Friesischer Widerstand

Die IDK-Initiative Geschichte & Widerstand war auf Spurensuche in Westfriesland.

Es regnet. Wir fahren durch weite grüne Landschaften, zu beiden Seiten der Straße große Schilfmeere. Das Erste, was auffällt, als wir die Grenze zu den Niederlanden passieren, sind rote Halstücher an den Haustüren der kleinen Siedlungen, manchmal auch an vorbeifahrenden Autos. Als wir aus den Dörfern hinausfahren, wehen bis in die Ferne Flaggen an den Kuhweiden: die umgedrehte Nationalflagge der Niederlande als Protest gegen die Regierung. Noch vor wenigen Monaten war hier alles in Aufruhr: Bäuer:innen blockierten Autobahnen, Zulieferer die Abfallwirtschaft. Auf den Straßen brannten Heubarrikaden, Straßen waren gesperrt – durch riesengroße Misthaufen. Grund für diese Massenproteste sind geplante Gesetzesänderungen zur Einsparung von Emissionen. Diese sollen nach dem Willen der Regierung vor allem in der Landwirtschaft eingespart werden, was zur Folge hätte, dass viele Betriebe dicht machen müssten.

Es geht um existenzielle Fragen. Und die Niederlande stehen unter europäischem Druck: Es drohen weiterhin hohe Bußgelder und nicht nur das; die Niederlande dürfen nicht mehr bauen, solange die Emissionen nicht sinken, dabei mangelt es an Wohnungen. Doch nicht nur in den Niederlanden, auch in anderen Teilen Frieslands rumort es. So kam es vergangenen Sommer zu Solidaritätsaktionen der ostfriesischen Bäuer:innen: Sie blockierten auf deutscher Seite ebenfalls die Autobahnen an der Grenze. Auch in Deutschland steht die Landwirtschaft vor großen Herausforderungen, die Bäuer:innen protestieren hier ebenfalls. Doch in diesem Fall verbindet die Bäuer:innen auf niederländischer und deutscher Seite weit mehr, als die Landwirtschaft – sie alle sind Teil von Friesland.

Umgekehrte Nationalflaggen als Zeichen des Protests

Die Frieslande oder früher auch die „Tota Frisia“ genannt, umfassen ein Gebiet zwischen dem Westfriesland im Norden der Niederlande über Ostfriesland in Niedersachsen bis ursprünglich nach Sylt an der dänischen Grenze im heutigen Schleswig-Holstein (Nordfriesland). Sie verbindet eine gemeinsame Geschichte und Kultur, die für Mitteleuropa einzigartig ist.

Die friesische Freiheit

Über tausend Jahre reicht die Geschichte der „friesischen Freiheit“ schon zurück. Die „friesische Freiheit“ beschreibt das Recht der Friesen auf Selbstverwaltung – wie dieses genau entstanden ist, darum ranken sich viele Legenden. Die bekannteste ist, dass sie diese als Bezahlung für ihren Wehrdienst Karl dem Großen gegenüber erhalten haben - anstelle einer üblichen Bezahlung in Gold und Silber. Über viele Jahrhunderte hinweg beriefen sich die Friesen auf dieses Recht der Selbstbestimmung und ließen keine Knechtschaft durch einen etwaigen Herzog oder Grafen gelten. Stattdessen entwickelten die friesischen Stämme ein föderales System, in welchem sie sich gemeinsam organisierten.

Mit Entstehung der ersten Nationalstaaten in Europa fielen die Frieslande zunehmend auseinander und wurden von verschiedenen Herrschern unterworfen. So wurde Westfriesland Teil der Niederlande, und Ostfriesland wurde von Preußen annektiert. Der Erhalt der friesischen Kultur und Sprache in den verschiedenen Teilen ist daher sehr unterschiedlich ausgeprägt. Allen gemeinsam ist jedoch das Erbe einer demokratischen und widerständigen Kultur, welche in Teilen bis heute fortbesteht. So bestehen noch immer friesische Organisationen und Institutionen in allen Frieslanden zu vielen Bereichen des Lebens und der Kultur, welche sich im „Ynterfryske Rie“ („Interfriesischen Rat“) zusammenfinden.

Ausstellung im Fries Museum

Friesischer Widerstand während des Nationalsozialismus

Wir sind in Leeuwarden, der Hauptstadt von Fryslân (Westfriesland). Hier befindet sich das Fries Museum: Ein Museum über friesische Geschichte, Kultur und – Widerstand. Auf dem Museumsplatz ist heute Markt; überall ist die friesische Flagge zu sehen. Ein kurzer, heftiger Regenschauer bringt uns ins Museum. Für so eine kleine Stadt ist es ein Museum von beachtlicher Größe. Mehrere Stockwerke mit verschiedenen Ausstellungen finden darin Platz. Im zweiten Stock befindet sich die Dauerausstellung „fries verzetsmuseum“ („friesisches Widerstandsmuseum“). Dort finden wir erste Puzzleteile der westfriesischen Widerstandsgeschichte im Nationalsozialismus.

Die Niederlande unter deutscher Besatzung

Am 10. April 1940 kam es zum Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande, welche fünf Tage später kapitulierte. Unmittelbar nach der Besatzung fingen die ersten Repressionen gegenüber der jüdischen Bevölkerung an. Immer wieder gab es Protest aus der Bevölkerung gegen diese Maßnahmen, so zum Beispiel nach der willkürlichen Verhaftung von etwa 400 jüdischen Männern Anfang des Jahres 1941. In zahlreichen Städten kam es zu Streiks, in Amsterdam legten Tausende die Arbeit nieder. Die Proteste wurden jedoch gewaltsam niedergeschlagen, es gab Tote und viele Verhaftungen. Im Verborgenen entstanden die ersten Widerstandsorganisationen.

Eine Druckerei der Widerständigen

Der Widerstand in Fryslân umfasste verschiedene Formen von Aktivitäten: So gab es organisierte Überfälle, um im großen Stil Lebensmittelmarken zu erbeuten, mit denen anschließend Geflüchtete, Untergetauchte und Widerstandskämpfer:innen versorgt werden konnten; der Widerstand betrieb eigene Druckereien, um Flugschriften gegen die Besatzung zu verbreiten und die Moral zu stärken. In einem Fall wurde der deutsche Sicherheitsdienst (SD) durch manipulierte Geräte abgehört – so konnten viele Widerstandskämpfer:innen frühzeitig vor Verhaftung gewarnt werden. Im Museum wird aber vor allem eine Geschichte dargestellt: Eine Befreiungsaktion im Gefängnis von Leeuwarden – in den Niederlanden bekannt als „de Overval“ („der Überfall“).

Gefälschter Ausweis

„Am 8. Dezember 1944 führte der friesische Widerstand einen historischen Angriff auf das Gefängnis in Leeuwarden durch. Unter der Führung der friesischen „Knokploegen“ („Schlägertruppen“), dem bewaffneten Zweig des Widerstands, wurden fünfzig Widerstandskämpfer aus dem Gefängnis befreit.“

Ohne auch nur einen Schuss abzufeuern, konnten alle Beteiligten fliehen. Trotz vermehrter Kontrollen und Durchsuchungen konnte niemand gefunden und verhaftet werden. Diese in die Geschichte eingegangene Befreiungsaktion lässt bereits erahnen, wie gut der Widerstand in Fryslân organisiert gewesen sein muss.

291 Namen

Im Museum erfahren wir die Namen der 291 gefallenen Widerstandskämpfer – davon eine Frau: Cornelia Johanna van den Berg. Sie war Chefkurierin der „Landelijk Organisatie voor Hulp aan Onderduikers“ („Nationale Organisation zur Unterstützung von Untergetauchten“) in Fryslân und wurde 1944 durch Verrat vom SD verhaftet. Am 8. September 1944 wurde sie dann in der Nähe von Assen erschossen. Alles, was bekannt ist über die gefallenen Widerstandskämpfer, wurde recherchiert und zusammengetragen. In einer Datenbank können wir die Geschichten nachlesen. Ein Denkmal erinnert an die Gefallenen des Widerstands während der Besatzung.

Denkmal der Gefallenen

Der Widerstand in Fryslân wuchs über die Jahre beständig an und war zunehmend besser organisiert. Gegen Ende des Krieges gab es allein in Fryslân etwa 3.000 bewaffnete Widerstandskämpfer:innen. Insbesondere der April-Mai-Streik befeuerte den Widerstand: Nach der Niederlage in Stalingrad gaben die Nazis bekannt, alle ehemaligen niederländischen Militärs zu Arbeitseinsätzen für das Deutsche Reich einzuziehen. Die Menschen legten daraufhin ihre Arbeit nieder, in Fryslân vernichteten friesische Bäuer:innen hunderttausende Liter Milch. Die Reaktion blieb nicht lange aus: Die Nazis griffen hart durch und es gab hunderte Tote und Schwerverletzte. Nach diesen Ereignissen gaben die Nazis ihre Propagandabemühungen in den Niederlanden gänzlich auf und der Widerstand bekam großen Zulauf.

Offene Fragen

Vieles erfahren wir in dem Fries Museum aber auch nicht. Obwohl die Ausstellung den Titel „Widerstandsmuseum“ trägt, ist nur einer von fünf Räumen dem friesischen Widerstand gewidmet. Wir erfahren nicht, wie sich die Menschen organisierten. Auch die Frage nach dem Ausgangspunkt des Widerstands bleibt unbeantwortet. Spielte die friesische Identität eine Rolle im Widerstand? Oder einte in den besetzten Niederlanden vor allem der Antifaschismus? Gab es eigene Ideen, für die gekämpft wurde? Und wie haben es die Frauen geschafft, dass nur eine von ihnen – durch Verrat – gefallen ist?

Dennoch fällt auf, dass die Gedenkkultur unbefangener ist als in Deutschland. Allein, dass alle Namen und Geschichten der Gefallenen bekannt sind, ist hierzulande keine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus steht an allen Gräbern der Widerstandskämpfer:innen ein Denkmal, welches ihren Widerstand ehrt und sichtbar macht: „Gefallen im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Sklaverei, damit wir über Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit wachen.“

„Gefallen im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Sklaverei, damit wir über Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit wachen.“

Und so kehren wir zurück ins helle Tageslicht des Marktplatzes, zurück in die Gegenwart. Der Wind nimmt uns wieder in Empfang, mittlerweile scheint die Sonne. Wir sind beeindruckt und bewegt von der Solidarität und dem Zusammenhalt der Menschen und dem Wissen, dass diese Kultur der „friesischen Freiheit“ bis heute fortbesteht. Die offenen Fragen nehmen wir mit. Es wird sicherlich nicht der letzte Besuch in Fryslân sein.


Geschichte & Widerstand ist Teil der Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK), in der verschiedene Kommissionen themenbezogen arbeiten.