Zum Tag der kurdischen Sprache am 15. Mai erklärt das Bildungskomitee der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans): „Der Kampf für die Sprache ist der Kampf für die eigene Identität und Existenz.“ Der 15. Mai wird seit 2006 als Tag der kurdischen Sprache begangen. Das Datum geht auf die erste Herausgabe der Zeitschrift Hawar im Jahr 1932 zurück. Die in Damaskus herausgegebene Zeitschrift gilt als Schule des kurdischen Verlagswesens und spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der kurdischen Sprache.
Die KCK erklärt, dass muttersprachlicher Unterricht ein „absolut legitimes Recht“ ist. Genauso sei es ein unverzichtbares Recht und eine Notwendigkeit, sich für die Durchsetzung dieses Rechts in allen Lebensbereichen zu organisieren und in Aktion zu treten.
Weiter heißt es in der Erklärung: „Zum heutigen Tag der kurdischen Sprache gratulieren wir zuallererst Rêber Apo [Abdullah Öcalan], der die Freiheitshoffnung eines Volkes, dessen Identität, Sprache und Existenz verboten worden waren und dessen Existenz verleugnet wurde, in einen aktiven Kampf verwandelte und sich dabei von nichts aufhalten lassen hat. Zugleich gratulieren wir aus Anlass des heutigen Tages allen Gefallenen, die ihren Tod für die Existenz, Sprache, Werte und Freiheit ihres Volkes nicht als ein Ende betrachtet haben und dadurch unsterblich geworden sind. Ebenso gratulieren wir allen Völkern dieser Welt und unserem widerständigen Volk, das trotz all der Verbote, Unterdrückung, Einschüchterung, Folter und Morde stets darauf bestanden hat, in seiner eigenen Sprache zu singen, Zilgit zu trillern, Heldengeschichten zu erzählen und Trauerlieder zu singen – und sich dementsprechend nie ergeben hat.
Sprache als Überlebenswerkzeug
Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel. Es ist das wichtigste Werkzeug eines Volkes, um seine Identität und Kultur am Leben zu halten und ihnen eine Zukunft zu geben. Jede Sprache trägt die Geschichte, Kultur, Literatur, Kunst und Lebensphilosophie eines Volkes in sich. Genau deshalb hat unser Volk nie damit aufgehört, unter größten Opfern seine Sprache, Kultur und Existenz gegen die seit Jahrhunderten andauernde Vernichtung und gegen den physischen Genozid zu verteidigen.
Als Volk und als dessen Freiheitsbewegung beharren wir im Mittleren Osten auf zwei lebensnotwendige Praktiken und spielen in Bezug auf beide eine Führungsrolle: Zum einen lehnen wir die Verleugnungspolitik als historische Lüge ab, während wir zum anderem die Verleugnung aller Identitäten, Arten, Existenzen, Sprachen, Töne und Ideen nicht akzeptieren. Wir bemühen uns dementsprechend darum, unserem Dasein gerecht zu werden. Wir möchten so leben, wie Gott uns geschaffen hat und wie unsere Mütter uns geboren haben. Wir möchten mit der Sprache leben, durch die wir zu Menschen geworden sind. Wir wollen im Einklang mit unserer eigenen Wahrheit leben und wünschen uns Freiheit für alle Sprachen, Töne und Farben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in Bezug auf Demokratie in der vielversprechendsten Epoche und zugleich in einem farbenfrohen geographischen Kontext befinden. In dieser Region treffen unzählige Identitäten, Gemeinschaften, Sprachen, Religionen und Ethnien aufeinander. Deren gemeinsames Zusammenleben und der Ausdruck jeder einzelner dieser unterschiedlichen Identitäten ist der bedeutungsvollste Festtag für uns alle. Die Revolution von Rojava ist genau dies. Wir empfinden es als großes Glück, dass die Revolution in Rojava als wahrhaftige kulturelle Revolution dem Streben aller Sprachen und Töne nach einem freien Leben den Weg weist.“
Verlust der eigenen Sprache bedeutet Kolonisation und Assimilation
Abdullah Öcalan vertrete folgende Position zur Bedeutung der Muttersprache: „Das Entwicklungsniveau der Sprache ist ein Ausdruck des Entwicklungsniveau des Lebens. Je stärker eine Gesellschaft ihre Sprache entwickelt, desto entwickelter ist ihr Lebensniveau als Ganzes. Doch je mehr eine Gesellschaft ihre eigene Sprache verliert und unter die Hegemonie anderer Sprachen gerät, desto umfassender wird sie Kolonisation, Assimilation und Völkermord ausgesetzt. Eine Gesellschaft, die in solch eine Situation gerät, kann nicht über eine Mentalität, Moral und ein ästhetisch-bedeutungsvolles Leben verfügen. Sie wird als eine kranke Gesellschaft bis zu ihrer endgültigen Vernichtung stets einem äußerst tragischen Leben ausgesetzt sein.“
Vor diesem Hintergrund wird laut KCK deutlich, „dass Sprache eine gemeinsame Identität, Würde und das kollektive Erinnerungsvermögen einer Gesellschaft darstellt. Die Verteidigung und Förderung gesellschaftlichen Erinnerns ist direkt mit der Verteidigung und dem Schutz der Muttersprache verbunden. Wenn Verleugnung und Völkermord gemeinsam praktiziert werden, kommt es in der Praxis zum Sprachverbot. Die kurdische Sprache als verboten, problematisch, separatistisch, rückständig und primitiv zu bezeichnen, ist im Grund genommen Ausdruck einer Politik, die auf die Vernichtung der kurdischen Existenz abzielt. Daraus ergibt sich für uns mehr denn je die Notwendigkeit, gegen diesen Genozid noch mehr auf Kurdisch zu reden, zu schreiben und zu denken, um uns zu organisieren, Widerstand zu leisten und für unsere Sprache zu kämpfen. Für alle Kurdinnen und Kurden, die an eine freie Zukunft glauben, ist es daher eine unverzichtbare Aufgabe, tagtäglich gegen die Assimilation zu kämpfen.
Der Tag der kurdischen Sprache ist ein Tag, an dem wir unser Bewusstsein gegen die Assimilationspolitik stärken, gegen die Vernichtungspolitik Widerstand leisten und das kollektive Erinnern gegen den Erinnerungsverlust intensiveren. Die Prämisse ,Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur die Sprache` verdeutlicht die unverzichtbare Bedeutung der Sprache für die Existenz eines Volkes. In diesem Sinne ist die kurdische Sprache die Bedingung dafür, dass das kurdische Volk es selbst sein kann. Mithilfe massiver Gewalt und aller Mittel spezieller Kriegsführung wird versucht, unsere Sprache zu vernichten und vergessen zu machen. Dagegen Stellung zu beziehen, ist weiterhin eine dringende Notwendigkeit, die sich aus unserer politischen Existenz, der Tradition unseres Kampfes und unserer Verantwortung gegenüber unserer Geschichte und unserem Volk ergibt.
Sprache wird von Generation zu Generation weitergegeben
Wir dürfen niemals vergessen, dass Sprache durch die junge Generation am Leben gehalten und somit von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Sprache entwickelt sich durch Bildung und gewinnt durch Literatur, Kunst und Kultur an Schönheit. Von alltäglichen Routinetätigkeiten bis hin zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Produktionstätigkeiten müssen wir unsere Sprache benutzen und durch sie eine Verbindung mit dem Leben aufbauen. Wir müssen das Leben im Kontext der Demokratischen Nation, der allen Sprachen ihre eigene Ausdrucksmöglichkeit zuspricht, zu unserer ersten Wahl machen. So werden wir nicht zu denen, die Revolution machen, sondern zur Revolution selbst. Unser Volk muss es sowohl in Kurdistan als auch im Ausland als seine wichtigste Aufgabe begreifen, Kurdisch zu sprechen und zu schreiben, um seine Muttersprache unsterblich zu machen. Es muss überall sein Recht auf muttersprachlichen Unterricht sichern und entschlossen dafür kämpfen, dass in allen Bereichen des öffentlichen Lebens die Hindernisse für den Gebrauch seiner Muttersprache beseitigt werden. Es darf sich niemals der Assimilationspolitik beugen, mit der sprachliche Homogenisierung befördert wird.
Am diesjährigen 15. Mai, dem Tag der kurdischen Sprache, jährt sich auch zum 90. Mal die Gründung der Zeitschrift Hawar. Zu diesem Anlass grüßen wir das kurdische Volk, das sich niemals der Assimilations- und Verleugnungspolitik gebeugt hat. Zugleich grüßen wir in der Person Celadet Ali Bedirxans und seiner Mitstreiter all die Menschen, die unter großen Opfern und immensem Einsatz die kurdische Sprache am Leben gehalten und gefördert haben. Wir gratulieren noch einmal unserem Volk und allen Völkern dieser Welt zum diesjährigen Tag der kurdischen Sprache.“