Heval Halils Aktion

Halil Şen ist bei einer Selbstverbrennung in Dresden ums Leben gekommen. Über die Aktionsform lässt sich vieles sagen, aber letztendlich läuft alles darauf hinaus, dass sein Tod wie sein Leben eine politische Aktion war.

Der kurdische Aktivist Halil Şen hat sich am 12. Februar vor dem sächsischen Landtag in Dresden angezündet und ist gefallen. Das war Heval Halils Weg, um gegen das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan vom 15. Februar 1999 und die mangelnde Aufmerksamkeit zu diesem Thema zu protestieren.

Sowohl die grausame Unterdrückung der Kurdinnen und Kurden als auch der Widerstand dagegen und die Qualität seiner Aktion lassen sich am besten mit Heval Halils Lebensgeschichte erklären.

Heval Halil ist 1971 im Dorf Ludê in Sêrt-Dih geboren. Als die Guerilla der kurdischen Befreiungsbewegung zum ersten Mal bewaffnet gegen den türkischen Staat vorging, lebte Halil als dreizehnjähriger Junge in seinem Dorf. Die Kugeln, die damals auf Stützpunkten des türkischen Staates einschlugen, explodierten auch im Denken der Kurden. Die tote Erde, mit der Kurdistan vom Kolonialismus bedeckt worden war, wurde abgetragen. Auch die Şens wurden zu einer der Familien, die sich trotz der großen Gefahr hinter die Befreiungsbewegung stellten.

Schwester stirbt bei Minenexplosion

Der türkische Staat ließ unterdessen nichts unversucht, um das Dorf Ludê zu brechen. Zunächst wurde die Umgebung vermint, sogar die Gärten der Menschen. Heval Halils Schwester Gulistan ging 1993 in den Garten, um Sumak zu pflücken. Als sie Wasser aus einer Quelle trinken wollte und auf einem Stein saß, detonierte eine Mine und riss ihr beide Füße ab. Ihr Vater machte sich mit einem Maulesel auf den Weg, um Hilfe zu holen, aber bis die Hilfe eintraf, war Gulistan bereits tot. Ein weiterer Jugendlicher aus dem Dorf kam an jenem Tag ums Leben, als er ihr zur Hilfe kommen wollte und selbst auf eine Mine trat.

HADEP-Schmetterling und Vertreibung

Die Menschen aus Ludê verließen ihr Dorf trotz aller Einschüchterungsversuche der türkischen Armee nicht. Im Vorfeld der Wahlen im Oktober 1995 wurde der Druck noch stärker. Der Staat tat alles, um zu verhindern, dass die Menschen im Dorf für die HADEP stimmten. Ein Kind der Familie Şen ging in dieser Zeit in die Berge. Das verstärkte den Druck auf die Familie. Vor den Wahlen wurde ihr Haus gestürmt und in der Tasche von Heval Halils Vater ein Feuerzeug mit dem Schmetterlings-Symbol der HADEP gefunden. Das Militär gab der Familie 24 Stunden, um das Dorf zu verlassen. Den Şens blieb keine andere Möglichkeit, als die notwendigsten Sachen zusammenraffen und sich auf den Weg zu machen. Ein Jahr später wurde das Dorf vom Militär niedergebrannt und entvölkert. Viele Jahre danach sagte Heval Halils Mutter Sitî über diese Zeit: „Für mich war am schlimmsten, dass aus den Steinen der zerstörten Häuser ein Stützpunkt gebaut wurde.“

Vom Exil in Mersin ins Exil nach Deutschland

Familie Şen ließ sich nach der Vertreibung aus ihrem Dorf in Mersin nieder und eröffnete einen Laden. In dieser Zeit traf die Nachricht ein, dass Heval Halils Bruder Hamza (Mehmet Şen) gefallen war. Der Druck des Staates auf die Familie wurde danach noch stärker, vor allem auf Heval Halil, der inzwischen politisch aktiv war. Hausdurchsuchungen wurden zur Routine. 1996 entschied die Familie, Halil nach Deutschland zu schicken. Aus dem Exil in Mersin ging Heval Halil ins Exil nach Deutschland.

Erste Kontakte in der Asylunterkunft

In Deutschland wurde Heval Halil zunächst in einer Asylunterkunft im thüringischen Altenburg untergebracht. Altenburg ist eine der „niedlichen“ Ortschaften in Deutschland. Im Umland sind Wälder und Seen, das Stadtzentrum schmückt ein Schloss, das wie aus einem Märchen aussieht. Heval Halil war mit seinem Kopf jedoch nur in seinem Land. Serpil Taş war damals zusammen mit ihm in der Unterkunft. Wie sie berichtet, hat Heval Halil sofort nach seiner Ankunft das in der Unterkunft gegründete Komitee der Befreiungsbewegung gefunden und sich an der Arbeit beteiligt.

Als sich ein weiterer Bruder der Guerilla anschloss, wollte auch Halil der Bewegung beitreten. Das wurde abgelehnt, weil die Familie bereits einen Sohn verloren hatte. Ihm wurde gesagt: „Setz dein Leben fort und beteilige dich dort an der Arbeit. Wir wollen nicht, dass du dein Leben verlierst.“ Heval Halil war damit nicht einverstanden, aber er wollte sich der Partei nicht widersetzen. Wie seine Freunde aus dem kurdischen Verein erzählen, nahm sich Halil damals vor, nicht zu heiraten und keine Kinder zu kriegen, sondern sein Leben dem Kampf zu widmen. Ab diesem Zeitpunkt übernahm er jede Arbeit, die getan werden musste.

Zwei Monate im Koma

In den 25 Jahren in Deutschland lebte Heval Halil nach Altenburg in Erfurt, Leipzig und Dresden. In der gesamten Zeit war er in den örtlichen Vereinen aktiv. Er verteilte Zeitungen, besuchte Menschen und erzählte ihnen von der kurdischen Befreiungsbewegung. Seine entschlossene Beharrlichkeit wurde nach einem schweren Verkehrsunfall im Jahr 2016 besonders deutlich. Er erlitt ein Hirntrauma und war zwei Monate im Koma. Seine medizinische Behandlung dauerte knapp zwei Jahre. In dieser Zeit sagten seine Weggefährten: „Heval Halil, mach mal ein bisschen Pause und achte auf deine Gesundheit.“ Er hörte nicht auf sie, griff nach seinen Zeitungen und machte sich wieder auf den Weg. Mit dieser aufrichtigen Selbstlosigkeit wurde Heval Halil zu einem Menschen, an den alle liebevoll dachten.

Geliebt für seine Herzlichkeit

Veysel Çetin hat jahrelang mit Heval Halil zusammengearbeitet und sagt über ihn: „Er war überall beliebt, aber besonders im kurdischen Volk. Selbst Menschen, die uns eigentlich ablehnten, mochten ihn. Nach seinem Unfall besuchten ihn sogar Leute, die politisch gegen uns sind. Alle nannten ihn ,Heval Halil' und wussten, wer er ist. Er wurde geliebt und respektiert für das, was er war. Seine Beliebtheit war erstaunlich. Ich glaube, die Menschen haben seinen Einsatz und seine Herzlichkeit gesehen.“

Dreieinhalb Jahre Gefängnis in Deutschland

Staatlicher Repression war Heval Halil nicht nur in der Türkei ausgesetzt, auch in Deutschland gab es für ihn keine Ruhe. Er wurde drei Mal für seine Tätigkeit in der kurdischen Befreiungsbewegung inhaftiert und verbrachte dreieinhalb Jahre in Isolationshaft. Zuletzt war er vor acht Jahren in Dresden im Gefängnis. Sein Pass und seine Aufenthaltserlaubnis wurden eingezogen, danach musste er seinen Aufenthalt in kurzen Abständen immer wieder verlängern. 25 Jahre lang hat er sein Land nicht gesehen, das war die Hälfte seines Lebens. Hätte er einen Reisepass gehabt, wäre er vielleicht wenigstens in einen anderen Landesteil Kurdistans gegangen und erfrischt zurückgekehrt. Das war ihm in seinem Leben nicht vergönnt.

Eine kleine Wohnung und ein Rucksack voller Zeitungen

Heval Halil sprach nicht über sich oder seine persönlichen Angelegenheiten. „Selbst wenn er Hunger hatte, behauptete er, dass er satt ist“, sagt Veysel Çetin, „Es war kaum möglich, ihm ein paar Worte über sich selbst zu entlocken.“ Er arbeitete eine Zeitlang auf dem Bau, aber seine eigentlich Arbeit war immer der Kampf. Außer einer kleinen Wohniung in Dresden, seinem mit Zeitungen gefülltem Rucksack und seinem Volk hatte er nichts. Allen, die er traf, erzählte er vom Kampf. Er sagte, dass Abdullah Öcalans Gefangenschaft unerträglich für ihn ist. Wenn man im Verein fragt, was den Menschen als erstes zu Heval Halil einfällt, heißt es: „Er war Apos Weggefährte.“

„Wir tun viel zu wenig“

Heval Halil machte es nervös, wenn die Arbeit nicht wie gewünscht lief. Seine Weggefährten berichten von vielen solcher Situationen. Der Befreiungsbewegung hat er immer gesagt: „Heval, was ich mache, reicht nicht aus, ich will mehr tun.“ Vielleicht kam seine Wut daher: Er war davon überzeugt, dass ihm noch mehr gelingen könnte, und er wollte etwas tun, aber es kam nicht dazu. Veysel war einer seiner engsten Freunde, er meint, dass Heval Halil die erfolgreichste Arbeit in ganz Sachsen leistete: „Wenn etwas fehlte, war er sehr selbstkritisch. Ich erinnere mich an eine Versammlung, bei der er wegen eines kleinen Fehlers eine Selbstkritik ablegte. Er war dem Kampf sehr verbunden und sagte immer, dass wir angesichts des Kampfes im Land viel zu wenig tun.“

Vater verstorben, Mutter verhaftet

Heval Halils Vater starb, als er selbst in Deutschland war. Er konnte nicht an der Beerdigung teilnehmen und hat sein Grab nie gesehen. Seine Mutter wurde 2012 verhaftet, weil sie sich sechs Jahre zuvor an einer Aktion für die Freiheit von Abdullah Öcalan beteiligt hatte. Mit 79 Jahren kam sie ins Gefängnis und wurde nach breiten Protesten wieder freigelassen. Die Tochter seines gefallenen Bruders ging in die Berge und fiel im Kampf. Heval Halil verbrachte sein Leben damit, gegen die Unterdrückung standzuhalten und dem Kampf seiner Familie und seines Volkes gerecht zu werden. Als er starb, war niemand von seinen Angehörigen in Deutschland. Im Verein hieß es auf die Frage nach seinen Verwandten: „Wir alle sind seine Familie.“

Halils Mutter Sitî Şen wurde 2012 wegen einer Öcalan-Aktion verhaftet

Wenn Kader sein bedeutet, zu einem Kind des Volkes und des Kampfes zu werden, dann hat Heval Halil das getan, ohne dass jemand etwas hätte sagen müssen. Er war ein freiwilliger Kader seines Volkes und des Befreiungskampfes.

Veysel Çetin erzählt: „Er ließ sich nicht aufhalten, selbst wenn wir Stopp sagten. Er lebte für den Kampf, ohne das wäre er nicht Halil gewesen. Über Tote wird ja oft nur Gutes gesagt, aber Heval Halil war wirklich so. Er war durch und durch aufrichtig und verfolgte keinerlei persönliche Interessen. Niemand in dieser Region hat sich so sehr wie er für den Kampf aufgeopfert.“

Wie wir uns an Heval Halil erinnern

Über die Aktionsform, die Heval Halil gewählt hat, lässt sich vieles sagen, aber letztendlich läuft alles darauf hinaus, dass seine Selbstverbrennung und sein Tod eine politische Aktion waren, genauso wie sein Leben. Dieser Tod bedeutet einen Nullpunkt, es ist der Aufschrei eines Menschen, der etwas nicht mehr ertragen kann. Was zu diesem Zustand der Unerträglichkeit geführt hat, ist das Leben, das Kurdistan und dem kurdischen Volk zugesprochen wird. Wenn man über etwas wütend sein soll und es ablehnt, dann ist die richtige Adresse nicht Heval Halils Aktion, sondern das Leben, in dem diese Aktion stattgefunden hat. Heval Halil hat sogar aus dem letzten Moment seines Lebens, als er es nicht mehr aushalten konnte, eine Aktion gemacht. Diese Haltung steht für den kurdischen Widerstand, den Willen und den Kampfgeist, der selbst im Moment der Unterträglichkeit noch deutlich wird. In diesem Zusammenhang gedenken wir Heval Halil. Wenn wir uns an ihn erinnern, denken wir an seine lachenden Augen und seine enthusiastische Verbundenheit mit dem Kampf trotz 25 Jahren im Exil. Şehîd namirin.


*Der Artikel erschien im türkischen Original am 17. Februar 2021 in Yeni Özgür Politika.