Duran Kalkan hat als Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in einer Sondersendung bei Medya Haber die Wahlergebnisse in der Türkei bewertet. Nach dem am Freitag veröffentlichten ersten Teil dokumentieren wir einen weiteren Ausschnitt des Interviews in deutscher Übersetzung.
Die Diskussionen über die Wahlergebnisse in der Türkei und Nordkurdistan gehen weiter. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?
Die Wahlen vom 14. Mai fanden inmitten eines großen Kampfes statt. Dieser Kampf basierte auf dem Guerillawiderstand. Wir haben diesen Kampf auf der Grundlage der revolutionären Volkskriegsstrategie geführt, und der Feind hat einen totalen Vernichtungsangriff geführt. Die Wahlen waren daher eine neue Methode des Kampfes im Rahmen eines solchen unerbittlichen Krieges. Diese Methode des politischen Kampfes war wichtig. Da sie mit diesem Kampf verbunden war und in diesem Rahmen bestimmte Ergebnisse hervorbringen konnte, konnte sie tatsächlich den künftigen Verlauf des Kampfes bestimmen. Es war nicht falsch, den Wahlen eine solche Bedeutung beizumessen. In der Tat hat sich ein wichtiges Ergebnis ergeben. Jetzt gibt es Klarheit. So wie die Wahlen selbst, ist auch ihr Ergebnis wichtig. Wenn der AKP/MHP-Faschismus eine Wahlniederlage erlitten hätte und in den Prozess des Zusammenbruchs eingetreten wäre, wäre der Weg für die Demokratisierung der Türkei auf der Grundlage der türkisch-kurdischen Freiheit geebnet worden. Der Kampf wäre auf dieser Grundlage fortgesetzt worden. Das wäre ein neuer Kampf mit eigenen Mitteln und Methoden gewesen.
Aber was geschieht jetzt? Worauf stützen sich Tayyip Erdoğan und die Volksallianz? Die faschistische Regierung hat sich erneuert. Egal, welche Form sie jetzt angenommen hat, diese Regierung ist gestärkt worden. In gewisser Weise wird sie natürlich in der alten Form weitermachen. Die Bemühungen, den Faschismus und die Diktatur zu institutionalisieren, werden fortgesetzt. Aber in anderer Hinsicht wird sie nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Sie wird versuchen, mit neuen Methoden anzugreifen. Tayyip Erdoğan sagte, dass sie die militärischen Angriffe sowohl in der Türkei als auch im Ausland verstärken werden, und dass sie auch ihre diplomatischen Angriffe verstärken werden. Es werden also neue Methoden des Kampfes entwickelt werden. Der Kampf zwischen der faschistischen Diktatur und der Demokratie, der kurdischen Freiheit und der Demokratie in der Türkei, ist damit in eine neue Phase eingetreten.
Zentrale Aspekte der Wahlergebnisse
Nun gibt es in diesem Rahmen Diskussionen und wichtige Bewertungen. Aber manche Bewertungen sind zu oberflächlich, zu formal und zu unbedeutend. Das müssen wir klar zum Ausdruck bringen. Es gibt zum Beispiel einen sehr extremen Ansatz, der das Thema auf Einzelpersonen reduziert. Noch bevor der Sieg von Tayyip Erdoğan bekannt gegeben wurde, haben sich viele Kreise innerhalb und außerhalb des Landes sofort zu Anhängern von Erdoğan entwickelt. Das geht nun schon seit einiger Zeit so. Diejenigen, die Kılıçdaroğlu vor den Wahlen Zuspruch erteilt haben, versuchen nun, der neuen Regierung Ratschläge zu erteilen, als hätten sie diese Worte nie gesagt. Sie versuchen, einen Platz in dieser Regierung zu finden. Es gibt derzeit solche unethischen Ansätze und Haltungen.
Wichtig ist, dass sich viele Bewertungen nicht vollständig auf die zentralen Aspekte des Wahlergebnisses konzentrieren. Was sind die zentralen Aspekte? Wir haben vor einem Monat, gleich nach den Wahlen, gleich nach dem 14. Mai, eine Bewertung vorgenommen. Und wir halten die Positionen, über die wir damals gesprochen haben, weitgehend aufrecht. Wir haben zum Beispiel darauf hingewiesen, was die AKP im Bündnis mit der MHP in der Türkei geschaffen hat und was sie jetzt in Kurdistan im Bündnis mit der PDK als Konterkraft machen will. Das war ein wichtiger Punkt. Viele Kreise sehen das nicht. Sie reden viel darüber, wie Erdoğan betrogen hat, wie er Stimmen gestohlen hat und wie er damit gewonnen hat. Ja, er mag nicht wirklich gewonnen haben. Vielleicht hat Kılıçdaroğlu die Wahl gewonnen. Es gab eine Menge Betrug. Aber jeder wusste, dass er das tun würde. Das ist ein Aspekt, ein technischer Aspekt. Es geht nicht nur um Betrug. Gut, Kılıçdaroğlu ist nicht Präsident geworden. Aber selbst wenn er es geworden wäre, hätte Tayyip Erdoğan immer noch diese Anzahl von Stimmen.
Die Menschen werden einer Gehirnwäsche unterzogen
Nicht alle diese Stimmen waren gefälscht. Nun sind diese Stimmen wichtig. Was zeigt das? Der Faschismus hat eine Massenbasis. Das ist deutlich geworden. Rêber Apo hat darüber gesprochen, wie der Nationalstaat die Menschen in eine Herde verwandelt, indem er einen Soziozid begeht. Das ist es, was in der Türkei vollzogen wird. Die Gesellschaft der Türkei wurde an die MHP gebunden. Jetzt sollen die Kurden zu Hizbullah-Mitgliedern gemacht werden. Das ist das größte Verbrechen und die größte Sünde der AKP unter Tayyip Erdoğan. Es handelt sich nicht nur um eine einfache Masse von Wählern. Durch Kunst, Propaganda und Bildung werden die Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen und eine neue Mentalität und neue Emotionen werden geformt.
Andererseits wird diesen Menschen nicht nur eine Mentalität vermittelt. Sie werden auch organisiert. Es werden faschistische Banden organisiert. So wie es Banden von IS, al-Qaida und der Muslimbruderschaft gibt, gibt es jetzt auch MHP- und Hizbullah-Banden unter den AKP-Anhängern. Das sind Organisationen, die zu den Waffen gegriffen haben. Sie haben in der Wahlnacht ein Mitglied der IYI-Partei getötet. Wenn sie wirklich hätten kämpfen wollen oder wenn jemand gesagt hätte, dass Tayyip Erdoğan verloren hat, weiß niemand, was dann auf der Straße geschehen wäre.
Europa verschließt die Augen vor dieser Entwicklung
Ekrem İmamoğlu war nicht in der Lage, eine Kundgebung abzuhalten. Als er in Erzurum mit Steinen beworfen wurde, rannte er den ganzen Weg nach Istanbul. Kılıçdaroğlu konnte dieses Gebiet überhaupt nicht betreten. Wenn Kılıçdaroğlu Präsident geworden wäre, hätte es einen Präsidenten gegeben, der nicht in der Lage gewesen wäre, eine Kundgebung in Erzurum abzuhalten. Niemand außer der MHP, der AKP und der Hizbullah kann an die Orte gehen, an denen Tayyip Erdoğan Stimmen erhalten hat. Es gibt eine organisierte und bewaffnete Bande.
Das ist eine große Gefahr, und nicht nur für die heutige Politik. Es ist eine Gefahr für die Zukunft der Türkei. Es ist eine Gefahr nicht nur für die Türkei und die Kurdinnen und Kurden, sondern für die Völker des Nahen Ostens und für die gesamte Menschheit. Einige politische Kreise im Nahen Osten sehen das nicht, und die berühmte Demokratie in Europa verschließt die Augen vor dieser Entwicklung. Sie haben sich sofort für eine Zusammenarbeit mit Tayyip Erdoğan entschieden, um ihre eigenen Interessen zu wahren. Der französische Präsident gehörte zu denjenigen, die den Sieg von Tayyip Erdoğan schon vor der Bekanntgabe der Wahlergebnisse verkündeten. Das ist inakzeptabel. Aber als er dem IS gegenüberstand, waren ihm die Hände gebunden. Die IS-Kämpfer werden in der Türkei organisiert. Darüber wird nicht gesprochen, aber es ist eine sehr wichtige Tatsache und eine große Gefahr, die durch die Wahlergebnisse deutlich geworden ist. Es ist notwendig, dagegen zu kämpfen. Und es ist nicht nur die Aufgabe der Kurdinnen und Kurden, Stellung zu beziehen und dagegen zu kämpfen.
Wer jetzt, wo diese Kräfte die Kurden angreifen, davon ausgeht, selbst verschont zu werden, der irrt sich. Tayyip Erdoğan hat alle mit seinen Banden bedroht. Morgen werden auch sie an der Reihe sein. Es ist eine Gefahr für alle. Doch darüber wird nicht gesprochen. Einige Kreise haben gar keine Reaktion darauf gezeigt, als ob es eine normale Situation wäre. Das Bündnis von AKP, MHP, Hizbullah und Hüda-Par wird als normales Bündnis, als politisches Bündnis gesehen. Und die Teile der Gesellschaft, die sie organisieren und von denen sie ihre Stimmen erhalten, werden als normal angesehen. Das ist ein großer Fehler.
Warum hat die CHP nicht gekämpft?
Wie beurteilen Sie die Wahlergebnisse der CHP und der Nationalen Allianz?
Die CHP hat ein paar Mal ähnliche Dinge getan. Muharrem Ince lag 2018 in Führung. Plötzlich verschwand er nach Mitternacht. Ein paar Stunden später sagte Tayyip Erdoğan, er habe gewonnen. Und Muharrem Ince hat es einfach akzeptiert. Bei der letzten Wahl haben die Bürgermeister [von Istanbul und Ankara] bis etwa Mitternacht mehrmals vor der Presse gesprochen. Sie sagten, sie lägen vorn. Aber danach hat man nichts mehr von ihnen gehört. Dann hieß es, die Volksallianz habe die Mehrheit erhalten und Tayyip Erdoğan habe gewonnen.
Kılıçdaroğlu hat gesagt, dass die Wahlen nicht rechtmäßig waren und dass sie manipuliert wurden. Aber warum haben sie nicht gekämpft? In der Wahlnacht hat die CHP bis Mitternacht geredet, sich dann aber einfach zurückgezogen. Damit hat sie die Wahl Tayyip Erdoğan überlassen und ihm zum Sieg verholfen. So regiert Kemal Kılıçdaroğlu.
Die Nationale Allianz muss prüfen, warum sie die Wahl nicht gewonnen hat. Aber darüber gibt es keine Diskussion. Die Nationale Allianz hat keine Alternative vorgeschlagen. Was die Demokratisierung betrifft, so hat sie lediglich ein gestärktes parlamentarisches System anstelle eines Präsidialsystems vorgeschlagen. Vor dem jetzigen Präsidialsystem gab es bereits ein parlamentarisches System. Ihr Vorschlag war also kein Vorschlag für Veränderungen, sondern für einen Rückschritt. Sie sprachen von Veränderung, konnten aber keine Veränderung herbeiführen. Sie haben die grundlegenden Probleme der Türkei nicht in den Griff bekommen. Es gibt die kurdische Frage, die Probleme der Frauen, die Probleme der Arbeiter und Werktätigen. Sie konnten die Probleme des Krieges und der Außenbeziehungen nicht in den Griff bekommen. Sie rannten mit allem, was Tayyip Erdoğan sagte. Tayyip Erdoğan hat sie alle gelenkt. Sie benutzten die Sprache von Tayyip Erdoğan gegen die PKK. Und was war das Ergebnis? Wenn man über die PKK spricht, spricht man über die kurdische Frage. Wenn man in Bezug auf dieses Problem nichts anderes anbieten kann, dann sagt man auch nichts anderes als Tayyip Erdoğan. Denn das grundlegendste Problem der Türkei ist die kurdische Frage.
Kılıçdaroğlu ist kein guter Politiker
Kemal Kılıçdaroğlu mag ein bescheidener und sensibler Mensch sein. Er mag ein erfolgreicher Bürokrat sein. Aber ein guter Politiker ist er nicht. Er ist kein Kämpfer. Er behindert die Gesellschaft. In der kritischsten Phase hat er Tayyip Erdoğan und die AKP/MHP zum Sieg geführt. Er schien zu kämpfen, aber vielleicht macht er den Kampf sinnlos. In diesem Sinne ist er weder ein guter Politiker noch ein guter Kämpfer. Er war nicht in der Lage, ein demokratisches Programm vorzulegen. Nun sagen manche, die CHP müsse sich ändern. Das ist ja alles schön und gut, aber was meinen diejenigen, die einen Wandel fordern, wirklich? Soll sich Kılıçdaroğlu ändern oder sollen sich das Verständnis, das Programm und die Politik der CHP ändern? Wenn sich das ändern sollte, was hat die Politik der CHP Neues im Hinblick auf die grundlegenden Probleme der Türkei zu bieten? Wird sich Kılıçdaroğlu ändern oder nicht? Jetzt diskutieren sie darüber. Das wird zu nichts führen. Wir müssen das Bewusstsein der CHP-Anhänger für diese Frage schärfen. Eine CHP, die in dieser Situation feststeckt, wird niemals an die Regierung kommen. Kılıçdaroğlu ist angeblich am weitesten links. Er hat diejenigen für sich gewonnen, die sich von der AKP und der Wohlfahrtspartei abgewandt haben. Er hat seinen ewigen Gegner DP mitgenommen. Was wird er jetzt tun? Werden sie wirklich ein demokratisches Programm vorlegen, oder werden sie die verbleibende CHP in eine AKP verwandeln? Werden sie die CHP mehr nach rechts ziehen? Das muss diskutiert werden. Aber die derzeitigen Diskussionen bewegen sich nicht auf dieser Ebene. Die aktuellen Bewertungen haben nicht diese Art von Inhalt, sie sind sehr billig. Wir haben gesehen, dass insbesondere bestimmte Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller auf einem sehr niedrigen Niveau sind. Ich kann das ganz klar sagen. Sie verwenden so seichte und oberflächliche Worte. Das ist eher eine Täuschung der Menschen und führt zu nichts. Deshalb, ja, es muss einen Wechsel in der CHP geben. Die Anhängerinnen und Anhänger der CHP müssen in der Lage sein, alle Politiken wirklich gut zu diskutieren und zu hinterfragen.
Selbstkritische Debatte innerhalb der demokratischen Kräfte
Auch die Grüne Linkspartei und andere demokratische Kräfte in der Türkei haben über die Wahlergebnisse diskutiert. Was denken Sie über den bisherigen Verlauf dieser Diskussionen?
Innerhalb der demokratischen Kräfte findet derzeit eine intensive Debatte statt. Sie haben das als einen Prozess der Selbstkritik bezeichnet. Wir messen diesem Prozess große Bedeutung bei, er muss zu einem positiven Abschluss gebracht werden. Es ist ein neuer Prozess des Kampfes entstanden. Um seine Anforderungen erfolgreich erfüllen zu können, müssen wir Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Wir müssen die Vergangenheit einer kritischen, einer selbstkritischen Analyse unterziehen. Nur dann können wir den neuen Prozess richtig verstehen und die zukünftigen Aufgaben und Verantwortungen erfolgreich erfüllen. Das ist es, was wir alle tun. Eine andere Herangehensweise an dieses Thema kann es nicht geben. Ohne Selbstkritik und ohne die Lehren aus dem bisherigen Prozess zu ziehen, kann man in der neuen Zukunft nicht erfolgreich sein. Man kann nicht innovativ sein.
Um die Gesellschaft zu verändern, muss man sich selbst verändern. Um Innovation in der Gesellschaft und in der Politik zu schaffen, muss man sich selbst erneuern. Das bedeutet, dass man sich selbst korrigieren muss, indem man die Fehler und Unzulänglichkeiten der Vergangenheit beseitigt. Das ist der Prozess der Selbstkritik. Zuallererst sollten alle revolutionären Organisationen sich selbst hinterfragen. Es darf in revolutionären Organisationen keinen Ansatz geben, der auf Selbstkritik verzichtet und einfach das, was getan wurde, für richtig und ausreichend hält.
Keine Kollektivkritik üben und Spaltung schaffen
Andererseits sollte es keine billige oder verletzende Art von Kritik geben. Es ist notwendig, auf den Stil, die Sprache und den Inhalt zu achten. Man sollte zum Beispiel nicht einfach über die Kurden sprechen und sie zum Adressaten einer Kollektivkritik machen. Und zum anderen sollte man nicht einfach über die türkische Linke oder die Türken sprechen. Fehler können gemacht werden. Man kann auch Kritik üben. Es ist wichtig, den Weg zu zeigen und konstruktiv zu sein. Und warum? Weil Rêber Apo gesagt hat, dass die Türken nicht ohne die Kurden sein können und die Kurden nicht ohne die Türken. Der kurdische Freiheitskampf kann ohne die Entwicklung des Kampfes für Demokratie in der Türkei nicht erfolgreich sein. Die Demokratisierung der Türkei kann ohne den kurdischen Kampf nicht verwirklicht werden. Es handelt sich um strategisch verbündete Kräfte, die eng miteinander verflochten sind. Es gibt eine solche strategische Einheit und Allianz. Auch wenn es hier Fehler gibt, Mängel und Unzulänglichkeiten, und auch wenn es Unterschiede gibt, sollten wir uns immer darauf konzentrieren, Einheit zu schaffen. Wir sollten uns immer bemühen, kameradschaftlich zu sein. Wir dürfen uns nicht spalten und auseinanderreißen lassen, indem wir Spaltungen schaffen. Wir dürfen keine Sprache verwenden, die diese strategischen Verbündeten, ihre Beziehungen und ihr Bündnis schwächt. Zunächst war von Selbstkritik die Rede, doch in letzter Zeit wurde in der Presse hauptsächlich Kritik geübt. Das ist inakzeptabel. Es gibt diejenigen, die alles kritisieren, und diejenigen, die generell Kritik üben. Das ist nicht richtig.