Der 44-Tage-Krieg im Herbst 2020 endete für Berg-Karabach mit einer schweren Niederlage. Nach mehreren gescheiterten Vermittlungsversuchen – auch seitens der USA – endete er nach einer Verständigung zwischen Putin, Erdogan und Aliyew. Angesichts der militärisch hoffnungslosen Lage hatte die armenische Regierung gar keine andere Wahl als der Vereinbarung zuzustimmen. Moskau schickte ein Truppenkontingent von 2000 Soldaten nach Berg-Karabach, um die Sicherheit der armenischen Bevölkerung des Gebiets zu gewährleisten. Trotz der „Friedenstruppe“ kam es dort aber immer wieder zu kleineren Gefechten. Zwei Jahre nach Ende des Krieges in Berg-Karabach kann von einem Frieden im Südkaukasus keine Rede sein. Am 12. September kam es an mehreren Stellen an der östlichen Grenze der Republik Armenien zu massiven Angriffen der aserbaidschanischen Armee. Es ist deutlich geworden, dass der Sieg in Berg-Karabach für Baku und Ankara nur eine Etappe ihres Plans darstellt, eine uneingeschränkte Verbindung zu der Provinz Nachitschewan herzustellen, die vom restlichen Aserbaidschan durch armenisches Territorium getrennt ist. Die Herstellung dieser Verbindung ist sowohl für Baku als auch für Ankara von strategischer Bedeutung.
Über Frieden sprechen und gleichzeitig angreifen
Aggressoren leugnen in der Regel einen kriegerischen Angriff oder behaupten, von der Gegenseite provoziert worden zu sein. Die Regierung in Baku erklärte, ihre Einheiten seien lediglich gegen „großangelegte subversive Handlungen“ der Armenier vorgegangen. Der Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Moskau schreibt dazu: „Der Vorwurf ist aber wenig glaubwürdig: In den vergangenen Wochen hatte Baku Truppen an der Grenze zu Armenien konzentriert und in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Der aserbaidschanische Verteidigungsminister hatte das mit «wahrscheinlichen armenischen Provokationen» begründet – er bereitete also propagandistisch bereits das Terrain für die Eskalation vor.“¹
Sicherlich könnte ein Staat, der sich militärisch stark genug fühlt, einen Krieg provozieren. Jedoch wäre es selbstmörderisch, trotz einer offensichtlichen militärischen Unterlegenheit seinen Nachbarn zu provozieren. Der 44-Tage-Krieg hat mindestens 4000 armenischen Soldaten das Leben gekostet, es gab über 11.000 Verletzte. Für ein Land, dessen offizielle Bevölkerungszahl knapp über drei Millionen liegt, ist das ein großer Verlust. Dabei muss auch bedacht werden, dass von allen Staatsangehörigen lediglich etwa zwei Millionen im Land leben. Über eine Million armenische Staatsbürger, die in Russland, der EU oder in anderen Teilen der Welt leben, haben den Krieg im Herbst 2020 ohnmächtig aus der Ferne verfolgt. Die seitens der Türkei und Aserbaidschans verteufelte armenische Diaspora musste ebenfalls voller Entsetzen den erneuten Angriff verfolgen.
Was die Aliyew-Regierung praktiziert, entspricht der bekannten Vorgehensweise der verbündeten türkischen Regierung: Es wird immer von der Notwendigkeit des Friedens gesprochen, aber letztendlich wird die militärische Option gewählt, um eine expansionistische Agenda durchzusetzen. Dass Baku – von Ankara ermutigt – die gegenwärtig günstige Gelegenheit nutzen will, um anknüpfend an den militärischen Erfolg vom Herbst 2020 den Druck auf die Armenier zu erhöhen, ist offensichtlich: „Internationale Experten deuten das als Versuch Aserbaidschans, im Schatten des Ukraine-Kriegs im Konflikt Fakten zu schaffen, noch dazu zu einem Zeitpunkt, zu dem Russland in der Ukraine erstmals wirklich in Bedrängnis kommt.“²
Schutzmacht ohne Macht
Die 2020 erfolgte Stationierung einer „Friedenstruppe“ in der Konfliktregion ist logistisch eine schwierige Aufgabe: Die Republik Armenien hat keine Landverbindung zu Russischen Föderation, es führt dorthin nur eine Straßenverbindung durch Georgien. Diese Verbindung kann die russische Armee aber nicht für Militärtransporte nutzen. Die aus Russland über Abchasien und Georgien nach Armenien führende Bahnverbindung ist unterbrochen. Russland hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sich sowohl Abchasien als auch Südossetien von Georgien unabhängig machten. Moskau kann seine in Armenien stationierten Einheiten nur aus der Luft versorgen. Die Verbindung zu der „Friedenstruppe“ in Berg-Karabach führt zudem über die bergige, südarmenische Provinz Sjunik. Im Falle einer militärischen Eskalation hätte das russische Militär Probleme, ihre in Berg-Karabach stationierten Einheiten zu unterstützen. Angesichts dieser ungünstigen Lage kann die russische Truppenpräsenz in Berg-Karabach nicht als eine Stärkung der russischen Position in der Region betrachtet werden. Die Vereinbarung von 2020 sieht vor, dass die „Friedenstruppe“ fünf Jahre in der Region bleiben soll. Eine mögliche Verlängerung hängt von der Zustimmung sowohl Bakus als auch Jerewans ab.
Der Angriff auf armenisches Staatsterritorium erfolgte in unmittelbarer Nähe zu den in Berg-Karabach stationierten russischen Einheiten. Angesichts der Entwicklung in der Ukraine hat Russland sicherlich kein Interesse daran, in dem schwer zugänglichen Gebiet in einen Krieg hineingezogen zu werden. In westlichen Medien wird Russland stets als die „Schutzmacht“ der Republik Armenien dargestellt, aber spätestens jetzt ist deutlich geworden, dass Armenier sich nicht auf ihre „Schutzmacht“ verlassen können. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu versicherte zwar dem armenischen Verteidigungsminister Suren Papikyan, dass alle „notwendigen Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage“ ergriffen würden. Das ist lediglich die bekannte diplomatische Formulierung bei Konflikten. Tatsache ist, dass keine der in den vergangenen Jahren durchgeführten „Maßnahmen“ weder den im September 2020 erfolgten aserbaidschanischen Großangriff auf Berg-Karabach noch den jetzigen Angriff auf die Republik Armenien verhindert haben. Tatsache ist auch, dass die russische Regierung, die sicherlich über die Vorbereitungen des Angriffs informiert war, Aserbaidschan davon nicht abhalten konnte.
Nachdem aserbaidschanische Truppen auf das armenische Staatsterritorium eingedrungen waren, beantragte die armenische Regierung Hilfe von der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS). Mitglieder dieses Bündnisses sind außer der Republik Armenien noch Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan. Wie illusorisch die Erwartung der armenischen Regierung ist, zeigt die Entwicklung in Zentralasien: Nur wenige Tage nach dem armenischen Hilfsappell kam es zwischen den OVKS-Mitgliedern Kirgisien und Tadschikistan zu schweren Kämpfen; die kirgisische Regierung musste 120.000 Einwohner aus der Grenzregion evakuieren. Außer Kasachstan sind gegenwärtig alle anderen OVKS-Mitglieder mehr oder weniger in einen Krieg verwickelt; die OVKS ist gar nicht in der Lage, in Konflikte militärisch zu intervenieren. Sie ist ein von der russischen Regierung geschaffenes potemkinsches Militärbündnis.
Armenien in der Zange
Der armenische Regierungschef Paschinjan wandte sich aber nicht nur hilfesuchend an Putin, sondern auch an Macron und an US-Außenminister Blinken. In Frankreich und den USA leben zahlreiche Armenier, und insbesondere Frankreich unterhält eine traditionell enge Beziehung zu den Armeniern. Am 16. September fand im UN-Sicherheitsrat eine Sitzung zur brisanten Lage im Südkaukasus statt. Wie zu erwarten war, wies der aserbaidschanische Vertreter jegliche Beschuldigungen zurück und machte die armenische Seite für die Kämpfe verantwortlich. Der armenische UN-Botschafter beschuldigte Aserbaidschan, die Kämpfe noch weiter ausweiten zu wollen. Es gebe Hinweise, wonach auch aus Nachitschewan Angriffe vorbereitet würde. Letztendlich wäre das Ziel der Aliyew-Regierung die Herstellung einer Verbindung zwischen der Enklave, die durch armenisches Territorium vom übrigen Aserbaidschan getrennt ist.
Die Befürchtung, dass auch von Nachitschewan aus Angriffe erfolgen könnten, ist berechtigt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass die südliche Provinz der Republik Armenien von zwei Seiten angreifbar ist: entlang der östlichen Grenze hat Baku starke Truppenverbände konzentriert; im Westen wird bereits seit Jahren in der Provinz Nachitschewan ein großes Militärpotential aufgebaut. In den vergangenen Jahren fanden dort türkisch-aserbaidschanische Militärmanöver statt; es gab immer wieder Gefechte an der Grenze zwischen der Republik Armenien und Nachitschewan. Die von Jerewan aus bis an die iranische Grenze führende Straße verläuft gefährlich nahe entlang der Grenze Nachitschewans.
Wie der armenische UN-Botschafter auf der Sitzung des Sicherheitsrats sagte, könnte der aserbaidschanische Angriff vom 12. September nur ein Vorspiel für eine weitaus größere Militäraktion sein. Aliyew hat gesehen, dass die russische „Schutzmacht“ der Armenier sich wie bereits im Karabach-Krieg sehr zurückhaltend verhält und die bekannten diplomatischen Phrasen wiederholt. So erklärte Putin am 20. September erneut: „Wir fordern alle auf, Zurückhaltung zu zeigen, sich strikt an den Waffenstillstand zu halten und die trilateralen Erklärungen der Staats- und Regierungschefs von Russland, Aserbaidschan und Armenien zu befolgen.“³ Eine militärische Intervention der OVKS zugunsten Armeniens braucht Aserbaidschan nicht zu befürchten. Seitens der EU gibt es wie immer lediglich harmlose Ermahnungen an beide Seiten, die Kämpfe einzustellen. Lediglich Macron stellte sich mit viel Pathos auf die Seite der bedrängten Armenier. Überraschend war, dass die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und mehrere demokratische Politiker, die bereits vor Ausbruch der Kämpfe einen Besuch in Jerewan geplant hatten, in der armenischen Hauptstadt offen Aserbaidschan als Aggressor benannten.⁴ Die klare Positionierung auf Seiten Armeniens hängt möglicherweise mit den anstehenden Wahlen in den USA in Zusammenhang. Vor allem in Kalifornien, wo Pelosis Karriere als Abgeordnete der Demokratischen Partei anfing, gibt es eine bedeutende armenischstämmige Bevölkerung.
Opfer der „Geopolitik“ und „geostrategischer“ Interessen
Als im April 2018 mit der „samtenen Revolution“ und einer demokratischen Wahl Nikol Paschinjan an die Regierungsmacht gelangte, wurde dies von vielen westlichen Beobachtern mit den „Revolutionen“ in Georgien und der Ukraine verglichen. Es schien, als ob eine weitere Ex-Sowjetrepublik sich von der Putin-Regierung abwenden und sich nach „Westen“ orientieren würde. Es kam ganz anders als erwartet: Die neue Regierung war keineswegs gewillt, sich von Moskau zu lösen und sich nach Westen zu orientieren. Das Land ist nicht nur wirtschaftlich von Russland abhängig. Es gibt in Russland auch sehr viele „Gastarbeiter“ aus Armenien, die mit ihren Überweisungen viele dortigen Familienangehörigen unterstützen. Vor allem aber ist Russland eine unentbehrliche „Schutzmacht“ und „strategischer Partner“. Die Grenze zur Türkei und zum Iran wird von russischen Einheiten überwacht. Es gibt keinen anderen Staat in dem von Moskau geführten Sicherheitsbündnis (OVKS), der militärisch so sehr von Russland abhängig ist wie Armenien. Eingeschlossen zwischen der Türkei und Aserbaidschan bietet lediglich Russland Schutz für die Armenier. Für Russland ist diese Bedrohungslage, in der sich Armenien befindet, die Garantie dafür, dass die armenisch-russische „strategische Partnerschaft“ fortgesetzt wird. Nach der Niederlage von 2020 hat das Vertrauen der Armenier in ihre „Schutzmacht“ zwar deutlich nachgelassen, aber das Land hat keine Alternative.
Die Regierung der „samtenen Revolutionäre“ hielt entgegen den Erwartungen des „Westens“ nicht nur am armenisch-russischen Bündnis fest, sondern setzte auch die traditionell enge und freundschaftliche Beziehung zum Iran wie gewohnt fort. Die Paschinjan-Regierung konzentrierte sich darauf, das Land durch Reformen zu demokratisieren und die weit verbreitete Korruption zu bekämpfen. Weder für Moskau noch für den „Westen“ war die Entwicklung in Armenien akzeptabel: Für Moskau stellte die Demokratisierung und der Aufbau einer Zivilgesellschaft eine Bedrohung dar; der „Westen“ war von der neuen Regierung enttäuscht, weil Jerewan nicht dem Beispiel von Tiflis und Kiew folgend seine Bindung zu Moskau kappte und sich dem „Westen“ anschloss. Als Aliyew mit massiver Unterstützung der Türkei im Herbst 2020 einen Krieg gegen Berg-Karabach startete, konnten er davon ausgehen, dass die russische „Schutzmacht“ nicht zugunsten der Armenier intervenieren würde; gleichzeitig war auch absehbar, dass die Paschinjan-Regierung nicht auf die Hilfe des „Westens“ zählen konnte.
Armenien droht Opfer eines sich abzeichnenden geopolitischen „Endgame“ in der Region zu werden, der mit dem Karabach-Krieg 2020 angefangen hat. Für Moskau stellt die gegenwärtige Entwicklung keine nennenswerte „geostrategische“ Bedrohung dar. Weder Berg-Karabach noch die süd-armenische Provinz Sjunik sind für Russland von strategischer Bedeutung. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass Moskau deswegen militärisch intervenieren und dadurch seine guten Beziehungen zu Baku und Ankara gefährden würde. Für Moskau ist der Militärstützpunkt in Nordarmenien sicherlich von Bedeutung, aber aus „geostrategischer“ Sicht dürfte für Russland nicht das Bündnis mit der schwachen und isolierten Republik Armenien, sondern mit der Türkei und dem Iran wichtiger sein. Es stellt sich die Frage, ob die russische Führung überhaupt noch Interesse daran hat, weiterhin finanzielle und militärische Ressourcen in Armenien beziehungsweise in Berg-Karabach einzusetzen. Fraglich ist auch, ob Russland langfristig überhaupt in der Lage ist, die Mittel aufzubringen, um Armenien abzusichern. Angesichts dieser sich abzeichnenden Entwicklung muss Armeniens Regierung sich fragen, wie das traditionelle Bündnis mit Russland, dass offensichtlich keine Sicherheit mehr bietet, ersetzt werden könnte. Die Zukunft des Landes hängt von der Lösung dieser Frage ab.
[1] https://www.nzz.ch/international/schwere-kaempfe-zwischen-aserbaidschan-und-armenien-ld.1702443
[2] https://orf.at/stories/3285037/
[3] https://www.azatutyun.am/a/32042909.html
[4] https://www.azatutyun.am/a/32039652.html
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