Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu den Entwicklungen in Kurdistan, der Türkei und dem Mittleren Osten geäußert. Im Hinblick auf die türkische Syrienpolitik erklärte er, dass seit dem Osmanischen Reich bis heute über die Widersprüche anderer Staaten Politik gemacht werde. Diese Politik habe bereits den Osmanen das Ende bereitet und das Gleiche stehe der Türkei bevor.
Wir veröffentlichen einen Ausschnitt aus der Sendung in zwei Teilen.
Der Zusammenhang zwischen der Isolation Abdullah Öcalans und der Demokratie-Frage in der Türkei ist von Ihrer Seite aus bereits häufig zur Sprache gebracht worden. Auch andere Kreise haben festgestellt, dass der Faschismus mit der Verschärfung der Isolation stärker wird. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für die Türkei und Nordkurdistan? Und welche Bedeutung hat Öcalans Antwort auf die Frage seines Bruders Mehmet Öcalan, ob ein weiterer Besuch auf der Gefängnisinsel möglich sein wird. Er hat darauf geantwortet: ‚Alles hängt von eurem Kampf ab. Wenn ihr einen Fortschritt erzielt, wird sich alles lösen. Aber wenn ihr es nicht tut, geht es weiter. Sowohl die Isolation geht dann weiter als auch das Blutvergießen.‘
Der Grund für die Isolation von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] ist die kurdische und die Demokratiefrage. Der Grund für die Isolationspolitik ist die Völkermordpolitik, die gegen das kurdische Volk geführt wird. Wenn der türkische Staat die Isolation verschärft, werden auch die Demokratiekräfte vermehrt angegriffen. Wenn sich heute die Angriffe auf die Demokratiekräfte und sozialistischen Kreise in der Türkei verschärfen und es zu Folter, Festnahmen und Verhaftungen kommt, ist der Grund dafür die gegen das kurdische Volk geführte Völkermordpolitik. Bereits in der Vergangenheit ist deutlich geworden, dass ein Zusammenhang zwischen der Isolation und der Demokratiefrage besteht. Aus diesem Grund bedeutet der Widerstand gegen die Isolation gleichzeitig Widerstand gegen die Politik des Völkermords und der Repression.
Aus diesem Grund sagt Rêber Apo: ‚Es geht nicht um mich. Die kurdische Frage und ebenso die Demokratiefrage hat der türkische Staat entstehen lassen. Sie akzeptieren das kurdische Volk, die kurdische Gesellschaft nicht. Sie stellen sich gegen die Demokratiekräfte. Ich wollte die Probleme lösen. Wenn diese Probleme gelöst werden, wird die Isolation ohnehin aufgehoben. Weil ich diese Probleme lösen wollte, ist die Isolation verschärft worden.‘
Aus diesem Grund hat Rêber Apo zu seinem Bruder gesagt: ‚Macht nichts für mich, wenn ihr etwas tun wollt, macht es für euch selbst. Kämpft für das kurdische Volk, für die Freiheit. Und die Demokratiekräfte müssen für ein demokratisches Land kämpfen. Wenn auf diese Weise gekämpft wird, wird die Isolation ohnehin aufgehoben. Ihr macht nichts für euch selbst und wollt etwas für mich machen. Damit versucht ihr, eure Schwäche und eure Kampflosigkeit zu verbergen. Das akzeptiere ich nicht.‘ Alle wissen, dass Rêber Apo niemals etwas für sein eigenes Leben will. Er hat sein Leben dem kurdischen Volk, den Völkern der Türkei und der Menschheit gewidmet.
Nachdem Öcalan im vergangenen Jahr einen Lösungsweg aufgezeigt hat, sind Serêkaniyê [Ras al-Ain] und Girê Spî [Tall Abyad] besetzt worden. Im Moment wird der Krieg in Idlib verschärft. Der türkische Staat hat die syrische Armee angegriffen und jeden Tag sterben auch türkische Soldaten. Wie bewerten Sie die Lage in Idlib?
Rêber Apo wollte Verantwortung übernehmen und die Probleme der Türkei lösen. Er hat sieben Punkte benannt. Als Antwort ist die Isolation noch mehr verschärft und Serêkaniyê und Girê Spî sind besetzt worden. Das verdeutlicht die Realität von AKP und MHP. Eine Lösung der kurdischen Frage steht nicht auf ihrer Agenda. Mit ihrer Praxis zeigen sie, dass sie alles Kurdische auslöschen wollen. Der Krieg in Idlib betrifft nicht nur Idlib, Es geht um ganz Syrien. In Idlib findet der Kampf um Syrien statt. Deshalb beschäftigen sich alle damit. Die Türkei ist auf Beschluss der USA und Russlands in Syrien präsent. Das war keine Entscheidung, die allein getroffen wurde.
Bekanntlich sind bei den Gesprächen in Astana und Sotschi Beschlüsse gefasst worden. Im Ergebnis ist auf die Agenda gekommen, dass die Türkei Syrien verlässt. Das ist allgemein bekannt. Der Türkei ist gesagt worden, dass sie diese Beschlüsse umsetzen muss. Aber die Türkei hat Syrien nicht verlassen. Weil sie es nicht getan hat, hat Syrien eine Offensive gestartet. Später haben Europa und die USA Druck auf Russland und Syrien ausgeübt. Weil die USA und die NATO der Türkei geholfen haben, hat die Türkei erklärt, Syrien nicht zu verlassen. Ausgehend von dieser Hilfe führt die Türkei Krieg. Ohne diese Hilfe wäre es der Türkei nicht möglich gewesen.
Die Türkei will die Dschihadisten nicht verlieren, weil sie ihre osmanischen Ziele erreichen möchte. Wenn sie sich nicht für diese Gruppen einsetzt, kann sie den Arabern und der Welt nicht mehr damit drohen. Sie macht mit dieser Drohung Politik und erreicht damit sogar etwas. Es gibt noch eine weitere Sorge: Sie sagt, wenn Idlib verloren geht, verlieren wir auch Hatay. Dass sie eigentlich Efrîn und die Kurden verliert, kann sie nicht sagen, es wird von Hatay gesprochen. Wenn die Türkei aus Idlib vertrieben wird, verliert sie die anderen Gebiete, die sie in der Hand hat, und damit auch die Dschihadisten. Dann kann sie ihre Herrschaft nicht fortsetzen. Aus diesem Grund will die Türkei die Besatzung mit Hilfe der NATO und der USA beibehalten.
In Idlib ist jetzt ein Waffenstillstand erklärt worden. Diese Waffenruhe haben sowohl die Türkei als auch Russland gebraucht. Die Türkei ist in ein tiefes Loch gefallen und kommt nicht wieder heraus. Niemand ist mehr an ihrer Seite. Auch diejenigen, die gesagt haben, hinter der Türkei zu stehen, haben nicht die gewünschte Hilfe geleistet. Mit dem Waffenstillstand wollte sie sich aus dieser Lage befreien. Auch Russland wollte den Krieg aufgrund des Drucks der USA und der NATO nicht auf diese Weise fortsetzen. Russland hat die Waffenruhe aus eigenen Interessen akzeptiert. Aber dieser Waffenstillstand bedeutet nicht, dass die Türkei sich nicht mehr in Gefahr befindet. Mit ihrer Politik bringt sie das Land immer mehr in Gefahr. Wenn diese Politik nicht aufgegeben wird, bedeutet es das Ende für die Türkei.
Eine ähnliche Bewertung hat auch Abdullah Öcalan geäußert. Er hat gesagt, dass eine Annäherung sowohl an Russland als auch an die USA der Türkei nichts nützen wird. Bis vor kurzem gab es bei der Besatzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî ein gemeinsames Vorgehen mit Russland, jetzt ist die Türkei plötzlich zu einer Besatzungsmacht in Idlib geworden. Was sagen Sie zu dieser Bewertung Abdullah Öcalans?
Es tritt nach und nach ein, was Rêber Apo vorausgesagt hat. Er wollte die Völker der Türkei und die zuständigen Stellen warnen, weil er gesehen hat, dass sich die Lage der Türkei immer mehr verschlechtert. Die Politik der AKP und MHP dient weder der Türkei noch den Völkern der Region. Mit dieser Politik gerät die Türkei in eine immer schlechtere Situation. Davor hat Rêber Apo gewarnt. Er meinte, dass der türkische Staat abwechselnd vor den USA und Russland zu Kreuze kriecht.
Diese Staaten benutzen die Türkei für ihre eigenen Interessen. Sie machen eine Hegemonialpolitik. Aus diesem Grund sagt Rêber Apo: Wenn ihr Politik machen wollt, geht nicht zu den USA und Russland, sondern setzt auf das Volk. Wenn die Probleme der Völker gelöst werden, ist die Türkei nicht mehr von den USA und Russland abhängig. In der Türkei herrscht jedoch eine bestimmte Logik. Seit den Osmanen wird Politik über die Widersprüche anderer Staaten gemacht. Diese Politik hat den Osmanen das Ende bereitet.
Auch die Republikgründung basierte auf dieser Politik. So wie den Osmanen wird diese Politik auch für die Türkei das Ende bedeuten. Vielleicht sind damit eine Zeitlang gewisse Gewinne erzielt worden, aber heute findet das genaue Gegenteil statt. Und diese Situation zeigt sich eben auch in der Idlib-Frage. Die AKP/MHP und der türkischen Staat haben einen gewalttätigen Weg eingeschlagen. Rêber Apo macht Vorschläge, wie dieser Weg geändert werden kann, aber seine Lösungsvorschläge werden nicht angenommen, weil die Kurden vernichtet werden sollen. Warum? Weil Rêber Apo das kurdische Volk anführt. Er wird nicht anerkannt, weil das kurdische Volk nicht anerkannt wird.
Zu Rojava hat Abdullah Öcalan gesagt, dass die Strategie, sich für die Gesamtheit Syriens einzusetzen, richtig ist, aber eine noch wirksamere Politik gemacht werden muss. Was denken Sie zu diesem Thema?
Rêber Apo findet die Politik richtig, aber das bedeutet nicht, dass sie vollständig seinen Vorstellungen entspricht. Es gibt auch Schwächen, die er kritisiert und die so schnell wie möglich behoben werden sollen. Die Politik der Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien entspricht dem Modell einer demokratischen Nation und gilt für alle Völker Syriens. Mit diesem System können die Probleme in Syrien gelöst werden, wenn es im ganzen Land umgesetzt wird. Es basiert auf der Geschwisterlichkeit und dem Zusammenleben aller Völker. Grundlegend sind die Rechte aller Bevölkerungsgruppen. In diesem System können alle Menschen mit ihrer eigenen Sprache, Identität und Kultur leben.
Dieses System wollten die internationalen Kräfte zerstören, über die Religion, über Rassismus oder über Besatzung. Diese Gefahr haben die Menschen in Nordostsyrien erkannt. Sie haben vorher nie in einem demokratischen System gelebt und begriffen, dass es trotz bestehender Mängel das beste System für sie ist. Die Kräfte, die das System der demokratischen Nation zerstören wollen, möchten, dass die Menschen der Region wie früher ein Sklavendasein fristen. Sie wollen ihnen alle Rechte wieder nehmen und sind gegen dieses System. Die Unterstützer der türkischen Besatzung von Rojava haben den Befehl erteilt, die demokratische Autonomie zu vernichten. Alle Einrichtungen und Kräfte in Rojava sollten ausgelöscht werden, das war ihre Erwartung. Sie rechneten dabei vor allem mit den Arabern und sind davon ausgegangen, dass sich die Araber gegen die Kurden aufhetzen lassen. Es gab kurdenfeindliche Araber, die mit ihnen kollaboriert haben, aber die arabische Bevölkerung hat sich gegen sie gestellt. Sie hat sich für die demokratische Autonomie eingesetzt. Dafür gratuliere ich ihr.
Momentan ist es keine einfache Angelegenheit, das System der demokratischen Nation im Mittleren Osten aufzubauen. In der Region haben Dogmatismus, Verschlossenheit, Rassismus und religiöser Fanatismus großes Gewicht. Daher kann dieses System nur Erfolg haben, wenn der Schwerpunkt auf die Bevölkerung gelegt wird. Alle Völker müssen sich organisieren und für ihre Selbstverteidigung sorgen. Wenn sich die Menschen nach diesen Grundsätzen organisieren, können sie alle Probleme lösen und mit jeder Gefahr umgehen. Für die Selbstverteidigung muss auch die Wirtschaft gestärkt werden, denn in der Region findet zurzeit der dritte Weltkrieg statt.
Morgen: „Flüchtlingskrise“ im System der kapitalistischen Moderne