Murat Karayilan hat sich als Kommandant des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HGP) in einem bei Stêrk TV ausgestrahlten Interview zu den Entwicklungen seit Beginn des bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt aus dem Interview, in dem Karayilan auf die aktuelle Situation in der umkämpften südkurdischen Region Heftanîn eingeht. Die türkische Armee hat vor zwei Monaten eine umfassende Luft- und Bodenoperation in dem von der Guerilla verteidigten Gebiet eingeleitet. Dabei werden neben regulären Soldaten Paramilitärs eingesetzt, die zunehmend in Südkurdistan rekrutiert werden.
Es sind verschiedene Artikel erschienen, in denen über das „Heftanîn-Syndrom“ in der türkischen Armee berichtet wird. Die Moral der türkischen Truppe soll am Boden sein, viele Soldaten wollen das Kriegsgebiet verlassen. Wie muss man das Ihrer Meinung sehen?
Es stimmt, wir haben auch davon gehört. In der Vergangenheit gab es das Nisêbîn-Syndrom beim Feind, jetzt hat das Heftanîn-Syndrom begonnen. Soldaten brechen sich absichtlich einen Finger oder Arm. Es herrscht Angst. Ihre Kommandanten versprechen ständig, dass die Angelegenheit heute oder morgen abgeschlossen sein wird. Inzwischen sind jedoch zwei Monate vergangen, jeden Tag finden Kämpfe statt und es gibt jeden Tag Tote. Darüber hinaus ist die grundlegende Versorgung der eingesetzten Soldaten und Kontras nicht gedeckt. Das erklärt sich so: Die Soldaten befinden sich auf den Berggipfeln, wo es kein Wasser gibt. Wasserquellen sind weiter unten, aber dorthin können sie nicht gehen. Deshalb wird das Wasser mit Hubschraubern aus dem Norden transportiert. Weil die Hubschrauber immer wieder von der Guerilla angegriffen werden, kommen sie nicht ständig. Für sie ist es ein großes Risiko. Deshalb soll die tägliche Wasserration auf anderthalb Liter pro Person reduziert worden sein. Da es sehr heiß ist, reicht das nicht. Auch das Essen reicht nicht. Diese Art von Problemen gibt es an vielen Orten. Den Soldaten wird jeden Tag befohlen, ins Gelände zu gehen. Weil die Guerilla jedoch ständig angreift, können sie das Gelände nicht kontrollieren und kommen deshalb auch nicht an die Wasserquellen. In der aktuellen Situation herrscht eine Krise. Wie es heißt, wollen einige Soldaten aus der Armee ausscheiden und es kommt zu Konflikten zwischen Soldaten und Dorfschützern.
Den Feind nicht unterschätzen
Natürlich darf man angesichts dieser Nachrichten nicht in Selbstgefälligkeit verfallen und den Feind unterschätzen. Wir befinden uns im Krieg. Zweifellos hat der Feind Schwächen, aber bei allen Plänen müssen seine starken Seiten einberechnet werden. Wir sollten weder uns selbst noch andere betrügen. Wenn wir auf die Schwächen des Feindes vertrauen, kann es dazu kommen, dass unsere Pläne nicht aufgehen. Wir passen also auf, aber es stimmt schon, der Feind ist in einem verstörten Zustand. Es findet ein Entwicklungsstau statt. Jetzt ist auch Verteidigungsminister Hulusi Akar gekommen. Vermutlich will er Kräfte austauschen und sich ein Bild machen. Er ist gekommen und hat geguckt. Vielleicht kommt es zu gewissen Veränderungen. Die Guerilla wird sich entsprechend vorbereiten. Wir gehen damit nicht kurzfristig um, sondern langfristig. Es geht nicht nur um die Taktik, sondern um die Strategie. Wenn wir strategisch vorgehen, werden wir diesen Krieg letztendlich gewinnen. Daran glauben wir.
Stimmt es, dass der türkische Staat diesen schmutzigen Krieg vor allem von Dorfschützern und Kontras führen lässt?
Bereits in der Geschichte war es so, dass alle kurdischen Aufstände mit kurdischer Hilfe niedergeschlagen wurden. Die Kurden sind dafür benutzt worden. Wann immer es in Kurdistan eine Widerstandslinie gab, gab es auch eine Linie der Kapitulation und des Verrats. Das ist der wesentliche Grund dafür, dass das kurdische Volk immer noch gefangen ist. Auch heute benutzt der Feind Kurden. Er nennt sie Dorfschützer. Natürlich geht es nicht um alle Dorfschützer. Für den Krieg gegen die Guerilla wählt er unter ihnen solche aus, die sich selbst verkaufen, zu Kontras geworden sind und für Geld gegen das Volk und die Zukunft kämpfen. Wir hören davon, dass diese Leute in Heftanîn als Vorhut eingesetzt werden. Wie lange wollen diese Kurden weiter als Detektoren vor den türkischen Soldaten laufen? Sie werden wie Minendetektoren eingesetzt. Für die Kurden ist das natürlich eine offene Wunde. Wie wir sehen, will der Feind das nicht mehr nur im Norden machen, sondern auch im Süden organisieren. Den Leuten wird gesagt, dass sie ihre Dörfer schützen sollen und dafür Geld bekommen. Und woher kommt das Geld? Von den Türken. Es geht dabei um die Politik, Kurden gegen Kurden zu benutzen.
Kurden sollten keine Kurden töten
Wir leben im 21. Jahrhundert. Es ist endlich genug, wie lange soll das noch so weitergehen? Kurden dürfen keine Kurden töten. Wir wollen unsere Waffen nirgendwo gegen Kurden richten. Wir wollen nicht gegen die Dorfschützer kämpfen, aber sie dürfen auch nicht gegen die Guerilla vorgehen. Wenn sie nur in der Umgebung ihres Dorfes Wache stehen würden, wäre das ja in Ordnung, aber was haben sie in Heftanîn zu suchen? Warum ist der Feind nach Heftanîn gekommen? Um die Kurden an ihrer Wurzel auszulöschen. Es ist ja sogar in den südkurdischen Medien erschienen, dass nach der Einnahme von Heftanîn Metîna an die Reihe kommt. Der Feind wollte Heftanîn in drei Tagen erledigen und anschließend der Reihe nach Metîna und weitere Gebiete einnehmen. Er will eine sogenannte Pufferzone einrichten. Wir haben bereits früher darauf hingewiesen, dass der Süden über eine Pufferzone besetzt werden soll. Im Moment ist dieser Plan in Heftanîn ins Stocken geraten.
Verteidigung gegen expansionistischen Kolonialismus
Es geht um einen nationalen Widerstand. Er findet für alle Kurdinnen und Kurden statt, aber vor allem für Südkurdistan. Unser Volk im Süden muss diese Realität sehen. Heftanîn wird im Interesse des kurdischen Volkes verteidigt. Gegen den expansionistischen Kolonialismus innerhalb der osmanischen Grenzen verteidigen wir uns mit opferbereiten Methoden. Von unserem Volk erwarten wir, dass es sich diesem Kampf anschließt. Auch die Peschmerga muss sich beteiligen. Wir wollen die Peschmerga an unserer Seite sehen. Der Kampf findet nicht einmal nur für die Kurden statt, sondern für alle Völker der Region.