Auf Frau Holles Spuren

Die Initiative Geschichte & Widerstand hat sich auf eine Wanderung zum Hohen Meißner begeben, um sich mit der mit ihm verbundenen Geschichte zu beschäftigen. Unter anderem wurden Orte besucht, die zum alten Kult der Göttin Holle gehören.

Die Initiative Geschichte & Widerstand hat vergangenen Samstag dazu eingeladen, gemeinsam auf den Hohen Meißner in Nordhessen zu wandern und sich mit der mit ihm verbundenen Geschichte zu beschäftigen. Es wurden Orte besucht, die zum alten Kult der Göttin Holle gehören, auch fand ein Austausch über Geschichtsforschung statt. Außerdem ging es um die deutschen Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts. Eine Teilnehmerin berichtet über die Inhalte und den gemeinsamen Tag.

Wir trafen uns am Frau-Holle-Teich. Eine unerwartet große Runde, aus über fünf verschiedenen Städten. Viele kannten sich von gemeinsamen Arbeiten, einige sahen sich das erste Mal. Begonnen wurde mit einer Runde, in der jede:r sich vorstellte und ihre:seine erste Assoziation mit Geschichte nannte. Die Antworten reichten von „Widerstand“ über „meine Großmutter“ bis zu „Nazis“.

Wir erkundeten den Ort, an dem wir uns da getroffen hatten. Auf der Wiese stand ein zierlicher Maibaum, an dem wir eine alte Frau trafen, die uns fröhlich berichtete, sie haben ihn dort mit einer Gruppe aufgestellt und sei überrascht, dass er noch immer stehe. Eine junge Frau neben ihr erzählt lachend, dass es gar nicht so einfach gewesen war, das mit dem Drunter und Drüber (die Bänder zu flechten) hinzubekommen. Die alte Frau lädt uns ein, doch mal im Holle-Labyrinth um die Ecke vorbeizukommen, in dem sie mit einer Freundin an jedem ersten Sonntag im Monat um 16 Uhr, und wirklich immer, egal welches Wetter, eine Veranstaltung organisiert.

„Einfach so, kostenfrei und so weiter“, sagte sie. Wir stellen fest, dass es an vielen Orten Menschen gibt, oft Frauen, die sich mit ihrer lokalen Geschichte befassen und zu denen wir mehr Kontakt suchen sollten, um von ihnen zu lernen.

Neben dem Maibaum steht eine große Informationstafel zur weltberühmten, geheimnisvollen Frau Holle. „Ich habe die Infos zu Frau Holle noch nie so gut zusammengetragen gesehen“, sagt eine der Teilnehmerinnen. Tatsächlich findet sich auf der Tafel nicht nur eine patriarchale Erzählung, sondern auch Holles Ursprung als „regionale Verkörperung einer uralten Schöpfergöttin“. „Noch bis weit ins Mittelalter (15. Jahrhundert) wurde Frau Holle als die Große Göttin verehrt“, kann man dort lesen.

Gegenüber der Tafel liegt der Frau-Holle-Teich, dessen Wasser vor lauter Schilf kaum zu sehen ist. An einem Ende steht eine Holzfigur, die die Göttin Holle darstellen soll. Der Teich befindet sich auf der Ostseite des Hohen Meißners. „In der Mythologie der Frühzeit symbolisiert die Ausrichtung eines Ortes nach Osten Erneuerung und Wiedergeburt. Der ‚Frau-Holle-Teich‘ gilt somit nicht nur als Zugang zum unterirdischen Reich der Frau Holle, sondern zugleich als Ort der Wiedergeburt verstorbener Seelen“, lesen wir auf der Tafel. In einem ersten Input erzählt uns einer der Teilnehmer, dass in diesem See früher schwangere Frauen gebadet haben, um eine Seele für ihr Kind zu empfangen. „Dieses Ritual war ein Teil des Lebens, ein Teil der Gesellschaft.“

Die Statue am Holle-Teich. wurde von Viktor Donhauser aus einem Ulmenstamm geschaffen und 2004 aufgestellt.


Als christlich sozialisierte Städterin kann ich mir diese Verflochtenheit von Glauben, Natur und Gesellschaft kaum vorstellen. Es fällt mir schwer die Frauen vor meinem geistigen Auge ins Wasser steigen zu sehen. Wie muss es sich angefühlt haben, auf diesen Teich zuzugehen und darin einen Zugang zum Reich von Frau Holle zu sehen? Im Wasser zu baden und eine Seele von der Großen Göttin aufzunehmen?

An seinem Fuße sitzend erzählt uns der gleiche Teilnehmer etwas über den Hohen Meißner, der einmal Weißer oder Wissener hieß. Möglicherweise, weil er wegen seiner Höhe am längsten von weißem Schnee bedeckt war. Wir spekulieren, welche Rolle ein so hoher Berg gespielt haben mag, welche Bedeutung er für die umliegenden Stämme wohl hatte. Er könnte als heiliger Ort für Zeremonien und Rituale genutzt worden sein, als Treffpunkt für Zusammenkünfte und Austausch. Er wurde sicherlich zur Orientierung und als Aussichtspunkt genutzt und vielleicht für andere

praktische Zwecke, aufgrund der anderen Temperatur, etc. Vielleicht brachte es geopolitische Vorteile mit sich, oben auf dem Berg zu sein. Hohe Punkte wurden auch genutzt, um mit Feuer über weite Distanzen zu kommunizieren.

Der Teilnehmer erzählt, dass der Berg lange als der „Berg von Frau Holle“ galt. Ab Ende des 16. Jahrhunderts dann wurde an ihm Bergbau betrieben und Kohle abgebaut. Die Arbeit bewegte die Menschen dazu auch auf dem Berg zu leben, sodass es zu dieser Zeit einige Siedlungen gab, an deren Ruinen uns unsere spätere Wanderung noch vorbeiführen würde. Im 20. Jahrhundert nutzte die deutsche Jugendbewegung, die sich unter dem Motto „Zurück zur Natur!“ aus den industrialisierten Städten zurückziehen wollte, den damals noch Meißner genannten Berg, als Ort für große Treffen. Nach den ersten großen Freideutschen Jugendtagen vom 11. bis 12. Oktober 1913 bekam der Meißner die Beschreibung „Hohe“ dazu. Seitdem heißt er „Hoher Meißner“.

Sich so über natürliche Orte der Geschichte der Gesellschaft anzunähern, gibt der Forschung und Weitergabe eine lebendigere Form. Sie ermöglicht es uns der Vorstellung etwas näher zu kommen, wie das Leben der Menschen gewesen sein könnte.

Über die Christianisierung, mit der auch die Verdrängung der Göttin Holle stattfindet, erzählt der Freund uns am Beispiel seiner Oma, die, wie viele Frauen, vor allem über Maria einen Bezug zur Kirche hat. Die Missionare versuchten gezielt den Volksglauben „einzufangen“, zum Beispiel, indem sie verehrte Gottheiten zu christlichen Heiligen umdichteten und so Rollen schafften, mit denen sich die Menschen identifizieren konnten. Er erzählt, dass das Christentum vorrangig in den Städten, in bestimmten höheren/mächtigeren Klassen, aber von vielen Bäuer:innen nur oberflächlich angenommen wurde, dass darunter aber das mythologische Denken, der Bezug zu weiblichen und nicht-binären Gottheiten und die Naturverbundenheit noch sehr viel länger bestand. Zwar wurden sie bekämpft, sind aber bis heute noch zu finden.

Wir sprachen noch über die Entwicklung der Initiative Geschichte & Widerstand und die Bedeutung von Geschichte in der kurdischen Freiheitsbewegung und deutschen Linken, und gingen dann los.

Wir laufen schmale Wege, umgeben von grünem Moos, Bäumen, Büschen und Blüten. Der Himmel ist grau. Während es beim Sitzen fast kalt war, fangen wir beim Laufen an zu schwitzen. Ab und zu halten wir an einer Info-Tafel an, lesen sie einander vor und gehen weiter. Dabei durchmischt sich die Gruppe immer wieder, so dass die Gesprächspartner:innen wechseln.


Als wir auf einen Pfad mit Zitaten kommen, gibt der Freund uns eine Frage, um sie beim Laufen zu besprechen: „Was bedeutet Heimat und zu Hause für dich? Fühlst du dich verwurzelt?“ Der Mensch, mit dem ich spreche, ist auf dem Dorf aufgewachsen und war immer gerne im Wald, aber trotzdem mit den Orten im Dorf, wie der Sporthalle, mehr verbunden. In der Familie wurde dem Wald keine große Bedeutung gegeben. Auf die Frage hin, ob der Wald Kraft gibt, kam eine zwiegespaltene Reaktion. In der Natur zu sein ist erdend, aber in den Wäldern heute sei eine Tragödie zu sehen.

Beim Laufen sind wir so auf die Gespräche fokussiert, dass die meisten eine alte Steinformation, vielleicht die Überreste eines Hauses, übersehen. An unserem ersten Rastplatz angekommen, lassen wir uns nieder, packen Proviant aus, reichen es herum. Dabei erklärt uns ein Freund einige Herangehensweisen bei der Erforschung widerständiger Geschichte in der kurdischen Freiheitsbewegung, und wie das die Grundlage der Initiative Geschichte & Widerstand bildet. Nachdem alle Fragen beantwortet sind, laufen wir weiter.

Ab und zu kommt die Sonne heraus, dann wieder ziehen sich die Wolken zusammen. Von der Erhöhung können wir eine dicke Regenfront im Tal betrachten. „Die regnet vor'm Berg ab“, sagt wer. „Aber sind wir vor'm oder hinter'm Berg?“, fragt wer anders.

Für den nächsten Input versammeln wir uns unter dichten Bäumen. Der Schauer geht leicht über uns hinweg, ohne dass wir groß nass werden. Hier erzählt uns eine Person, die bei der Initiative Geschichte & Widerstand aktiv ist, etwas über die Jugendbewegungen in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die erste Welle war angetrieben von der Kritik des Industrie-Stadt-Lebens und dem Wunsch nach neuen Verbindungen zur Natur. Als „Wandervögel“ schlossen sich Jugendliche in Gruppen zusammen und organisierten Fahrten in die Natur. Die Pfadfinder entstanden mit der Idee sich auf das Leben in den Kolonien vorzubereiten. Beim Hohen-Meißner-Treffen 1913 kamen mehrere Tausend Jugendliche aus verschiedenen Bewegungen und Gruppen zusammen. Das Treffen fand unter anderem als Gegenveranstaltung zur 100-jährigen Feier der Leipziger Völkerschlacht statt. Alle befürchteten den nahenden Krieg und wollten gegen ihn Widerstand leisten. Es gab politische Konflikte und keine klare Analyse des Feindes. Das einzig konkrete, worauf sie sich einigten, war ein Nikotin- und Alkoholverbot auf all ihren Treffen. Letztlich zogen viele der Jugendlichen trotzdem in den Krieg und fielen auch.

Die zweite Welle war vor allem von der Bündischen Jugend getragen, die eine Fusion aus Wandervögeln und Pfadfindern war. Sie war strikter organisiert, es gab Rädelsführer und das Lebensbundprinzip - dass die älteren Mitglieder die Jüngeren mitversorgen. Die Bewegung war recht unpolitisch und desillusioniert vom Krieg. Politischer wurde es mit der Gründung der Naturfreunde, 1926. Jugendorganisationen waren zu dieser Zeit verboten, die Ausnahme stellten Parteijugenden dar. Die Naturfreunde entstanden aus der sozialdemokratischen Partei heraus, wollten aber autonom sein als Jugend und keine Abhängigkeit von den Älteren.

Etwa 3.000 Jugendliche unterschiedlichster Organisationen, Verbände und Institutionen sollen sich auf dem Hohen Meißner – „König der hessischen Berge“ – am Wochenende des 11. und 12. Oktober 1913 zusammengefunden haben, um dort den Ersten Freideutschen Jugendtag zu feiern.


Aus der Freischar, einer der drei großen Organisationen der Zeit, bildete sich die Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929 heraus. Sie hatte politische Ansprüche und Ziele und zog Parallelen zwischen ihren Analysen der Gesellschaft und Beobachtungen der Natur. Sie erkannte die Gefahr des aufkommenden Faschismus und bereitete sich auf den Widerstand mental und organisatorisch vor. Der Ton ihrer Losungen wirkt befremdlich, aber die Inhalte sind unseren beeindruckend ähnlich. Vor allem die Betonung der Kollektivität beziehungsweise der Notwendigkeit, Egoismus, Geiz und Neid zu bekämpfen. Die Gruppe sollte auf gemeinsamen Fahrten in der Natur gestärkt werden, auf denen Selbstbildung in verschiedensten Bereichen stattfand. Ihre Strategie war es, in die HJ einzutreten mit dem Ziel, Personen an wichtigen Stellen zu positionieren und so die Jugend von innen heraus zu beeinflussen und dazu zu bringen, sich gegen den Faschismus zu stellen. Leider wurden schon im ersten Jahr viele von ihnen aufgedeckt, deportiert und auch umgebracht.

Die andere bedeutende Kraft dieser Zeit, waren die sogenannten Edelweißpiraten. Dies waren Jugendliche, die in kleinen, unabhängigen Gruppen auf verschiedenste Weise Widerstand leisteten und damit so erfolgreich waren, dass sie von der SA/SS als die größte Bedrohung wahrgenommen wurden. Ihr Ziel war ein selbstbestimmtes Leben in Verbundenheit mit der Natur und den Freund:innen. Sie wollten sich dabei aber nicht auf die nach innen gerichtete Wärme und Stimmung fokussieren, sondern nach außen auf die Gesellschaft wirken. Sie schlugen sich mit HJlern in den Straßen, unterstützten Menschen auf der Flucht an den Grenzen und zogen sich zur Erholung vom faschistischen Alltag und der klandestinen Arbeit ab und zu in Wälder oder alte Stollen zurück, wo sie ihre widerständigen Lieder singen und ihre Jugend-Kultur leben konnten. Dabei wurden sie auch immer wieder von Menschen aus der Gesellschaft unterstützt, die sie bei sich zu Hause versteckten. Die Familien der Jugendlichen waren häufig auch widerständig und die Jugendlichen behielten einen Bezug zu ihnen.

Als dritte Welle ließe sich der Wiederaufbau von Jugendorganisationen, sowie die Anti-AKW-Bewegung rund um die 68er sehen. Zum Abschluss singen wir ein Lied der Bündischen Jugend, „Über meiner Heimat Frühling“, und laufen dann weiter. Nach einem leckeren und vielfältigen Picknick kommen wir zur letzten Station unserer Wanderung, der Kitzhöhle auf der Westseite des Hohen Meißners. Einer Mythe zufolge verbringen die Priesterinnen der Göttin Holle den Winter in Katzengestalt in dieser Höhle und kommen im Frühling wieder hervor, um alles zum Blühen und Wachsen zu bringen.

An dieser Stelle lassen wir uns nieder und lauschen einer Geschichte über die Göttin Holle, geschrieben von Heide Göttner-Abendroth. Danach sprechen wir über alternative Formen der Geschichtsforschung. Es kommen viele Ideen zusammen. Zum Beispiel, dass an sehr alten Bäumen frühere Versammlungsorte festgestellt werden oder dass alte Haselnusssträucher auf frühere Wege hinweisen können. Auch, dass alte Orts-, Stadt-, Gewässer- oder Waldnamen etwas über die Geschichte verraten. Oder, dass in manchen Regionen das Land noch in viele kleine Flurstücke aufgeteilt ist, wie sie früher den Bäuer:innen zustanden, um sich selbst zu versorgen. Es wurde erzählt, dass es in vielen Dörfern Menschen gibt, die die Verantwortung übernommen haben, die Dorfgeschichte aufzuschreiben und von Generation zu Generation weiterzugeben. Dass sie manchmal kleine Museen bei sich zu Hause haben, wo sie Gegenstände aus den anderen Häusern, aus früheren Zeiten aufbewahren. Es wurde gesagt, dass die Geschichte auch in den Gefühlen von Menschen eingeschrieben ist, in unseren Körpern, unserer Wahrnehmung. Diese und weitere Gedanken wurden zusammengetragen.

Wir beendeten die Wanderung mit einer Abschlussrunde, in der viele teilten, dass sie das Format sehr schön fanden. „Auf diese Art, habe ich das Gefühl, konnte ich viel mehr aufnehmen und mitnehmen“, sagte eine. „Ich fühle mich jetzt viel verbundener mit der Region, verwurzelter in meiner Heimat“, sagte eine andere Person. Es gab auch den Wunsch noch mehr in die Tiefe zu gehen, da die Inputs eher kurzgehalten waren.

Allgemein gingen wir gestärkt, miteinander und mit der Region und unserer Geschichte verbunden, aus dem Tag.