Karayilan: Abdullah Öcalan ist kein Wahlkampfthema

„Die kurdische Frage und Rêber Apo sind keine Themen, die für Wahlkampftaktiken benutzt werden können, sie sind das Hauptproblem der Türkei“, erklärt Murat Karayilan (PKK) zu den aktuellen Debatten über Abdullah Öcalan.

Murat Karayilan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegenüber ANF zu aktuellen Themen geäußert. Karayilan geht in dem Beitrag auf die Bedeutung der Mai-Gefallenen und die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai in der Türkei ein. Wir dokumentieren einen Ausschnitt aus dem auf Kurdisch geführten Interview in deutscher Übersetzung.

In der letzten Zeit gab es im Wahlkampf in der Türkei Spekulationen über angebliche Gespräche mit Abdullah Öcalan. Die gegnerischen Parteien nutzen dieses Thema für ihre Propaganda. Es gibt jedoch seit über zwei Jahren keinen Kontakt zu Öcalan, der kurdische Vordenker wird strikt isoliert. Wie bewerten Sie diese Spekulationen und die aktuelle Position von Abdullah Öcalan?

Wir haben uns bereits früher dazu geäußert, dass es in der Politik der Türkei einseitige Debatten über Rêber Apo [Abdullah Öcalan] gibt. Rêber Apo wird mit einer weltweit einmaligen Methode vollständig isoliert und in einem System der dauerhaften psychologischen Folter festgehalten. Seit 26 Monaten gibt es keine Nachricht von ihm und seinen drei Mitgefangenen. Wir befinden uns im Zeitalter der Telekommunikation und niemand erfährt etwas aus Imrali. Die sehr speziellen Sonderhaftbedingungen von Rêber Apo verletzen das nationale und internationale Recht und ethische Prinzipien.

In dieser Situation der Totalisolation wird eine Diskussion über Rêber Apo geführt. In dieser Debatte sagt jedoch niemand: „Lasst uns doch auch ihn selbst nach seiner Meinung fragen. Er soll selbst sagen, wen er unterstützt.“ Die eine Seite sagt: „Ihr seid zu ihm gefahren und habt Unterstützung von ihm gefordert.“ Die andere Seite sagt: „Nein, ihr habt ein Bündnis mit seinen Genossen geschlossen und ihnen Versprechungen gemacht.“ So läuft diese Diskussion. Die AKP/MHP-Seite tut ohnehin so, als ob die PKK zu den Wahlen antritt. Das ist ein eigenes Problem für sich.

Was aber zeigt diese Debatte? Sie zeigt, dass Rêber Apo über Stärke verfügt und ein grundlegender Faktor in der Politik der Türkei ist. Sonst würde ja nicht soviel über ihn diskutiert werden. Die Regierung weiß, dass er das kurdische Volk anführt und damit großen Einfluss auf die kurdische Gesellschaft und sogar auf die revolutionären Bewegungen in der Türkei hat. Deshalb wird er auf unvergleichbare Weise isoliert. Auch die Opposition hinterfragt diese Isolation und ihre Rechtswidrigkeit nicht. Sie betrachtet die Isolation als legitim.

Wir möchten alle Parteien erneut warnen: Diskutiert nicht auf diese Weise über unseren Anführer. Der Ansatz, Rêber Apo zu instrumentalisieren, ist unmoralisch. Rêber Apo befindet sich in einer strategischen Position. Die kurdische Frage und die Situation von Rêber Apo sind keine Themen, die für Wahlkampftaktiken benutzt werden können, sie sind das Hauptproblem der Türkei. Insofern ist es ein großer Fehler, sie für den Wahlkampf zu instrumentalisieren.

Darüber hinaus weckt diese Debatte auch den Verdacht, dass bestimmte Kreise Rêber Apo ins Visier nehmen könnten. Seine Sicherheit ist momentan definitiv gefährdet. Bekanntlich ist er nicht nur ein Gefangener der Türkei, er wurde von internationalen Mächten verhaftet und an die Türkei ausgeliefert. Diese Mächte tragen auch jetzt Verantwortung und ich appelliere an sie, ihrer Verantwortung hinsichtlich der Sicherheit von Rêber Apo nachzukommen. Sowohl die internationalen Mächte als auch der türkische Staat als offiziell Zuständiger sind verantwortlich und müssen entsprechend handeln.

Es sollte allen Seiten bekannt sein, dass die Einheit der Türkei auf Rêber Apo beruht. Wenn es bei diesem Thema zu einem Schaden kommt, wird auch die Einheit der Türkei nicht bestehen. Es wird eine neue Feindschaft zwischen den Völker beginnen, die nicht jahrzehntelang, sondern Jahrhunderte andauern wird. Deshalb müssen sich alle zu ihrer Verantwortung bekennen. Rêber Apo kann nicht auf diese Weise zum Wahlkampfthema gemacht werden und alle müssen mit dieser Frage angemessen umgehen. Wir warnen alle davor, aber vor allem müssen unser Volk und unsere Freundinnen und Freunde wachsam sein und diesem Thema Aufmerksamkeit widmen. Alle müssen sich darüber bewusst sein, dass diese Debatte Rêber Apos Sicherheit gefährdet, und alle sollten ihre jeweilige Aufgabe erfüllen.

Sowohl die Regierung als auch die Opposition spricht von Schicksalswahlen. Was sagen Sie kurz vor den Wahlen am 14. Mai in der Türkei?

Richtig, alle sagen, dass diese Wahlen für die Zukunft und die Bevölkerung der Türkei entscheidend sind. Das stimmt natürlich, und wir haben uns zu der Bedeutung bereits wiederholt geäußert. Allerdings sind die Wahlen für unser Volk und alle, denen das bestehende System geschadet hat, noch wichtiger als für den Rest. Für das kurdische Volk, die alevitische Gemeinschaft, die Arbeiterklasse, linke und sozialistische Bewegungen und alle vom System ausgegrenzten Kreise sind die Wahlen von besonderer Bedeutung.

Das aus AKP, MHP und Ergenekon bestehende Regime will unser Volk seit acht Jahren mit einem neuen Konzept schwächen und zur Kapitulation zwingen. Zu diesem Zweck wird eine sehr harte Angriffswelle in den Kerkern, den Bergen, auf den Straßen und gegen die kurdische Politik durchgeführt. Auf diese Weise soll die kurdische Gesellschaft dazu gebracht werden, sich zu ergeben. Von 1925 bis 1938 wurde eine Politik des Völkermords umgesetzt und die Kurden haben in den folgenden dreißig Jahren geschwiegen. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 herrschte in Kurdistan eine brutale Militärjunta, die die kurdische Gesellschaft kraftlos machte. Das Gleiche wollen AKP und MHP jetzt mit den Kurdinnen und Kurden machen. Die Freiheitsbewegung Kurdistans wird noch massiver als die Gülen-Bewegung in Vernichtungsabsicht angegriffen. Das Regime versucht mit ganzer Kraft, das kurdische Volk zu schwächen und willenlos zu machen.

Dagegen wird jedoch angefangen mit Imrali in den Kerkern, Bergen, Straßen und an allen Orten Widerstand geleistet. Unser Volk wehrt sich und zeigt damit ein weiteres Mal, dass es eine grundlegende Stärke hat und sich nicht einfach vernichten lässt. Es lässt sich nicht mit Panzern, Raketen, Gewalt, Verhaftungen, Folter und Isolation zur Kapitulation zwingen. Kurz gesagt: Unser Volk beugt sich nicht.

Das ist die Ausgangslage der bevorstehenden Wahlen. Daher muss unser Volk, das angesichts der Katastrophen in der Vergangenheit einen unvergleichbaren Widerstand geleistet hat, jetzt seinen Willen in der Politikarena in starker Form deutlich machen. Unter den verschiedenen Kräften aus Kurdistan und zwischen kurdischen und linken sozialistischen Kräften sind Bündnisse entstanden. Diese Kräfte gehen unter dem Dach der Grünen Linkspartei in die Wahlen. Alle Kreise, denen das bestehende System schadet, müssen sich diesem Bündnis anschließen. Vor allem das kurdische Volk muss seine Stärke und seinen Willen bei den Wahlen zeigen. Das ist sehr wichtig. Innerhalb der Gesellschaft kann es Widersprüche zwischen den Stämmen, Einzelpersonen und verschiedenen Kreisen geben. Einige der Kandidierenden entsprechen vielleicht nicht den Wünschen aller. Diese Probleme müssen jetzt jedoch beiseite gelegt werden, denn es geht um wichtigere Fragen, die die Zukunft des kurdischen Volkes betreffen. Daher müssen sich alle in dieser Zeit zusammenschließen und als Einheit auftreten. Für unser Volk sind die Wahlen besonders wichtig, aber das gilt auch für die gesamte Türkei. Es muss unbedingt eine Veränderung herbeigeführt werden.