Hesen Koçer: „Erdoğan ist der geistige Vater des IS“

Der IS befindet sich in Südkurdistan erneut auf dem Vormarsch und die Türkei greift die ezidische Gemeinschaft in Şengal an. Hesen Koçer von der nordostsyrischen Autonomieverwaltung bezeichnet Erdoğan als den geistigen Vater des IS.

Der IS befindet sich in einer Reorganisierungsphase und geht zu neuen Angriffswellen im Irak und Südkurdistan über. Der stellvertretende Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Hesen Koçer, weist darauf hin, dass sowohl die Politik der südkurdischen wie auch der irakischen Regierung zur Stärkung des IS beitragen, aber die Türkei die entscheidende Rolle spiele. Der IS erhalte Informationen und Befehle vom türkischen Staat, an den Angriffen im Raum Kerkûk sei der türkische Geheimdienst unmittelbar beteiligt. Im ANF-Interview beschreibt Koçer die aktuellen Entwicklungen in der Region.

Wie interpretieren Sie die Angriffe des türkischen Staats auf den von der irakischen Regierung anerkannten Rat der ezidischen Şengal-Region, und was hat es mit dem allgemeinen Schweigen dazu auf sich?

Die jüngsten Angriffe auf Şengal sind das Ergebnis einer Allianz zwischen dem türkischen Staat, der PDK und natürlich der irakischen Regierung. Mit diesen Angriffen soll der Wille des ezidischen Volkes gebrochen werden. Der gezielte Angriff auf den Ko-Vorsitzenden des Şengal-Rats und der Angriff auf das Gebäude der Selbstverwaltung sind Beweise dafür, dass die Existenz der Selbstverwaltung von Şengal ablehnt wird.

Es waren die PDK und die irakische Regierung, die Şengal dem IS-Massaker von 2014 überlassen haben. Obwohl es sich bei der Bevölkerung um irakische Staatsangehörige handelt und immer noch die irakische Flagge in Şengal weht, kann der türkische Staat sie jederzeit angreifen. Wenn der Irak dazu schweigt, stellt er seinen Willen und seine Kraft in Frage. Ein Staat mit einer starken Regierung und entsprechender Entschlossenheit würde nicht zulassen, dass ein externer Staat seine Bürgerinnen und Bürger angreift. Der Irak befindet sich in einem Bündnis mit dem türkischen Staat, in das natürlich auch die PDK verwickelt ist. Auf diese Weise wollen sie den Willen des ezidischen Volkes brechen.

Sie wollen das ezidische Volk beherrschen und es erneut allen Arten von Massakern und dem Genozid unterwerfen. Die PDK ist für den IS-Genozid am ezidischen Volk vom 3. August 2014 verantwortlich. Sie will das ezidische Volk einschüchtern, indem sie erneut mit ihren Verbündeten angreift und es willenlos, ohne Regierung und ohne Selbstverwaltung zurücklassen. Das ist die Botschaft des Angriffs auf den Şengal-Rat. Die Botschaft lautet: „Wir akzeptieren eure Selbstbestimmung nicht.“ Die PDK hat dabei mitgewirkt. Sie will gemeinsam mit der irakischen Regierung verhindern, dass sich der Wille des ezidischen Volkes manifestiert.

Dazu gehört auch das Schweigen der internationalen Mächte. Die internationale Koalition hat erklärt, das ezidische Volk solle geschützt werden, da es sich um eine Nation und eine Religion handele, die vom Aussterben bedroht sei. Aber es herrscht auch von dieser Seite ein großes Schweigen.

Şengal liegt nicht in der Nähe der Grenze zur Türkei und hat nichts mit dem türkischen Staat zu tun. Warum greift der türkische Staat Sengal jetzt an?

Weil er vollenden will, was der IS unvollendet gelassen hat. Der IS wollte einen vollständigen Völkermord begehen, wurde jedoch aufgehalten. Das ist es, was jetzt unternommen wird und das muss man genau verstehen. Der türkische Staat will einen Genozid an allen Kurdinnen und Kurden verüben. Die Angriffe auf Şengal sind Angriffe auf die Wurzel des kurdischen Volkes. Die Angriffe auf Rojava folgen ebenfalls diesem Zweck. Der Wille des kurdischen Volkes soll gebrochen werden. Es geht um Leugnung und Vernichtung. Das muss verstanden werden.

Warum protestiert die irakische Regierung nicht?

Was würde passieren, wenn ein irakisches Flugzeug in den türkischen Luftraum eindringt? Der türkische Staat würde die Hölle losbrechen lassen. Das bedeutet, der Irak kann seine Souveränität nicht schützen. Die irakische Regierung und die Internationale Koalition haben behauptet, dass sie das ezidische Volk schützen würden, aber heute wird das ezidische Volk getötet und sie schauen nur zu.

Warum beschäftigen sich einige ezidische Persönlichkeiten eher mit der politischen Präferenz des ezidischen Volkes als mit den Angriffen?

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben, um es besser verständlich zu machen: „Es gibt dort eine ausländische Macht, deshalb greift der türkische Staat an“, sagte Viyan Dexil, die im Namen des ezidischen Volkes im irakischen Parlament sitzt. Auf diese Weise versucht sie, die Angriffe des türkischen Staates zu rechtfertigen. Sie sagt dem türkischen Staat so ganz offen: „Kommt und tötet die Eziden.“ Deshalb sage ich: Einige ezidische Persönlichkeiten haben sich verkauft. Sie haben sich selbst entwürdigt. Ezidinnen und Eziden werden ermordet, Tausende von ihnen sind gefallen, Tausende ezidische Frauen befinden sich weiterhin in den Händen des IS. Und jetzt stellt sich jemand hin und redet von einer ausländischen Macht als Grund für die türkischen Angriffe. Warum also blieben die irakische Regierung und die PDK nicht dort, als der IS das ezidische Volk angriff? Die Freiheitsbewegung und die YPG und YPJ zogen los, um Şengal zu retten. Warum wurde damals nicht gesagt, dass es dort ausländische Mächte gebe? Die ganze Welt kann das bezeugen, niemand kann es leugnen.

Einige von denen, die sich an die PDK verkauft haben, reden jetzt solchen Unsinn. Die Eziden müssen sich davon befreien. Die PDK agiert bereits die ganze Zeit nach dem Willen des türkischen Staats. Er greift das kurdische Volk an, er verübt Massaker und die PDK schaut nur zu. Wenn das ezidische Volk willenlos, ohne Selbstverwaltung und ohne militärische Kraft bleibt, wird es verwundbar sein und weitere Massaker erleben. Wir sind bereit für alles, was notwendig ist, materiell und geistig. Um neue Massaker zu verhindern, muss die militärische Kraft aufrechterhalten werden.

Ein weiteres Thema ist das Wiederauftauchen des IS in Kerkûk und seine Angriffe dort. Warum geschieht das gerade zu dieser Zeit?

Wir haben schon früher festgestellt, dass sich der IS reorganisiert. Die Situation in Kerkûk bestätigt unsere Einschätzung. Es besteht die Möglichkeit, dass er auch anderswo stärker wird. Wovon profitiert der IS aktuell? Es gibt diejenigen, die ihn nähren, die ihn finanziell und militärisch unterstützen. Insbesondere der türkische Staat tut dies. Die Söldner, die jetzt unter der Kontrolle des türkischen Staates stehen, vor allem in Nordostsyrien, kommen aus dem IS oder sind Träger seiner Haltung. Sie haben sich unter der Schirmherrschaft des türkischen Staates organisiert und können überall angreifen.

Wenn man die Angriffe in Kerkûk genau betrachtet, dann sieht man, dass der türkische Geheimdienst direkt involviert ist. Die IS-Zellen bekommen alle ihre Anweisungen vom türkischen Staat. Sie bekommen vom türkischen Staat gesagt, wo sie angreifen sollen. Der Kommandeur des IS-Angriffs auf Kobanê hat zugegeben, dass der türkische Staat wollte, dass sie Kobanê angreifen. Auch die Angriffe in Kerkûk finden nicht ohne das Wissen des türkischen Staats statt.

Was ist die Grundlage der neuen Aktivitäten des IS?

Es gibt zwei Gründe, warum der IS die Grundlage gefunden hat, um erneut anzugreifen. Zum einen liegt es an dem politischen Vakuum in Südkurdistan. Wegen der Politik der PDK gibt es dort eine tiefgreifende Wirtschaftskrise. Die Armut ist die Ausgangsbasis für die Wiederbelebung des IS. Er kauft Menschen und macht sie zu Soldaten. Außerdem bilden die Widersprüche im Irak eine Grundlage dafür. Die Beteiligung an den letzten Wahlen war so gering, dass die Regierung nicht demokratisch legitimiert ist.

Was sind die Konsequenzen, wenn der IS weiterhin auf diese Weise angreift?

Er wird viele Städte einnehmen. Wenn man die Unterstützung des türkischen Staats einhergehend mit der von der PDK und dem Irak bereiteten Grundlage betrachtet, so sieht man, dass sich der Einflussbereich des IS ausweitet. Die Internationale Koalition muss das genau verstehen. Erdoğan ist der Kopf des IS und solange er regiert, wird der IS nicht enden. Erdoğan ist auch sein geistiger Vater. Erdoğan, die Muslimbruderschaft und der IS verfügen über das gleiche Gedankengut. Sie sind nicht politisch miteinander verbunden, sondern in ihrer Mentalität.