Am Ostersonntagmorgen ab 10 Uhr wurde im Rahmen der Konferenz „Wir wollen unsere Welt zurück“ der Reihe „Die kapitalistische Moderne herausfordern“ das vierte Panel zum Thema Bildung durchgeführt. Aufgrund der kurzfristigen Entziehung des Audimax der Universität Hamburg durch den Universitätspräsidenten Dr. Hauke Heekeren hatte dieses Panel, das vorher für Samstag geplant war, entsprechend der neuen Raumsituation verschoben werden müssen. Das Panel wurde moderiert von der Soziologin und Sozialanthropologin Margara Millan, Professorin an der der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM).
Drei sehr prominente Redner:innen haben in diesem Panel vorgetragen: Zozan Sima von der Jineolojî-Akademie in Nord- und Ostsyrien, Aktivistin der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung sowie Beraterin und Lehrkraft am Institut für Jineolojî an der Universität Rojava, war mit einer Liveschaltung aus Rojava dabei. Andrej Grubačić vom Fachbereich Anthropologie und sozialer Wandel am California Institute of Integral Studies in San Francisco, USA, der auch Herausgeber des Journal of World-Systems Research ist, und John Holloway, der an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko Soziologie lehrt und unter anderem das in viele Sprachen übersetzte und viel diskutierte Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (2002) geschrieben hat, saßen auf dem Podium im Bürgerhaus Wilhelmsburg.
„Die kapitalistische Moderne ist eine organisierte Produktion von Unwissenheit“
Andrej Grubaҁiҁ leitete seinen Beitrag mit einer Wertschätzung für autonome Bildung als wichtigsten Aspekt der demokratischen Moderne ein. Zudem betonte er die Bedeutung von Entrüstung sowie Liebe für Bildung und Revolution. Bildung habe mit den modernen Nationalstaaten die wichtige Funktion der Erziehung zur Fügsamkeit und Regierbarkeit als Staatsbürger erhalten. Dem stellte Grubaҁiҁ die wenig bekannte Geschichte autonomer Bildung gegenüber. Autonome Bildung strebe danach, die Autonomie der Lernenden zu maximieren und die Autorität der Lehrenden zu minimieren.
Grubaҁiҁ vertrat, dass wir alle Agnotolog:innen werden müssen, um zu verstehen, wie Ignoranz und Unwissen entsteht. Agnotologie untersucht die kulturelle und politische Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissenheit. Dieser Ansatz erscheint ihm hilfreich, denn „die kapitalistische Moderne ist neben vielen anderen Dingen eine organisierte Produktion von Unwissenheit“. Angesichts von Erfahrungen und Geschichten, die unsichtbar oder unmöglich produziert werden, sei die Bergung weggeworfener Erfahrungen eine wichtige Aufgabe. Die verborgenen Erfahrungen und Konzepte von autonomer Bildung für ein befreites Leben müssten wieder sichtbar gemacht und die Würdigung als glaubhafte Alternativen zurückgegeben werden.
Ein Beispiel für die vergessene Geschichte der Ideen für alternative Bildung, die Grubaҁiҁ zitiert, ist eine Beschreibung von James Guillame aus dem Jahr 1898: „Es wird keine Schulen mehr geben, die willkürlich von einem Pädagogen geleitet werden und in denen die Kinder ungeduldig auf den Moment ihrer Befreiung warten, in dem sie draußen ein wenig Freiheit genießen können. In ihren Versammlungen werden die Kinder völlig frei sein. Sie werden ihre eigenen Spiele und Gespräche organisieren, ihre eigene Arbeit systematisieren und Streitigkeiten schlichten. Sie werden früh an das öffentliche Leben, an Verantwortung, an gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Hilfe gewöhnt werden. Der Lehrer, den sie selbst gewählt haben, um ihnen Unterricht zu erteilen, wird nicht mehr als Tyrann verabscheut werden, sondern als Freund, dem sie mit Vergnügen zuhören werden.“ Kinder würden dazu neigen, sich spontan zu organisieren, wenn sie sich selbst und ihrer natürlichen Motivation überlassen werden. Wenn der Griff der Autorität gelockert wird, kann der Prozess autonomer Bildung in Gang gesetzt werden.
Herbert Read zitierend malte der Redner diese Vision: „Die Schule wird so zum Modell für die Institutionen und Prozesse einer freien Gesellschaft, und Bildung ist nicht der Zweck, sondern das Mittel für die positive Welt der Zusammenarbeit. Die vielleicht wichtigste Lektion, die die Schule vermitteln sollte, ist die Art und Weise, wie man die Institutionen einer freien Gesellschaft aufbaut.“ Daran knüpft Grubaҁiҁ die Gedanken von Abdullah Öcalan an, wie Bildung durch nationalstaatliche Kontrolle zu einer wichtigen Waffe der Kolonialisierung der Gesellschaften gemacht wurde. Eine Neuinterpretation der Bildungsinhalte in Bildungseinrichtungen der Gesellschaft wird von Öcalan als notwendig beschrieben.
Andrej Grubaҁiҁ beschreibt, wie autonome Bildung als Prinzip pädagogische Diskurse seit Generationen durchziehe. Er nennt William Godwin, Paul Robin, Francisco Ferer, Sebastian Faure und Leo Tolstoi und Paul Goodman. Beispiele sind das Summerhill Project, Freie Schulen sowie die zeitgenössischen sozialen Bewegungen in Lateinamerika und Kurdistan. „Die autonome Bildung ist keine radikalere Version der progressiven Bildung. Sie hat konsequente soziale und politische Bezüge, die der progressiven Bildung fehlen.“ Es gehe um eine Erziehung, die befreit. Sie befreit von Angst, Schweigen und Gehorsam und bereitet vor auf eine Gesellschaft der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe.
Schließlich bezieht sich Grubaҁiҁ auf die Idee einer weltweiten Konföderation autonomer Bildungseinrichtungen. Zudem sollte in bestehenden kapitalistisch-staatlichen Institutionen von innen an Rissen gearbeitet werden. Es schlägt vor, „Bildungszentren der kapitalistischen Moderne zu entbündeln und sie durch die Weltkonföderation autonomer Zentren und Akademien zu ersetzen, die von unten organisiert und föderiert werden.“ Die glanzvolle Geschichte der autonomen Bildung wurde verborgen, doch sie könne wiedergewonnen werden. „Wie Abdullah Öcalan uns daran erinnert, besteht die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft darin, die Vergangenheit zu erforschen und der Gegenwart alles zu geben“, so Andrej Grubaҁiҁ.
Holloway: Fuck off, Dr. Heekeren!
John Holloway, ein faszinierender Redner, wurde als zweiter Referent vorgezogen, da die Liveschaltung nach Rojava technisch noch nicht funktionierte. Seine Rede begann mit Worten, die auch fehlplatziert hätten wirken können, doch Lachen und begeisterten Beifall auslösten: „Hier. Jetzt. Wir. Im Audimax. Der Universität Hamburg. Hier, jetzt, drehen wir die Bildung um.“ Ursprünglich hatte Holloway seine Rede so anfangen wollen. Er sinnt über die Bedeutung dieses Ausstoßes aus dem Audimax und der Universität nach, über die Verhinderung dieser vorbereiteten Sätze seiner Rede. Er gibt seinem Ärger Luft und wendet das Motto der Konferenz darauf an: „Wir wollen unsere Welt zurück! Widerstehen, zurückfordern und wieder aufbauen. Macht autonome Bildung und organisiert euch! Und wir rufen mit neuer Wut und mit neuer Entschlossenheit: Fuck off, Dr. Heekeren! Fuck off, Verwaltungsrat der Universität Hamburg! Fuck off, Verfassungsschutz! Wir brauchen euch nicht, wir machen es selbst.“
Holloways zerschlagene Illusion
Die Entscheidung des Hamburger Universitätspräsidenten sei verachtenswert und treffe ihn persönlich, so John Holloway. Trotz aller Widersprüche habe er eine romantische Illusion von deutschen Universitäten als Orte des strengen, kritischen Denkens in sich getragen. „Ich habe Zeit an den Universitäten in Tübingen, Frankfurt und Köln verbracht, ich war verliebt in Ernst Bloch, Theodor Adorno, Herbert Marcuse, und ich war stark beeinflusst von Freunden und Freundinnen wie Joachim Hirsch, Elmar Altvater, Christel Neusüss, Heide Gerstenberger und vielen anderen.“ Doch diese Illusion sei nun zerschlagen worden. Diese Entscheidung sei entwürdigend, unvernünftig, anti-intellektuell und schade dem Ansehen der Universität Hamburg und des deutschen Hochschulsystems. „Durch die Heftigkeit ihrer Reaktion hat sie ihre Schwäche gezeigt, ihre Angst vor dem, was wir sagen könnten.“
Auch wenn die Konferenz nun als autonome Bildung außerhalb der Universität durchgeführt wird, bedeute das keine Weglaufen von den Bildungsinstitutionen, so Holloway: „Wir wollen die Universitäten und Schulen als Orte des Kampfes begreifen. Dies ist nicht immer ein spektakulärer Kampf, aber es ist ein Kampf, den wir, die an den Universitäten und Schulen sind, in jeder Schulstunde, in jedem Seminar führen, jedes Mal, wenn wir schreiben, jedes Mal, wenn wir sprechen.“
Das Vorgehen der Universitätsleitung gegen die Konferenz unterstreiche die Bedeutung und verstärke das Argument seines Vortragsthemas. „Die Universitäten, nicht nur hier, sondern in der ganzen Welt, stellen sich zunehmend auf die Seite des Geldes gegen das Leben. Gerade dann, wenn es so dringend notwendig ist, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, für das Leben gegen das Geld zu kämpfen.“ Den Slogan „Leben gegen Geld“ hat John Holloway von der zapatistischen Europareise von 2021 übernommen. Die Tatsache, dass wir in einer Welt leben, die von Geld, von Kapitalherrschaft und Profit beherrscht wird, bedeute enormes Leiden, Unterernährung und Tod durch Verhungern. „Tausende und Abertausende von Menschen sterben jeden Tag allein aufgrund der Existenz des Geldes als soziales Verhältnis, durch Hunger, heilbare Krankheiten oder Gewalt.“ Unser tagtägliches Handeln und Nachdenken über das Leben werden durch Geld als Gatekeeper zum Überleben reguliert. Geld zwinge uns zu Tätigkeiten, die wir nicht kontrollieren und die das Ziel verfolgen Profit zu vermehren. Geld schaffe Armut und extremen Reichtum. „Es ist das Geld und sein unstillbares Bedürfnis nach Expansion, nach Profit, das die Welt zerstört.“
„Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Geldes, des Kapitals stoppen?“
In den letzten zwanzig oder dreißig Jahren wird diese Dynamik der Zerstörung durch die Herrschaft des Geldes, des Kapitals immer offensichtlicher, führte Holloway weiter aus. Inzwischen sterben massiv Lebensformen aus und ist auch die Menschheit vom Aussterben bedroht. „Durch den globalen Klimawandel, durch die Zerstörung der Artenvielfalt und die damit verbundene Entstehung von Pandemien, durch die Erschöpfung der Wasservorräte treibt uns die Herrschaft des Geldes immer tiefer in die Katastrophe.“ Er stellte in Frage, dass die Probleme in einer von Geld beherrschten Welt gelöst werden können.
Die Fragen nach der Lösung dieser gravierenden, existenziellen Probleme ist für Holloway die eine entscheidende Frage, die sich Wissenschaft stellen sollte: „Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Geldes, des Kapitals stoppen?“ Diese ist im Verständnis von Holloway auch eine Bildungsfrage, eine politische Frage und eine soziale Frage. Doch auch wenn wir noch keine Antworten haben, können wir voranschreiten: „Preguntando caminamos, fragend schreiten wir voran, wie es die Zapatisten ausdrücken. Das ist wichtig, denn es führt uns zu einem anderen Verständnis von Bildung und von Politik.“
In Bildungsinstitutionen werde die Herrschaft des Geldes wie selbstverständlich vorausgesetzt und somit das Handeln und das Denken eingedämmt. Es wird in Bahnen gelenkt, die der Profitschaffung dienen und die soziale Ordnung fördern, in der die Kapitalherrschaft respektiert wird. Die Alternative dazu, eine Bildung für das Leben gegen das Geld, beginne damit, „Nein“ zu sagen zu dem, was nicht mehr akzeptiert werden kann: „¡Ya basta! Es reicht!“ Manchmal sei das Nein unspektakulär. „Menschen, die versuchen, ihr Leben so zu gestalten, dass es der Herrschaft des Geldes widerspricht. Oder vielleicht auch nur die Studentin, die im Seminarraum aufsteht und sagt: ‚Sollten wir nicht anders über unser Fach nachdenken, auf eine Art und Weise, die die Herrschaft des Geldes unterläuft?‘“ Doch diese andere Bildung für das Leben sei nicht allein, sondern habe eine Geschichte und stehe in Verbindung mit weltweiten, vielfältigen Formen von Kämpfen, wobei Rojava und die Zapatistas leuchtende Lichter seien. „Wenn wir von Bildung für das Leben gegen Geld sprechen, ist es äußerst wichtig, von den wunderbaren Experimenten in Rojava oder Chiapas und vielen anderen zu hören. Aber es ist auch sehr wichtig zu fragen, was wir tun, was wir tun können, individuell und kollektiv, um die Bildung in unseren Klassen und Seminaren, in unseren Schulen und Universitäten, wo immer wir sind, umzukehren. Hier, jetzt, wir.“
„Wenn das Extremismus ist, dann sind wir Extremisten und stolz darauf“
Während das Kapital das Leben durch viele Formen in die Unterwerfung kanalisieren möchte, gibt es immer, mal latenten, mal explosiven Widerstand dagegen. Auch die Universität Hamburg hätte nun versucht, das Denken und die Diskussion in einem bestimmten Rahmen zu halten. John Holloway schloss seinen Beitrag mit einem ironischen Dank an den Verfassungsschutz für die Kennzeichnung als Extremisten: „Natürlich sind wir Extremisten. Wir sind extrem gegen die Herrschaft des Geldes, gegen das kapitalistische System, das die Welt zerstört und uns in Richtung Ausrottung treibt. Und wir sind extrem entschlossen, über Wege zu einer besseren Welt, einer Welt jenseits des Kapitalismus, nachzudenken, zu diskutieren und zu praktizieren. Wenn der Kampf für das Leben gegen das Geld Extremismus ist, dann sind wir Extremisten und stolz darauf.“
„Im 21. Jahrhundert sind unabhängige Akademien entscheidende Strukturen“
Zozan Sima als die dritte Rednerin wurde auf der großen Leinwand sichtbar und mit großem Applaus begrüßt. Sie gab mit ihrem Beitrag einen detaillierten Einblick in die Bildungsphilosophie der kurdischen Freiheitsbewegung und deren sehr konkrete, praktische Umsetzung. Zuerst beschrieb Zozan Sima die Jineolojî-Akademie in Rojava, an der sie selber mitarbeitet. Das Wissen und die Gedanken von Frauen aus der vieltausendjährigen Geschichte bilden die Basis ihrer Arbeit. Forschungsthemen und -bereiche werden entsprechend der gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgewählt. Auch ohne Universitätsabschlüsse oder akademische Titel bilden sich Frauen zu Expertinnen aus, publizieren Broschüren und Bücher, organisieren Konferenzen und geben das Wissen in Bildungscamps, Workshops und Kursen weiter. Die Bedürfnisse der Gesellschaft nach benötigten Informationen und im Sinne der Frauenrevolution zu erfüllen, ist die Orientierung.
Perwerde: Bildung als Selbstwerdung
Sima berichtete, wie das koloniale Bildungssystem vor allem in der Türkei und in Syrien versucht hat, bei kurdischen Kindern Schamgefühle und Geringschätzung gegenüber der eigenen Sprache, Kultur, Überzeugungen, Gemeinschaft und Familie hervorzurufen. Auch in den ostkurdischen Gebieten im Iran besteht kein Recht auf Unterricht in der Muttersprache, obwohl an einer Universität in Kurdisch studiert werden könne. Im irakischen Südkurdistan werde kurdischsprachige Bildung ermöglicht, jedoch sei dort der Wunsch nach englischsprachiger Bildung groß, hervorgerufen durch die starke Orientierung an der kapitalistischen Moderne. „In Westkurdistan wurde unter der Kolonialherrschaft Syriens das kurdische Bildungswesen heimlich betrieben und erst nach der Rojava-Revolution vor etwa zehn Jahren das Recht auf Bildung in der Muttersprache erlangt.“ Doch diese Schulen und die Abschlüsse würden woanders noch nicht anerkannt.
Das kurdische Wort „Bildung“, perwerde, wurde von Sima erklärt. Es wird aus den Konzepten der Entstehung, der Liebe und des Fliegens eines Vogels abgeleitet. Daraus wird erkenntlich, dass in der kurdischen Tradition Bildung als Selbstwerdung verstanden wurde. „Das koloniale Bildungssystem wurde zu einem Instrument und einer Methode, um diese Flügel zu brechen und sie von ihrem eigenen Selbst zu entfremden.“
Die ersten Lehrerinnen waren Frauen, erklärt Zozan Sima. Die Wörter Wissen, Quelle, Inspiration und Philosophie, die alle weiblich sind, seien ein Hinweis darauf, dass Frauen die Quelle des Wissens und die ersten Lehrerinnen waren. Mit der staatlichen, männlich dominierten Zivilisation wurden Frauen von der Bildung entfernt. Sie mussten sich das Recht auf Lernen und Lehren erst wieder erkämpfen. Während Bildung ursprünglich die gesellschaftliche Weitergabe von Sprache, Kultur, Traditionen, Lebensgrundlagen und notwendigen Kenntnissen an die nächste Generation war und Eigenständigkeit ermöglichte, wurde diese durch die Nationalstaaten monopolisiert und damit von der Gesellschaft weggenommen. Der Kampf um eigenständige Formen der Bildung hält bis heute an, so Zozan Sima: „An diesem Punkt ist es angemessen zu sagen, dass der Kampf für akademische Freiheit und Autonomie gegen diejenigen, die im Dienst des Staates und der Macht in der Bildung tätig sind, seit Jahrtausenden anhält.“ Die kurdische Freiheitsbewegung sei bestrebt, die tausendjährigen Bildungstraditionen der Menschheit und insbesondere die des Nahen Ostens und Kurdistans wieder zu aktualisieren. Bildung werde aus der Kontrolle des Staates herausgenommen und der Verantwortung der Gesellschaft übertragen.
Die erste nicht vom Staat kontrollierte Bildung in einem Keller in Ankara
Um das zu vertiefen und aus der Geschichte der kurdischen Bewegung heraus zu verstehen, ging Zozan Sima zurück in die 1970er Jahre und erzählte, wie die ersten nicht vom Staat kontrollierten Bildungen in einem Keller in Ankara begannen, als die kurdische Freiheitsbewegung sich als Studierenden- und Jugendbewegung an türkischen Universitäten entwickelte. Bildung wurde im Geheimen an verschiedenen Orten organisiert, die damit zu Akademien wurden. „Nach dem Putsch vom 12. September 1980 verließen Gruppen, die gegen die faschistische Diktatur in der Türkei kämpften, das Land und absolvierten ab 1982 in der Bekaa-Ebene im Libanon militärische und politische Schulungen im Lager Helwe. Im Jahr 1987 erhielt es den Namen Mahsum-Korkmaz-Akademie. Dieser Ort war bis zu seiner Schließung im Jahr 1993 aufgrund von internationalem Druck das Gebiet, in dem die Kader der Bewegung von Abdullah Öcalan persönlich ausgebildet wurden. In derselben Zeit wurden in vielen Häusern in Syrien und Libanon kleine Gruppen ausgebildet.“
Die soziologische Analyse des Individuums
Bei diesen Bildungen wurden neue Methoden der Analyse praktiziert, die Sima vorstellte: „Der Versuch, die Gesellschaft durch das Individuum und die Geschichte durch die Gegenwart zu verstehen, ist der wesentliche Ansatz. Es ist eine Bildungsmethode, die die Verbindungen zwischen unserer geographischen, kulturellen und religiösen Umgebung, Familienstruktur, sozialen Realitäten, Geschlecht und unserer Persönlichkeit herstellt, die unsere Existenz formen. Die soziale Realität hinter den Gefühlen, Gedanken, Handlungen und Beziehungen im revolutionären Kampf wird offenbart. Obwohl es Ähnlichkeiten zur Psychoanalyse gibt, besteht der Kern darin, dass das Individuum sich einer soziologischen Analyse unterzieht. Diese Analyse wird in kollektiver Form durchgeführt.“ Die Schäden, die das Machtsystem auf unserer Persönlichkeit verursacht hat, erfordere, einen Kampf gegen jede Art von Klassen-, patriarchalen und kolonialen Mechanismen zu führen und dabei die Methode der Kritik und Selbstkritik als Werkzeug einzusetzen.
Im letzten Teil ihrer Rede verdeutlichte Zozan Sima die Bedeutung des Akademie-Modells der kurdischen Freiheitsbewegung. Akademien sind in allen vier Teilen Kurdistans zu Dutzenden entstanden, denn sie werden als eine der vier grundlegenden Säulen des Demokratischen Konföderalismus als gesellschaftliche Organisation ohne Staat verstanden: Gemeinschaft, Rat, Akademie und Kooperativen. Diese Akademien haben das Ziel, alle Einzelnen durch Bildungsprogramme zu fördern, ohne Kriterien wie Alter, Status, Geld oder Diplomabschlüsse zu berücksichtigen. „Um die Nachteile zu überwinden, die das patriarchale System und die sexistische Ideologie, die seit Tausenden von Jahren existieren, Frauen bereiten, gibt es spezifische Bildungssysteme, um Frauen zu helfen, sich selbst besser kennenzulernen und ihre Stärken hervorzuholen. An einigen Akademien werden Analysen und Kurse ausschließlich von Frauen durchgeführt.“ Themen wie Geschlechterungleichheit, Frauen in der Geschichte und die Veränderung von Männern werden von Frauen unterrichtet. Es gibt auch Schulungen, an denen nur Männer teilnehmen, aber von Frauen unterrichtet werden, die auf dem Projekt der Veränderung von Männern basieren.
Resümierend stellte Sima heraus, dass durch dieses akademische Modell der Freiheitsbewegung Kurdistans eine zuvor kolonial in Sprache, Kultur und Bildung unterdrückte Gesellschaft eine akademische Expertise ausbilden konnte. So konnte das Personal, das benötigt wurde – Politiker:innen und Kommandant:innen, Diplomat:innen und Lehrer:innen, Ökonom:innen und Künstler:innen – bereitgestellt werden. Es wurden Methoden entwickelt, um eine Verbindung zwischen Wissen und Handeln herzustellen. „Die Transformation der am meisten unterdrückten Frauen in Heldinnen und die Fähigkeit von Frauen, die wildesten männlichen Herrschaftsarmeen des 21. Jahrhunderts mit Mut, Wissen und Schönheit zu besiegen, waren das Ergebnis dieser Bildung.“
Aufbau einer Weltkultur- und Akademiekonföderation
Zozan Sima bezieht sich auf den Vorschlag von Abdullah Öcalan für den Aufbau einer Weltkultur- und Akademiekonföderation, die auf freiwilliger Basis aus lokalen, regionalen und nationalen Akademien besteht, denn gegenwärtige Revolutionen müssten auf sozialwissenschaftlichen Grundlagen aufbauen. Mit der weltweiten Akademiekonföderation könne die Herrschaft des Kapitalismus über das Wissen beseitigt und eine revolutionäre Transformation in den Sozialwissenschaften herbeiführt werden.
„Im 21. Jahrhundert sind freie, autonome und unabhängige Akademien entscheidende Strukturen, die einen Wandel im Denken herbeiführen können und sich außerhalb der Macht und des Einflusses von Kapital und Staatsmacht befinden. In dieser Ära, in der die Wahrheit am meisten verzerrt wird, ist es unerlässlich, revolutionäre Durchbrüche im intellektuellen Bereich zu erzielen. Eine solche intellektuelle Revolution kann durch den reichen Erfahrungsschatz nichtstaatlicher Gruppen und die Suche nach neuen sozialwissenschaftlichen Ansätzen in einer demokratischen Moderne verwirklicht werden“, so Zozan Sima.
„Wir können nicht mehr leben unter der Regierung des Geldes“
Im Diskussionsteil der Session erklärte John Holloway auf Fragen hin, dass er es sinnvoll findet, Begriffe zu verändern und „Geld“ statt „Kapital“ zu sagen. „Kapital loswerden“ klinge als etwas Externes zu uns. „Geld“ ist anders. Wir geben Geld aus, wir hängen vom Geld ab. Alles wird dadurch geformt, unser Leben. Wir müssen den Warencharakter herausnehmen und Räume schaffen, die frei von Geld sind, zum Beispiel die Gesundheitsversorgung nicht verstaatlichen, was neue Unterwerfung dieses Bereiches bedeuten würde. „Wir können nicht mehr leben unter der Regierung des Geldes“, sagte Holloway.
Zozan Sima beendete die Session mit einem kurzen Statement zu den schwierigen Bedingungen, unter denen Bildung stattfinden müsse angesichts von Besatzung und Krieg. Das sei nur durch einen starken Willen möglich, sagte sie und sendete revolutionäre Grüße aus Rojava an die Konferenz.