Sabri Ok hat sich als Mitglied des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) im Sender Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Es folgen Ausschnitte aus dem ausführlichen Interview.
Der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der Freiheitsguerilla Kurdistans geht weiter. Die türkische Regierung versucht weiterhin mit allen Mitteln, dem kurdischen Volk zu schaden. Ende 2023 und Anfang 2024 führte die Guerilla mehrere erfolgreiche Operationen durch. Jüngste Erklärungen deuten darauf hin, dass die türkische Regierung umfangreichere Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete vorbereitet. Wie ist der aktuelle Stand des Krieges, und mit welcher Art von Angriffen rechnen Sie?
Das ist ein wichtiges Thema, über das die HPG kontinuierlich informieren. In den letzten sieben bis acht Monaten hat die Guerilla die Initiative ergriffen und mehrere revolutionäre Operationen mit großer Wirkung durchgeführt. Mit ihrer aufopferungsvollen Vorgehensweise hat die Guerilla sehr bedeutende Ergebnisse gegen den türkischen Staat erzielt. Seine Technik und seine Truppen haben in den Medya-Verteidigungsgebieten einen schweren Schlag erlitten. Sie mussten sich aus vielen Positionen zurückziehen und wurden an mehreren Stellen vollständig besiegt. Der türkische Staat plant jedoch einen groß angelegten Krieg, darauf beharrt er. Sie sagen, dass sie den Krieg, die Verleugnung des kurdischen Volkes, die Folter und die Isolationshaft auf Imrali fortsetzen wollen. Das ist die Mentalität des türkischen Staates und der AKP. Es ist schwer zu sagen, wie weit sie gehen werden, aber wir wissen, dass wir einen Krieg vor uns haben, einen Krieg, der noch härter sein wird, als er ohnehin schon ist. Der türkische Staat bereitet sich darauf vor und setzt alle seine Mittel ein. Die Guerilla ist immer bereit. Es wird ein sehr harter und brutaler Kampf sein. Bisher ist es ihnen nicht gelungen, gegen die Guerilla etwas zu erreichen. Die Kinder des kurdischen Volkes leisten heldenhaft und aufopferungsvoll Widerstand. Sie haben die Angriffe der türkischen Armee gebrochen, aber der Krieg geht weiter.
Die Guerilla konnte trotz unglaublich schwieriger Umstände positive Ergebnisse in ihrem Kampf gegen den Feind erzielen. Daran sollte sich unser Volk orientieren und seine eigenen Aufgaben entsprechend erfüllen. Wir befinden uns in einem Prozess, in dem die Willenskraft des türkischen Staates zerbrechen wird, deshalb greift er verstärkt an. Sie sind sich der Gefahren bewusst, denen sie ausgesetzt sind; wenn ihr Wille gebrochen wird, wird ihr 100 Jahre altes System und ihre Mentalität besiegt werden. Um das zu verhindern, werden sie sich bis zum letzten Moment wehren. Sie werden alle ihre wirtschaftlichen und politischen Mittel mobilisieren, was auch immer das bedeuten mag. Daher wird der Krieg noch größer werden, und die Folgen werden sehr entscheidend sein.
Die Situation ist nicht mehr dieselbe wie früher. Im Jahr 2024 wird sich die Zukunft der Türkei und der kurdischen Frage entscheiden. Wer sich besser vorbereitet und organisiert, wer entschlossener und enthusiastischer ist und taktisch und technisch versierter kämpft, wird den Sieg davontragen. Das sind Merkmale, die sowohl die Guerilla als auch unsere Bewegung aufweisen. Dass die Guerilla die Initiative im Krieg übernommen hat, ist das Ergebnis ihrer starken Motivation, Moral und Entschlossenheit sowie ihres technischen und taktischen Fortschritts.
Zu Newroz gab Heval Cemal [Murat Karayilan] gute Neuigkeiten bekannt, darüber wurde auch in den Medien berichtet. Nach 40 Jahren Kampf verfügt die Guerilla über ein Raketensystem zur Neutralisierung unbemannter Drohnen. Alle waren verblüfft. Der türkische Staat wollte seine Drohnen verkaufen und einen großen Markt erschaffen, aber die Welt ist nicht blind. Die Entwicklungen in diesem Krieg werden genau verfolgt. Die Welt weiß, dass die Guerilla bisher 15 Drohnen abgeschossen hat. Deshalb ist der türkische Staat so aufgeregt und sucht jetzt nach Möglichkeiten, den Krieg zu wenden.
Natürlich sollten wir nicht selbstgefällig sein. Selbstgefälligkeit ist eine schlechte Angewohnheit. Wir müssen an uns glauben, wir müssen die Tatsache wertschätzen, dass wir die Initiative ergriffen haben, aber wir müssen wissen, dass der türkische Staat und die AKP Widerstand leisten werden, sie werden alle ihre Mittel einsetzen und noch aggressiver angreifen. Wir sind bereit für eine intensivere Phase. Wie gesagt, die Initiative liegt in den Händen der Guerilla, sie hat 40 Jahre Kampferfahrung, sie hat das Paradigma von Rêber Apo, die Berge Kurdistans, das kurdische Volk und internationale Freundinnen und Freunde, die ihr zur Seite stehen. Das kurdische Volk und unsere Bewegung kämpfen seit über vierzig Jahren für eine gerechte Sache. Die PKK hat bei Null angefangen und ist bis heute weit gekommen. Egal wie sehr der türkische Staat und die AKP angreifen, dieser Prozess wird mit dem Erfolg der Guerilla enden. Es wird nicht einfach sein, jeden Tag wird ein hoher Preis gezahlt. Aber mit diesem Geist, dieser Organisation, diesem Kampf und dieser Entschlossenheit wird die Guerilla erfolgreich sein.
In Nordkurdistan und der Türkei stehen die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 31. März auf der Tagesordnung. Welche Botschaft hat das kurdische Volk bei diesen Wahlen vermittelt?
Es hat eine sehr wichtige Wahl stattgefunden. Das kurdische Volk hat zusammen mit demokratischen Kräften ein erfolgreiches Ergebnis erzielt. Wenn wir die demokratischen Kräfte bewerten, schließen wir das kurdische Volk und seinen Kampf ein; wenn wir das kurdische Volk bewerten, schließen wir die demokratischen Kräfte ein. Sie gehören zusammen, und gemeinsam haben sie bei den Wahlen wichtige Botschaften vermittelt. Was waren diese Botschaften? Erstens: Egal, wie sehr der türkische Besatzerstaat und die AKP mit allen Mitteln unterdrücken, egal, wie diktatorisch sie sind, ihre Macht ist zu Ende. Von nun an können sie nur noch Widerstand leisten; sie werden ihre Diktatur nicht mehr aufrechterhalten können wie bisher. Diese Botschaft wurde klar und deutlich vermittelt. Zweitens: Das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte werden trotz Unterdrückung, Massaker und Angriffe niemals kapitulieren, sie werden sich immer wieder erheben und ihren Kampf fortsetzen. Auch diese Botschaft wurde übermittelt.
In der Vergangenheit wurden in kurdischen Gemeinden staatliche Zwangsverwalter eingesetzt. Jetzt hat das kurdische Volk das System der Zwangsverwaltung besiegt, indem es seinen Willen demonstriert und klargestellt hat, dass es Widerstand leisten und seinen Willen durchsetzen wird. Es hat gezeigt, dass der Staat dieses Mal nicht so einfach Treuhänder ernennen kann wie zuvor. Am deutlichsten war es in Wan zu sehen. Der türkische Staat wollte dort die Stimmung testen. Wenn sein Plan erfolgreich gewesen wäre, hätte er überall nach und nach Treuhänder eingesetzt. Der Aufstand in Wan war sehr wichtig. Vor allem war wichtig, dass es ein gemeinsamer Kampf mit den demokratischen Kräfte in der Türkei war. Der türkische Staat ist ein Besatzungsstaat, und unser Volk und die demokratischen Kräfte müssen immer auf alles vorbereitet sein. Wenn der Staat erneut Treuhänder einsetzen will, wird ein härterer, radikalerer Aufstand notwendig sein. In diesem Sinne sollten wir nicht selbstzufrieden sein.
Alle reden jetzt von der CHP. Die CHP hat diesen Erfolg nicht allein erreicht. Es gibt Leute, die meinen, die Kurden seien unpolitisch, aber die kurdische Gesellschaft ist sehr politisch und bewusst. Bei dieser Wahl haben sie eine Strategie verfolgt, die viele überrascht hat. Sie sind strategisch an die Wahl herangegangen und haben die AKP zur Verliererin gemacht. Die meisten demokratischen Kräfte in der Türkei haben ebenfalls einen solchen Ansatz gewählt. Die CHP nutzte diesen Ansatz, um die AKP zu besiegen, was ihr auch gelang. Zum ersten Mal seit mehr als 40 Jahren ist die CHP wieder die stärkste Partei in der Türkei. Auf ihr lastet eine große Verantwortung. Was wird die CHP tun? Wird sie wieder so sein wie früher? Oder wird sie die Botschaft des kurdischen Volkes und der demokratischen Kräfte verstehen und sich entsprechend erneuern? Ich denke, das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte sollten Druck auf die CHP ausüben. Sie sollten die CHP nach ihrem Programm zur Demokratisierung der Türkei fragen. In diesem Zusammenhang steht auch die Herangehensweise der CHP an die kurdische Frage.
Bis jetzt war die CHP in der kurdischen Frage verschwiegen und feige. Doch gerade jetzt muss sie ihre Politik in dieser Frage offen darlegen. Wenn die CHP in diesen Punkten wahrhaftig, ehrlich und ernsthaft ist, wenn sie einen positiven Ansatz verfolgt, wird das Land zweifellos in einen wichtigen neuen Prozess eintreten. Aber wenn die CHP sich wiederholt, wenn sie sich wieder feige verhält, wenn sie keine radikale demokratische Haltung entwickelt, wird es schade um sie sein. Die Ereignisse in Wan und das Vorgehen der AKP bei den Wahlen haben gezeigt, dass die CHP-Basis offen für Demokratie ist. Diese Basis hat eine gewisse Haltung gegen Brutalität und die AKP-Herrschaft. Die CHP-Führung sollte dieser Realität Rechnung tragen und sich neu formieren.
Die Opposition ist zur ersten Partei in der Türkei geworden und die AKP/MHP ist auf den zweiten Platz zurückgefallen. Wie werden sich diese Ergebnisse auf die türkische Politik auswirken?
Die AKP ist zum ersten Mal seit ihrem Machtantritt auf den zweiten Platz zurückgefallen. Diese Degradierung ist von großer Bedeutung. Man sieht, dass die AKP aus der Fassung gerät und psychologisch mit dieser Situation nicht umgehen kann. Sie hat von allen Ressourcen des Landes und der Region profitiert. Die MHP hat sich in der gesamten Bürokratie etabliert; sie ist zum Staat geworden. Devlet Bahçeli und die AKP reden so, als ob ihnen der Staat und das Land gehören, und niemand macht sie verantwortlich, niemand stellt ihre Macht oder ihre Wahrheit in Frage. Gegen sie muss eine radikalere Haltung eingenommen und sie müssen bekämpft werden.
Ihre Wahlniederlage ist natürlich wichtig, weil damit ein Hindernis überwunden wurde. Viele Menschen in der Türkei und sogar auf internationaler politischen Ebene haben in Frage gestellt, ob es überhaupt möglich sei, dass die AKP und Erdogan verlieren könnten. Warum sollte es unmöglich oder sogar unwahrscheinlich sein? Die AKP hat alle Schandtaten begangen, alle Ressourcen des Landes in ihrem eigenen Interesse ausgebeutet und ihr eigenes Umfeld reich gemacht. Im Ergebnis hat sie die Türkei ruiniert, die Wirtschaft verwüstet, die Politik blockiert und die gesellschaftliche Psyche umgekrempelt. Hätte es eine echte, ernsthafte, radikale, demokratische Opposition gegeben, wäre die AKP schon längst nicht mehr an der Macht. Die AKP verliert die Grundlage ihrer Macht; wie lange sie sich noch halten kann, hängt vom Kampf gegen sie ab.
Ohne den Kampf des kurdischen Volkes und der PKK hätte die AKP weder Macht noch Willen verloren. Wie immer hätte sie die Öffentlichkeit mit einer künstlichen Agenda getäuscht und abgelenkt. Die AKP hat im Krieg gegen das kurdische Volk alles eingesetzt, was sie hatte, und dabei ihren eigenen Ruf zerstört, ihr eigenes Image und ihr Prestige entehrt. Dennoch beharrt sie auf diesem Krieg, und trotzdem geht ihr die Luft zum Atmen aus. Selbst die Basis, die früher für die AKP gestimmt hatte, hat sich von ihr abgewandt. Wenn die AKP auf der gleichen Mentalität beharrt und die Opposition ihre demokratische Rolle spielt, wird es mit der Regierungsmacht sehr bald vorbei sein.