Karasu: Chauvinismus hat die Gesellschaft zersetzt

Nationalismus und Chauvinismus haben die Gesellschaft in der Türkei zersetzt. Ihr Diskurs und ihre Methoden sind Gewalt, ihre Mentalität ist patriarchalisch.

Lösung der kurdischen Frage in der Türkei

Mustafa Karasu hat sich als Exekutivratsmitglied der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einem ausführlichen Interview zu aktuellen Fragen geäußert. Darin analysierte er unter anderem, dass der türkische Staat die Unterdrückung und Verfolgung der kurdischen Gesellschaft verstärkt, weil er keine militärischen Erfolge gegen die Guerilla erzielt, was auch zu einem Verfall der türkischen Gesellschaft führt. Die Zahl der Vergewaltigungen und Morde an Frauen und Kindern steigt an, während Korruption und Armut sich weiter ausbreiten und die Menschen an ihre Grenzen bringen. Die Opposition in der Türkei macht die Wirtschaft dafür verantwortlich. Ist das die richtige Analyse? Können Lösungen durch das erreicht werden, was die Opposition auf die Tagesordnung zu setzen versucht? Auf diese Frage antwortete Karasu:

Der türkische Staat führt Krieg, um den Freiheitskampf des kurdischen Volkes zu unterdrücken. Er führt diesen Krieg auf die schmutzigste Art und Weise, als Spezialkrieg. Anfang der 1990er Jahre wurden Tausende Dörfer niedergebrannt und 17.000 politische Morde von angeblich unbekannten Tätern begangen. Zehntausende Menschen wurden gefoltert und inhaftiert. Die Pioniere des schmutzigen Krieges waren Tansu Çiller, Doğan Güreş und Mehmet Ağar. In diesen Jahren entstand das Konzept, dass alle, die Rêber Apo [Abdullah Öcalan], der PKK und den Kurden feindlich gesinnt waren, wirtschaftliche Vorteile und politisches und soziales Ansehen erlangten. Die Feindseligkeit gegenüber den Kurden, der Chauvinismus und der Nationalismus wurden so sehr geschürt, dass die Gesellschaft nicht mehr normal denken konnte. Dieser Chauvinismus hat die moralischen Werte und das Gewissen der Gesellschaft zerstört. Rêber Apo sagte, dass sowohl der Staat als auch die Gesellschaft in der Türkei in den 1990er Jahren verfielen.

Eskalation seit 2015

Ein großer Teil des Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung war schon immer der Spezialkrieg. Der militärische Bereich wurde hauptsächlich als Mittel angesehen, um den Spezialkrieg zu vollenden. Seit 2015 gehen beide Methoden Hand in Hand. Im März 2015 erklärte Erdogan das Dolmabahçe-Abkommen für nichtig, am 5. April 2015 wurde die strikte Isolation [von Abdullah Öcalan] angeordnet. Damit wurde der intensivste Spezialkrieg in der Geschichte der Türkei in Gang gesetzt. Das Bündnis der AKP mit der MHP nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 kannte keine Grenzen mehr. Während in den 1990er Jahren Hizbulkontra eingesetzt wurde, wird seit 2014 der IS eingesetzt. Die Feindseligkeit gegenüber den Kurdinnen und Kurden hat ein viel höheres Niveau erreicht als in den 1990er Jahren.

Die PKK ist eine Frauenpartei“

Der Krieg, der in den 1990er Jahren mit wenigen und primitiveren Methoden geführt wurde, wurde nach 2015 mit weitaus schmutzigeren Methoden fortgesetzt. Sie wollten den Kurden überall die Luft zum Atmen nehmen. Mit der Eskalation des Krieges wurden täglich Dutzende Politikerinnen und Politiker verhaftet, Abgeordnete, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen. Der damalige Innenminister Süleyman Soylu sagte: „Die PKK ist eine Frauenpartei“, und so richtete sich der Staatsterror gegen Politikerinnen und Mitglieder von Frauenorganisationen, Tausende wurden festgenommen. In keinem Land der Welt wurden so viele Frauen inhaftiert.

Auch gegen die Jugend wurde eine schmutzige Kriegspolitik geführt. Um zu verhindern, dass kurdische Jugendliche und Frauen sich politisieren, wurden Drogen und Prostitution als Konzept einer besonderen Kriegsführung populär gemacht. Auch der Sport, insbesondere Fußball, wurde für diesen Zweck eingesetzt. Kunst und Kultur wurden in der Türkei manipuliert, um militaristische, chauvinistische und nationalistische Gefühle zu schüren. Es wurde versucht, ein historisches Bewusstsein zu schaffen, das unterschiedliche Identitäten und Überzeugungen ignoriert.

Chauvinistische und nationalistische Hetze

Die Kurden leben seit Jahrtausenden eng mit anderen Völkern der Türkei zusammen und werden trotzdem als Feinde angesehen, weil sie ihre Identität, Sprache und Kultur verteidigen. Kurden wurden angegriffen, weil sie Kurdisch sprachen und kurdische Lieder sangen. Verbrechen gegen Kurden wurden als normal angesehen und nicht bestraft. Es wurde chauvinistische und nationalistische Hetze gegen die Kurden betrieben. Kann es in einer Gesellschaft, die ihre Nachbarn, mit denen sie seit tausend Jahren zusammenlebt, auf diese Weise betrachtet, noch Moral und Gewissen geben?

Polarisierung in der Gesellschaft

Die Feindseligkeit gegenüber den Kurden und der Einsatz aller möglichen schmutzigen Methoden gegen die kurdische Freiheitsbewegung haben die gesamte Gesellschaft zu einem Teil des Krieges gemacht. Viele Menschen, selbst unter der Zivilbevölkerung, betrachten sich als Militante in diesem Krieg. Die AKP/MHP-Regierung hat ein solches Pflichtverständnis in der Gesellschaft geschaffen. Die Feindseligkeit gegenüber dem kurdischen Volk und dem Freiheitskampf hat ein solches Ausmaß angenommen, dass auch diejenigen ausgegrenzt werden, die den Kurden nicht auf die gleiche Weise gegenüberstehen wie die AKP und MHP. Sie werden als Verräter und PKK-Anhänger abgestempelt. Tayyip Erdogan und Devlet Bahceli schaffen so eine beispiellose Polarisierung in der Gesellschaft. Selbst die Basis der AKP war von dieser Polarisierung beunruhigt. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Stimmen für die AKP stetig zurückgegangen sind und warum sie bei den letzten Kommunalwahlen verloren hat.

Gewalt und patriarchalische Mentalität

Nationalismus und Chauvinismus haben die Gesellschaft zersetzt. Ihr Diskurs und ihre Methoden sind Gewalt, ihre Mentalität ist patriarchalisch. In einem Land, in dem eine solche Polarisierung entsteht, beäugen sich alle gegenseitig mit Argwohn und sind bereit, Gewalt anzuwenden. Dass es in der Gesellschaft so viel Gewalt gibt, so viele Vergewaltigungen von Frauen, Gewalt gegen Kinder, ist das Ergebnis der Regierungspolitik der AKP/MHP, insbesondere in den letzten zehn Jahren. Es liegt in den Genen der MHP, und die AKP hat diese Linie vollständig übernommen. Ihre Sprache, ihr Stil und ihre Politik haben eine Gesellschaft geschaffen, die andere als Feinde betrachtet und zu Gewalt neigt. Die Gesellschaft wurde so geformt, weil die AKP und die MHP keine politischen Kräfte außer sich selbst dulden. Wenn Gewalt, Banden, Morde und Vergewaltigungen von Frauen in der Türkei zugenommen haben, dann nicht wegen wirtschaftlicher Probleme. Vielleicht sind höchstens zehn Prozent solcher Angriffe auf wirtschaftliche Probleme zurückzuführen. Es sind die Regierungspolitik, die Staatsverwaltung und die vorherrschende politische Mentalität, die diese Probleme verursachen. Wo immer Chauvinismus und Nationalismus auf dieser Ebene geschürt werden, nimmt die Gewaltbereitschaft zu. In den letzten Jahren haben auch viele Filme und Fernsehserien die Gesellschaft militarisiert.

Die kurdische Frage muss gelöst werden

Eine demokratische politische Lösung der kurdischen Frage ist für die Lösung aller Probleme in der Türkei notwendig. Die kurdische Frage muss gelöst werden, um die gesellschaftliche Stimmung in der Türkei zu beruhigen und Verfall, Korruption und Gewalt aufzuhalten. Der Sonderkrieg gegen die Kurden zersetzt die Gesellschaft. Er ist ungerecht und widerspricht den menschlichen Werten, deshalb kann er auch nicht nach normalen Gesetzen und Vorschriften geführt werden. Selbst die faschistisch geprägte Verfassung und die Gesetze erlauben diese schmutzige Kriegsführung nicht. Wer die Ursache der Probleme in der Türkei nicht in dem schmutzigen Sonderfeldzug gegen die Kurdinnen und Kurden sieht, verschließt entweder die Augen vor diesem Krieg oder ist indirekt daran beteiligt. Die wahren Demokraten und Politiker der Türkei müssen diese Realität anerkennen und entsprechend handeln.