Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat am 5. März mit einer hochrangigen Delegation Moskau besucht. Einige Tage später wurden vom russischen Staatsfernsehen Aufnahmen veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie die türkischen Gäste vor Putins Tür minutenlang warten mussten. Die Bilder zeigen, unter welchen Bedingungen der Besuch verlaufen ist. Offenbar hat Erdogan keine Karten von diplomatischem und politischem Wert mehr in der Hand.
Nach den insgesamt fünf Stunden und vierzig Minuten andauernden Gesprächen wurde eine aus drei Absätzen bestehende Erklärung veröffentlicht. In den Erdogan-nahen Medien wurde die Erklärung als „Sieg“ dargestellt. Die türkische Seite sprach von einem Waffenstillstand und der Sicherung der Beobachtungsposten in Idlib. Die russische Seite hingegen wies darauf hin, dass keine Waffenruhe ausgehandelt wurde, sondern die „militärischen Aktivitäten vorübergehend ausgesetzt“ worden sind.
Erdogans Problem ist nicht nur Idlib, sondern vielmehr der russische Plan, die Türkei der Reihe nach auch aus den besetzten Gebieten Efrîn, Azaz, al-Bab und Dscharablus zu vertreiben und die gesamte Region wieder der syrischen Regierung zu überlassen. Weil Erdogan das weiß, hat er in Idlib den Krieg erklärt. Dort sind seine Träume vorläufig begraben.
Knapp eine Woche nach dem Treffen in Moskau gehen Beobachter davon aus, dass nicht nur über Idlib gesprochen worden ist, sondern auch über die Kurden in Rojava. Eine These besagt, dass Erdogan Putin aufgefordert hat, die Kurden in Syrien zu stoppen, weil andernfalls ein Prozess einsetzen werde, der bis zur Spaltung der Türkei führen könne. Diese These wird von den türkischen Besatzungsangriffen in allen Teilen Kurdistans untermauert.
Nach seinem Russlandbesuch reiste Erdogan nach Brüssel. Bei diesen Gesprächen soll es um ähnliche Inhalte gegangen sein. Dass Erdogan noch vor der geplanten gemeinsamen Pressekonferenz wieder abreiste, lässt vermuten, dass er nicht die gewünschte Unterstützung gegen die Kurden bekommen hat. Für ihn geht es weiterhin darum, die kurdischen Gebiete zu besetzen und zu annektieren und unbedingt zu verhindern, dass die Kurden einen politischen Status bekommen.
Der Iran als dritte Garantiemacht in Syrien ist von dem Zweiergespräch zwischen Erdogan und Putin über Idlib ausgeschlossen worden. Der ehemalige iranische Außenminister Kamal Charrazi und sein Umfeld machen dafür Präsident Hassan Rohani verantwortlich, der seine Syrienpolitik mit Russland und der Türkei abgestimmt hat. Charrazi war zwischen 1997 und 2005 Außenminister und gilt als eine Leitfigur unter den Reformisten.
Momentan ist die Lage in Idlib etwas ruhiger. Bereits jetzt beschuldigen sich die Türkei und Russland gegenseitig, dass der in Moskau ausgehandelte „Waffenstillstand“ bzw. die „Aussetzung der militärischen Aktivitäten“ gebrochen wird und es zu Angriffen kommt. Die Türkei setzt unterdessen ihre Truppentransporte nach Idlib fort. Auch der Iran ist in der Region weiter aktiv. Zahlreiche arabische Medien berichten von Verlegungen der proiranischen Hisbollah in die Umgebung von Idlib. Die syrische Armee konzentriert ebenfalls weitere Truppen in der Region. Russland beobachtet lediglich die stattfindenden Entwicklungen. Die Konzentration verschiedener Kräfte in der Region lässt erahnen, dass die Kämpfe nach Ablauf der in Moskau ausgehandelten Atempause mit einem hohen Gewaltpotential wieder aufflammen werden. Vermutlich wird der in Moskau ausgegrenzte Iran seine Existenz durch einen verstärkten Einsatz vor Ort behaupten wollen. Darauf weisen die Vorbereitungen hin. Sie zeigen auch, dass der von der Türkei unter dem Namen „Frühlings-Schutzschild“ ausgerufene Krieg gegen die syrische Armee und Regierung sehr bald beginnen wird.
Wie es aussieht, wird der Iran im Falle erneuter Kämpfe dabei mit den von ihm kontrollierten Kräften und den ihm nahestehenden Einheiten innerhalb der syrischen Armee eine aktive Rolle spielen. Russland hat vor dem Gespräch in Moskau mit Luftunterstützung an den Kämpfen teilgenommen. Der Umgang mit der türkischen Delegation in Moskau weist darauf hin, dass auch Russland bei einem Neuaufflammen der Gefechte eine aktivere Position einnehmen wird.
Wenn Erdogan in Brüssel die gewünschte Unterstützung zugesagt worden wäre, hätte er den Krieg beginnen können, ohne einen Angriff der proiranischen Kräfte und der syrischen Armee abzuwarten. Aber von welcher Seite auch der Startschuss fällt, erscheint dieser Krieg unausweichlich, denn davon hängt Erdogans Schicksal ab. Er hat diesen Krieg von Anfang an verloren und trotzdem ins Auge gefasst, weil ein kampfloser Rückzug aus Idlib den Machtverlust für ihn bedeutet hätte.
Auch für das Schicksal der Kurden und die Autonomieregion Nordostsyrien ist dieser Krieg ausschlaggebend. Sollte Erdogan wider Erwarten den Krieg gewinnen und einen weiteren Teil Syriens zur Besatzungszone erklären, wäre er in der Umsetzung seiner neoosmanischen Expansionspläne einen Schritt weitergekommen. Daher bestimmt dieser Krieg über das Schicksal aller in Syrien lebenden Völker und Glaubensgemeinschaften.