Kalkan: Was in Bergkarabach passiert, ist eine Schande

Die Entwicklungen in Bergkarabach sind mit einem Völkermord verbunden. Diese genozidale Mentalität und Politik entstand während des Ersten Weltkriegs als die Mentalität und Politik des globalen Kapitalismus und Imperialismus.

Duran Kalkan hat sich als Mitglied des Exekutivrates der PKK in einer Sondersendung bei Medya Haber zu den jüngsten Entwicklungen in Kurdistan, im Nahen Osten und in der Welt geäußert. Hauptthema des in den Medya-Verteidigungsgebieten geführten TV-Interviews waren der Kampf für die Freiheit des in der Türkei in politischer Geiselhaft gehaltenen PKK-Begründers Abdullah Öcalan und die Hintergründe des internationalen Komplotts, mit dem Öcalan am 9. Oktober 1998 zur Ausreise aus Syrien gezwungen wurde. Kalkan beantwortete außerdem Fragen zur Situation in der Türkei sowie zum Krieg in Kurdistan und im armenischen Bergkarabach (Republik Arzach). Das vollständige Interview ist auf Englisch erschienen. Wir dokumentieren einen Ausschnitt in deutscher Übersetzung, in dem Duran Kalkan im Zusammenhang mit dem Völkermord in Kurdistan die Situation in Bergkarabach bewertet:

In Bergkarabach findet ein Völkermord statt

Die Entwicklungen in Bergkarabach sind mit einem Völkermord verbunden. Diese genozidale Mentalität und Politik entstand während des Ersten Weltkriegs als die Mentalität und Politik des globalen Kapitalismus und Imperialismus. Während des Krieges wurde sie von der [jungtürkischen] Regierung des Komitees für Einheit und Fortschritt und dann von den Kemalisten übernommen. Der Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern, der 1915 in Kilikien begann, wird nun in Bergkarabach fortgesetzt. Er dauert nun schon mehr als 110 Jahre an. Die Genozide am armenischen Volk, an den Pontusgriechen, den Suryoye und am kurdischen Volk zeigen deutlich, dass es eine genozidale Mentalität und Politik gibt, die sich gegen diese Völker richtet und von den Regierungen durchgeführt wird, die vom globalen System der kapitalistischen Moderne unterstützt und genährt werden.

Das setzt sich heute in Bergkarabach fort, da die armenische Bevölkerung vertrieben und deportiert wird. Deportation ist die gewaltsame Vertreibung einer Gesellschaft aus ihrem Heimatland. Dabei handelt es sich um eines der Grundprinzipien des Völkermordes. Es gibt mehrere Merkmale für Völkermord: das physische Massaker, die demografische Veränderung, die Assimilierung, den kulturellen Völkermord und die Deportation, d.h. die Massenmigration. Die Menschen werden massenhaft vertrieben und auf dem Weg massakriert. Es begann mit den Armenierinnen und Armeniern in Kilikien im Jahr 1915 und wurde von der Ittihadisten-Regierung überall dort verbreitet, wo es Armenier gab. Wenn wir uns anschauen, was jetzt in Bergkarabach passiert, werden wir daran erinnert. Die genozidale Mentalität und Politik besteht weiter. Auf der einen Seite haben sich Staaten gegen den Völkermord an den Armeniern ausgesprochen. Es gab entsprechende Resolutionen, aber unter ihren Augen und sogar mit ihrer Unterstützung erleben die Armenierinnen und Armenier heute anderswo die gleiche Situation.

Das ist sehr wichtig, um die genozidale Mentalität und Politik zu verstehen. Das staatliche Machtsystem basiert auf einer genozidalen Mentalität und Politik. Es ist faschistisch und muss damit konfrontiert werden. Wenn irgendein Staat sagt, dass die Armenier einem Völkermord ausgesetzt waren, bedeutet das gar nichts. Es sind nicht nur die türkischen Herrscher, die Machthaber der Republik Türkei, die sich dem Verbrechen des Völkermordes nicht stellen. Auch andere Staaten sind daran beteiligt. Großbritannien, Frankreich, die USA, Deutschland – alle sind Partner, aber niemand von ihnen stellt sich dem Verbrechen. Sie bezeichnen den Völkermord als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber während sie ihn an einem Ort als Verbrechen bezeichnen, begehen sie anderswo neue Völkermorde. Sie machen keine Aufarbeitung und haben Völkermord nicht als Verbrechen verurteilt. Sie haben sich nicht von genozidaler Mentalität und Politik gereinigt und sich nicht von dieser Ideologie befreit, insbesondere nicht von der Mentalität und Politik der Staatsmacht. Das ist es, was heute geschieht. Es hat sich also nichts geändert. Es werden Krokodilstränen angesichts des Genozids am armenischen Volk vergossen, aber das hat keinerlei Bedeutung. Die Staaten richten sich nach ihren eigenen Interessen, und sie tun es in aller Öffentlichkeit.

Daran beteiligt sind auch diejenigen, die sich als armenische Führung bezeichnen. Sie sind sogar unter den vordersten Beteiligten. Auch die Türkei ist involviert. Für einige schlichte Interessenskonflikte wird eine ganze Gesellschaft aus ihrer Heimat vertrieben. Und niemand sieht das negativ. Niemand stellt sich dagegen. Der Krieg von 1915 dauert also tatsächlich an. Dazwischen liegen einige Perioden, aber nichts hat sich geändert. Der Prozess, den wir heute den Dritten Weltkrieg nennen, ist in Bezug auf Mentalität und Politik eine direkte Fortsetzung des Ersten Weltkriegs. Denn die genozidalen Praktiken, die Mentalität und die Politik gehen weiter.

Ich möchte die Haltung der Menschen begrüßen, die sich dagegen wehren. Und ich begrüße die Bemühungen und die Haltung derer, die trotz Völkermord an ihrem eigenen Platz, in ihrer eigenen Heimat bleiben und frei leben wollen. Dabei gedenke ich auch respektvoll derer, die für diese Sache gefallen sind.

In diesem Gebiet gab es vor langer Zeit Kurden, aber niemand spricht über sie. Es gab zum Beispiel den Latschin-Korridor, der eine Zeit lang Kurdistana Sor – Rotes Kurdistan – genannt wurde. Sie traten in früheren Konflikten in den Vordergrund, wurden vertrieben, einige von ihnen wurden getötet. Aber jetzt wird aus irgendeinem Grund nicht mehr von Kurdinnen und Kurden gesprochen.

Auch in Aserbaidschan soll es Kurdinnen und Kurden geben. Es heißt, dass 600.000 oder sogar eine Million Kurden dort assimiliert worden sind. Selbst die Familie Aliyev wird als kurdisch bezeichnet, es gibt dort also eine Art Barzanî-Dynastie. Sie wenden sich an andere und verüben Völkermordangriffe. Sie unterstützen auch Völkermorde gegen sich selbst und werden zu Partnern, solange sie einfache materielle Vorteile haben und für sich selbst leben. Deshalb ist das, was in Bergkarabach passiert, was der armenischen Gemeinschaft angetan wurde, wirklich eine Schande. Die armenische Gesellschaft sollte das sehr gut auswerten. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hat in seinen Gefängnisschriften eine sehr grundsätzliche Bewertung vorgenommen. Er rief alle dazu auf, richtig zu verstehen, kritisch zu sein, selbstkritisch zu sein und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Er sagte, dass wir als Kurden das tun und die Armenier es auch tun sollten. Sie sollten in der Lage sein, diejenigen, die in so etwas verwickelt sind, aus ihrer Mitte zu vertreiben, im Sinne von Verständnis, im Sinne von Haltung. Sie sollten sie anklagen. Denn es gibt auch armenische Beteiligte an dem Verbrechen.