Sabri Ok hat sich als Mitglied des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) im Sender Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Im zweiten Teil des Interviews geht es um die geplanten Besuche des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan im Irak und den USA, den Machtverlust der AKP nach den Kommunalwahlen in der Türkei und die verzweifelte Heuchelei, mit der die Regierung den Gaza-Krieg auszunutzen versucht.
Medienberichten zufolge wird Erdogan gegen Ende April in den Irak reisen. US-Präsident Joe Biden wird sich dann im Mai mit ihm treffen. Bei diesen Besuchen scheint es um die PKK zu gehen. Was bezweckt Erdogan mit diesen Reisen, und glauben Sie, dass er seine Ziele erreichen wird?
Faschisten und andere Machthaber haben nur ihre eigenen Interessen im Sinn. Sie behaupten, dass sie immer die Kontrolle haben werden, und sie wollen, dass alle das glauben. Solange die Machthaber in der Türkei ihre Zukunft von der Vernichtung des kurdischen Volkes abhängig machen, wird der Krieg weitergehen. Alles, was sie tun, ist nach Strategien und Mitteln zu suchen, um dieses Ziel zu erreichen. Während seines Besuchs im Irak wird Erdogan Druck auf die irakische Regierung ausüben und so viele Zugeständnisse wie möglich machen, um die PKK zu Fall zu bringen. Erdogan und die AKP sind jedoch Pragmatiker und Lügner; sie sagen das eine und tun das andere. Auch ideologisch stellen sie ein Risiko dar. Sie hoffen, in der Region als neues Osmanisches Reich zu expandieren, das ist ihr Ziel im Nahen und Mittleren Osten. Erdogan ist der Meinung, dass der Irak immer noch den Osmanen gehört. So schändlich das auch ist, so geht er mit dem Irak um. Natürlich sieht der Irak diese Realität. Bei allem Übel im Nahen Osten und insbesondere im Irak, haben Erdogan und der türkische Staat ihre Hand im Spiel. Von Kerkûk und Mosul bis Libyen will Erdogan Konflikte schaffen und das dabei entstehende Chaos ausnutzen. Das ist seine Politik.
Wir wollen glauben, dass der Irak sich nicht zum Spielball des türkischen Staates machen wird. Wenn sie auf Erdogans Spiel hereinfallen, wird das nicht gut sein. Die PKK hat den Gesetzen und und insbesondere den Menschen im Irak keinen Schaden zugefügt. Im Gegenteil, die PKK hat eine historische Rolle im Kampf gegen den IS gespielt. Ohne die PKK wären Şengal, Mosul, Mexmûr, Kerkûk und Hewlêr [Erbil] an den IS gefallen. Der Irak kennt diese Tatsache. Der Irak kennt auch die Stärke der PKK und die Art ihres Kampfes sehr gut. Deshalb sollte der Irak eine richtige und rationalere Politik in dieser Frage entwickeln. Gleichzeitig muss er sich aber auch der Realität des türkischen Staates bewusst sein.
Die türkische Armee ist 40 Kilometer in irakisches Gebiet eingedrungen, hat Dutzende von Militärbasen errichtet und Tausende Soldaten dort stationiert. Ein unabhängiger Staat würde das nicht akzeptieren. Der irakische Staat sollte die PKK nicht bekämpfen, sondern mit ihr zusammenarbeiten, um den türkischen Staat zu stoppen. Bagdads Aufgabe wäre es, auf internationaler Ebene etwas gegen den türkischen Staat zu unternehmen. In diesem Punkt ist der Irak schwach.
Zum Beispiel könnten die irakischen Medien mehr über die türkische Invasion berichten, und die Gesellschaft sollte aufstehen. Doch sie schweigen. Dennoch hoffen wir, dass der irakische Staat nicht zum Partner des türkischen Staates gegen die PKK wird. Wir sind nicht gegen wirtschaftliche, kommerzielle und politische Beziehungen zwischen Staaten, aber die PKK und das kurdische Volk werden nicht akzeptieren, dass der irakische Staat Teil der türkischen Machenschaften und Kriege ist. Die vom türkischen Staat im Irak, in Syrien und im Nahen Osten im Allgemeinen geschaffenen Probleme sind offensichtlich. Die Bemühungen der AKP gegen die PKK müssen vereitelt werden.
Nach seinem Besuch im Irak wird Erdogan in die USA reisen. Nachdem Biden US-Präsident geworden war, wollte Erdogan unbedingt das Weiße Haus besuchen. Aber Biden wollte sich bis jetzt nicht mit ihm treffen, er hat Erdogan nicht akzeptiert. Bis heute hat Erdogan keinen Termin bekommen. Man muss auch den Grund verstehen, warum die USA den Besuch jetzt akzeptiert haben. Viele Themen wie der Ukraine-Russland-Krieg, die Situation im Nahen Osten und Syrien werden besprochen werden. Auch die Frage der F-35-Kampfjets stand immer auf der Tagesordnung des türkischen Staates.
Die USA stärken dem türkischen Staat und Erdogan den Rücken, wenn es mit ihren eigenen Interessen übereinstimmt. Leider werden sie dem türkischen Staat in der Kurdistan-Frage helfen, und Erdogan wird alle notwendigen Zugeständnisse machen. Erdogans Ziel ist es, sich eine Chance im Krieg gegen das kurdische Volk zu verschaffen. Er will die USA dazu bringen, seine Pläne für einen Angriff auf Südkurdistan und den Irak zu akzeptieren und zu genehmigen. Der gesamte irakische Luftraum steht unter der Kontrolle der USA. Ohne die USA, ohne ihre Zustimmung, kann der türkische Staat den Irak und Südkurdistan nicht bombardieren. Erdogans Einfluss in der Türkei ist jedoch nicht mehr derselbe wie vor den Wahlen am 31. März. Das gilt auch für die Außenpolitik. Die Wahlen werden sich auf Erdogans Position und die Verhandlungen auswirken. Erdogan tut alles, um Krieg gegen das kurdische Volk zu führen. Die USA sollten Erdogans Forderungen nicht unterstützen. Wenn sie es aber tun, bedeutet das, dass sie heute auf der gleichen Linie beharren wie vor 25 Jahren, als auf ihre Initiative und Entscheidung hin das internationale Komplott gegen die kurdische Freiheitsbewegung stattfand.
Sie haben erwähnt, dass die Situation für Erdogan nicht mehr so günstig ist wie vor den Wahlen, sowohl im Inland als auch international. Wie wird sich Ihrer Meinung nach der Absturz der AKP auf die türkische Diplomatie auswirken?
Zwischenstaatliche Beziehungen basieren auf gegenseitigen Vorteilen. Die Regierungen beeinflussen diese Beziehungen in positiver oder negativer Weise. Viele Staaten und Mächte sind nicht glücklich mit der AKP und Erdogan. Aber sie tun, was ihre Interessen erfordern. Nach den Wahlen vom 31. März wurde Erdogan in den Medien in Europa und im Nahen Osten als entmachtet bezeichnet. Er hat nicht mehr die Macht, die er früher hatte. Das wird sich auf die Verhandlungen, die Diplomatie und die Gespräche auswirken, aber es wird nicht der entscheidende Faktor sein. Früher oder später wird die AKP nicht mehr an der Macht sein, und vielleicht wird sie sogar früher als erwartet besiegt werden. Der entscheidende Faktor ist jedoch, dass die Staaten kurz- und langfristig politische, strategische, geopolitische und vielschichtige Interessen verfolgen.
Die AKP macht sich den palästinensischen Kampf zunutze und biegt ihn so zurecht, dass er ihren Bedürfnissen entspricht. Erdogans Heuchelei im Hamas-Israel-Konflikt wurde aufgedeckt, als sich herausstellte, dass die Türkei Waffen und Munition geliefert hat, die in Gaza gegen das palästinensische Volk eingesetzt werden. Wie beurteilen Sie diese Situation?
Im Nahen Osten gibt es zwei grundlegende Fragen: Die palästinensische Frage und die kurdische Frage. Solange die Probleme des kurdischen und des palästinensischen Volkes nicht demokratisch gelöst werden, kann sich der Nahe Osten nicht demokratisieren. Das ist eine Tatsache. Welchen Interessen dieser Krieg dient, ist eine andere Diskussion. Erdogan ist ein Pragmatiker, er ist prinzipienlos und unmoralisch. Er tut alles, was seinen Interessen dient. Die AKP tut so, als ob sie Tag und Nacht für Palästina eintritt und die Träume des palästinensischen Volkes erfüllen will, aber dieselbe AKP und Erdogan haben den Handel mit Israel in den letzten sechs Monaten verdoppelt. Das ist Heuchelei. Sie vergießen Krokodilstränen. Auf der einen Seite versuchen sie, die Öffentlichkeit zu täuschen und zu manipulieren, auf der anderen Seite haben sie ihren Handel um das Doppelte gesteigert. Lügen haben irgendwann ein Ende, ihre Machenschaften sind aufgedeckt worden. Sie befinden sich jetzt in einer verzweifelten Lage.
Necmettin Erbakans Sohn Fatih, der Vorsitzende der Neuen Wohlfahrtspartei, hat eine strategisch kluge Politik verfolgt und Erdogan an seinem schwächsten Punkt erwischt, als er auf diese Waffengeschäfte aufmerksam machte und sagte: „Wenn Sie ehrlich sind, wenn Sie wahrhaftig sind, wenn Sie ein Muslim sind, sollten Sie diesen Handel aufgeben." Er überraschte Erdogan. Erdogan war verblüfft. In der Vergangenheit gab es Politiker, die wie Özal, Demirel, Erbakan und Ecevit gewisse Grundsätze hatten. Wenn man sich ihre Persönlichkeiten, ihr Leben und ihre Familien ansah, konnte man erkennen, dass sie Prinzipien hatten. Aber Erdogan hat solche Wertmaßstäbe nicht. Sein Sohn, seine Tochter, sein Schwiegersohn, seine Verwandten - sie alle sind irgendwie im Staat, und sie alle beuten die Ressourcen des Staates aus. Sie täuschen die Gesellschaft der Türkei mit Begriffen wie „Vaterland" und „Nation", und ihr Blut wird in den Bergen Kurdistans vergossen. Leider ist sich die Gesellschaft dessen nicht bewusst, aber das ändert sich allmählich. Irgendwann ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Überall auf der Welt ist es so, dass Regierungen aufsteigen und entweder explodieren oder so schnell fallen, wie sie gekommen sind. Auch die AKP-Regierung hat sich an die Spitze geschwungen. Sie wird kein Heilmittel finden, sie wird auf dieselbe Weise fallen.