Hamburger Konferenz: Soziozid, Epistemizid, Femizid – Session II

Im zweiten Panel des Tages ging es auf der Hamburger Konferenz um die verschiedenen Krisen des Kapitalismus und das Verständnis, diese zu überwinden. Es sprachen Maryam Fathi (KJAR), Nazan Üstündag, Barry K. Gills und Veronica Maio.

Die Hamburger Konferenz „Challenging Capitalist Modernity IV“ wird mit interessanten Beiträgen und Impulsen aus Wissenschaft und Aktivismus fortgesetzt. Die Konferenz, die bereits zum vierten Mal stattfindet, steht unter dem diesjährigen Titel „Wir wollen unsere Welt zurück! Widerstand, Rückeroberung und Wiederaufbau!“. Der heutige Freitag ist unter dem Themenblock „Multizid-Regime“ drei Sessions gewidmet. Am Vormittag wurde das Thema Ökozid behandelt. Nach einer Mittagspause mit angeregten Diskussionen, viel Sonne und Austausch untereinander füllte sich der Saal wieder mit Teilnehmer:innen aus der ganzen Welt für die zweite Session zu Soziozid, Epistemizid und Femizid.

Hinweis auf Programmänderungen

Havin Guneser, eine der Sprecher:innen der Initiative „Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“ moderierte das deutlich von Frauen geprägte Panel. Zu Beginn sprach sie erneut Dank aus an all diejenigen, die trotz der widrigen Umstände – bedingt durch den vom Verfassungsschutz dirigierten Entzug der ursprünglichen Veranstaltungsräume in der Universität Hamburg – die Konferenz ermöglichten. Sie dankte auch den Redner:innen sowie dem kurdischen Volksrat, dem Frauenrat Rojbîn und dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Universität Hamburgs, die an der Organisierung der Konferenz beteiligt sind. Zudem wurde auf die Programmänderungen hingewiesen: Der dritte Tag werde ausschließlich mit Workshops gefüllt, welche an vier verschiedenen Orten stattfinden werden. Nach diesen Ankündigungen betonte Guneser die Notwendigkeit, das kapitalistische System und seine verschiedenen Krisen zusammen zu denken, weshalb das Panel unter dem Titel „Das Multizid-Regime“ steht.

In Iran beginnt unter der Führung von Frauen der Moment der Schöpfung

Die erste Rednerin war Maryam Fathi, Europa-Sprecherin der Gemeinschaft Freier Frauen Ostkurdistans (Komelgeha Jinên Azad a Rojhelatê Kurdistan, KJAR). Ihr Betrag auf Kurdisch trug den Titel „Jin, Jiyan, Azadî gegen Feminizide“. Sie betonte, dass es insbesondere Frauen seien, die unter dem kapitalistischen System auf vielschichtige Weise ausgebeutet würden, und führte dies auf die Anfänge der Objektivierung der Frau durch den Mann zurück.


Angesichts der aktuellen Revolution in Iran und Ostkurdistan nach dem Feminizid an Jina Mahsa Amini ging Fathi auf die Rolle der Frauen unter dem Islamischen Regime ein. Nach einer Darstellung der spezifischen Unterdrückung stellte sie die Notwendigkeit dar, dass ein erfolgreicher Frauenbefreiungskampf nur ein antikapitalistischer sein könne. So gehe es auch in dieser Revolution insbesondere darum, jegliche Macht und Zentralisierung zu beseitigen. Nur so könne sie erfolgreich sein. „Unter der Führung der Frauen beginnt jetzt der Moment der Schöpfung“, sagte Fathi. Man sehe gerade in diesem Prozess, wie Freiheit beginne, „wenn wir anfangen, unser eigenes Leben aufzubauen. Die Revolution ist jetzt ein Zeichen dieser Schöpfung“. Das Prinzip „Jin, Jiyan, Azadî“ lasse sich als neues Paradigma, als neue Perspektive auf die Welt betrachten. Auf ihre Rede wurde mit lauten Jin-Jiyan-Azadî-Rufen im gesamten Saal reagiert.

Soziozid: Ständiger Krieg gegen die Autonomie von Gemeinschaften

Die Soziologin Nazan Üstündag sprach zum Thema „Soziozid im aktuellen Zeitalter“. Sie begann ihren Vortrag mit der Erinnerung an die Opfer der verheerenden Erdbebenserie im türkisch-syrischen Grenzgebiet Anfang Februar mit Epizentrum in Kurdistan. Anschließend erläuterte Üstündag zunächst diese Katastrophe und ging dann auf die Folgen der destruktiven Verbindung zwischen Staat und Kapital ein, welche das Erdbeben so besonders gravierend machte. Hieran machte sie den Begriff des Gesellschaftsmordes, des Soziozids, deutlich.

5000 Jahre Gesellschaftsmord

Soziozid sei eines der wichtigsten Konzepte, die von Abdullah Öcalan entwickelt wurden, „um den ständigen Krieg zu beschreiben, den die staatlichen Strukturen und die Expansion des Kapitals gegen die Autonomie der Gemeinschaften und ihre Fähigkeit zur Selbstreproduktion führen“. Es lege offen, wie Gemeinschaften ihrer Fähigkeit beraubt würden, Moral und Politik zu produzieren. Aktuell befinde sich der Gesellschaftsmord, obgleich schon 5000 Jahre alt, auf seinem Höhepunkt. Doch dieser Prozess sei nicht als abgeschlossen anzusehen; vielmehr gebe es vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen zusammenkommen und gegen den Soziozid kämpfen, „indem sie sich organisieren und auf vergangene Erfahrungen und Zukunftsutopien zurückgreifen“. So habe es auch während des Erdbebens beeindruckende Initiativen von der kurdischen Frauenbewegung und feministischen Organisationen gegeben, um selbstorganisiert für die Bedürfnisse der überlebenden Frauen zu sorgen. Diese Art von autonomen Strukturen und Netzwerken gelte es, für sämtliche Bereiche aufzubauen.

Revolutionäre Transformation des Selbst als Ausweg aus Krisen

Barry K. Gills ist Professor für Globale Entwicklung an der Universität von Helsinki. In seiner Präsentation sprach er zu „Kapital, Epistemizid und Ökozid: Überlegungen zu Dekommodifizierung, Rekommunalisierung und dem Aufbau eines freien Lebens“. In dieser stellte er, im Verhältnis zu Wallerstein, die Weltsystemtheorie vor, welche den Ursprung des Weltsystems schon vor 500 Jahren verortet. Mit diesem Rückgriff ging er auf den zentralen Zusammenhang zwischen der ökologischen Krise und der globalen Kapitalakkumulation ein und betonte den dringenden historischen Handlungsbedarf für eine ökologische Wiederherstellung auf planetarischer Ebene. Diese Erneuerungen müssten einhergehen mit einem Bewusstsein für die Notwendigkeit, alle Lebensformen auf diesem Planeten zu respektieren, welche sich wiederum in konkrete Maßnahmen übersetzten.

Als zentrale, historisch tief eingebettete Pathologien der kapitalistischen Moderne, welche Ursache für die gegenwärtigen Krisen sind – und deshalb überwunden werden müssten – benennt Gills erstens die übermäßige Dominanz männlicher Attribute in der Psyche und zweitens die übermäßige menschliche Dominanz über die „Natur“ und ihre Objektivierung. Es brauche eine „revolutionäre Transformation des Selbst“ sowie ein neues Denken und Handeln von Kollektivität (Pablo Escobar). Zudem müsse der globale Extraktivismus überwunden werden, denn dieser spiegle jahrhundertelange koloniale, rassistische und imperialistische Strukturen und Praktiken wider. Dazu gehöre die De-Kommodifizierung aller Lebensbereiche sowie eine neue Wert-Theorie, außerhalb der Herrschaft des Kapitals und basierend auf Gemeinschaftlichkeit und Solidarität.

Abschließend ging Gills auf Widerstand und Praktiken der Transformation ein. Kritik sei nach wie vor wichtig, aber darüber hinaus gelte es, ins Handeln zu kommen. Abdullah Öcalans „Soziologie der Freiheit“ biete hierfür sehr eindringliche Lektionen.

Ursprüngliche Akkumulationsprozesse in der sumerischen Gesellschaft

Die letzte Rednerin des Panels war Veronica Maio, Philosophie-Studentin aus Turin. Sie antwortete auf den Call for Papers der Konferenz mit ihrem Beitrag „Ursprüngliche Akkumulationsprozesse in der sumerischen Gesellschaft“. In Bezug auf materialistische und foucaultsche Feminismen gab sie den Prozess der ursprünglichen Akkumulation nicht nur als Anhäufung von Kapital, sondern auch als das Anhäufen von Unterschieden und Spaltungen als Grundlage für Hierarchie wieder. So ließe sich dies bis ins alte Mesopotamien zurückverfolgen, als die Entwicklung der Landwirtschaft einsetzte – und sich patriarchale Autorität entwickelte. Die Institutionalisierung der Hierarchie wurde später in Form des Staates organisiert. Diesen Prozess zeichnete Maio am Beispiel Uruks in Niedermesopotamien nach, wo es nach der landwirtschaftlichen Innovation eine urbane Revolution gab, welche wiederum bereits das Vorhandensein eines zentralisierten Verwaltungssystems, des Tempels, implizierte, also das Vorhandensein der Autorität.

Mit den eingebrachten Perspektiven machte Maio deutlich, warum Abdullah Öcalan die Ursprünge des Kapitalismus auf die sumerische Gesellschaft zurückführt: Der Kapitalismus ist nicht ausschließlich ein Wirtschaftssystem, sondern eine Form „Gouvernementalität“, also der Art und Weise der Regierung von Menschen und Gesellschaften, sagte sie.

In all den Beiträgen des Panels ging es somit quasi um die Wurzeln und vielfältigen Facetten des Kapitalismus. Die detaillierten Konzeptualisierungen des Kapitalismus helfen, diesen besser zu verstehen. Anschließend wurde der Raum für Fragen der Zuhörer:innen geöffnet und mit einer lebhaften Diskussion beendet. Die letzte Sitzung des Tages zum Punkt Epistemizid dauert zur Stunde weiter an.