsche, aber diese Hauptideologie und Strategie des türkischen Staates hat sich nicht geändert. Die Regierungen haben sich gegenseitig das Programm für die Durchführung des Völkermords an den Kurdinnen und Kurden übergeben. Die Legende besagt, dass Adnan Menderes [der erste aus freien Wahlen hervorgegangene Ministerpräsident der Türkei. Er regierte von 1950 an, wurde 1960 durch das Militär gestürzt und 1961 auf der Gefängnisinsel Imrali hingerichtet], als er nach seinem Sturz durch einen Putsch zur Hinrichtungsstätte gebracht wurde, von den ihn begleitenden Offizieren zur Probe gefragt wurde: „Was ist das wichtigste Problem der Türkei?“. Adnan Menderes, der angeblich nicht mehr stehen konnte, weil er zu viele Medikamente eingenommen hatte, soll ohne zu zögern geantwortet haben: „Die kurdische Frage.“

Natürlich kann eine Mentalität und eine Politik, die den Kurdinnen und Kurden als wichtigem Bestandteil der Bevölkerung in der Türkei einen Völkermord auferlegt, niemals demokratisch sein. Die Kehrseite des Völkermords an den Kurden ist die faschistische Unterdrückung, Ausbeutung und Verfolgung in der Türkei. Alle Mittel des Landes werden für den Völkermord eingesetzt, weshalb die Türkei in jeder Hinsicht ins Hintertreffen geraten ist. Infolgedessen wurde die Türkei, die über alle Arten von Reichtum verfügte, zu einem Land der dritten Klasse in der Welt gemacht.

Jetzt, da das hundertjährige Jubiläum abgeschlossen ist und ein neues Jahrhundert beginnt, ist die Situation der Türkei mit ihrem Staat und ihrer Gesellschaft offensichtlich. Der monistische Nationalstaatsfaschismus wird rigoros umgesetzt. Unter einem solchen Regime sind Mesopotamien und Anatolien, die in der Geschichte als Paradies bezeichnet wurden, zur Hölle geworden. Die Gesellschaft befindet sich in einer Krise und der Staat am Rande des Zusammenbruchs. Durch die Fortsetzung des Völkermordes an den Kurdinnen und Kurden basiert der Staat seit einem Jahrhundert auf einem System des endlosen Krieges. Die Worte von Mustafa Kemal, „Frieden im eigenen Land, Frieden in der Welt", werden heute von der Regierung unter Tayyip Erdoğan als „Krieg im eigenen Land, Krieg in der Welt" umgesetzt. Am 17. Oktober wurde das Auslandsmandat, mit dem andere Teile Kurdistans [in Syrien und Irak] besetzt wurden, um zwei weitere Jahre verlängert.

Die Mentalität und die Politik, die auf dem Völkermord an den Kurdinnen und Kurden basieren, haben das letzte Jahrhundert für die Gesellschaft der Türkei vergiftet. Der Satz „Wenn es um das Vaterland geht, ist der Rest Nebensache" steht für die Feindseligkeit gegenüber den Kurden. Ein Jahrhundert dieser Feindschaft hat dazu geführt, dass die Kurdinnen und Kurden kein Vertrauen mehr haben. Trotzdem haben sie sich immer für eine Einheit der Völker eingesetzt. Die Beharrlichkeit des türkischen Staates beim Völkermord hat sie jedoch in hohem Maße verunsichert. Wenn sie heute immer noch versuchen, als „Nation der Türkei" zusammenzuleben, ist die einzige Macht, die das ermöglicht, Abdullah Öcalan. Wenn Barzanî genug Macht hätte, würde er keinen einzigen Türken übrig lassen.

Beim Eintritt in das zweite Jahrhundert der Republik Türkei setzt die derzeitige faschistische AKP/MHP-Diktatur auf der Vertiefung und Fortsetzung ihrer antikurdischen und genozidalen Mentalität und Politik. Aber wir sollten auch Folgendes wissen: Das Komitee für Einheit und Fortschritt [Ittihad ve Terraki, türkische nationalistische Organisation, die zwischen 1889 und 1926 aktiv war und 1915 den Völkermord an den Armenier:innen organisierte], das auf eine feindliche und völkermörderische Mentalität und Politik gegenüber den Armeniern setzte, hat den Zusammenbruch des 700-jährigen Osmanischen Reiches herbeigeführt, indem es einen Feigenbaum an dessen Wurzel pflanzte. Jetzt wird der AKP/MHP-Faschismus, der die gleiche Mentalität und Politik aufweist, den ein Jahrhundert alten türkischen Staat zum Zusammenbruch bringen. Denn es gibt kein anderes Ergebnis, zu dem diese Mentalität und Politik führen kann. Natürlich wird die gesamte Last des Zusammenbruchs und der Zerstörung auch auf dem Rücken der Völker ausgetragen werden. Deshalb ist es notwendig, den AKP/MHP-Faschismus zu zerschlagen und die Völker vor einer solchen Katastrophe zu bewahren, ohne das Land und die Gesellschaft zu zerstören. Die Abrechnung mit dem letzten Jahrhundert besteht darin, eine radikale Änderung der völkermörderischen Mentalität und Politik beim Eintritt in das neue Jahrhundert ins Auge zu fassen und dafür einen organisierten und ganzheitlichen demokratisch-revolutionären Kampf zu führen.

Die Kolumne erschien zuerst auf Türkisch in Yeni Özgür Politika.