Die Verbrennung eines Korans vor der türkischen Botschaft in Stockholm durch den dänischen Rechtsextremisten Rasmus Paludan hat die Spannungen in den Beziehungen zur Türkei verschärft. Erdogan reagierte gegen Schweden und sagte: „Wenn nötig, können wir eine andere Botschaft über Finnland vermitteln." Diese Worte wiederholte Erdogan auch in einer anschließenden Fraktionssitzung seiner Partei AKP. Er sagte offen, dass er Finnlands NATO-Mitgliedschaft zustimmen würde, während er sein Veto gegen Schweden aufrecht erhalte. Am selben Tag machte der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson ausländische Mächte für die Koran-Verbrennung verantwortlich.
Da die Wahlen in der Türkei näher rücken, wird gemunkelt, dass Erdogan diesen Vorfall in Schweden und sein Vetorecht im NATO-Beitrittsprozess für den innenpolitischen Wahlkampf nutzen wird. Der in Deutschland lebende Journalist Yücel Özdemir erinnert daran, dass Erdogan bereits beim Verfassungsreferendum und bei den Wahlen 2018 eine antiwestliche Haltung als Wahlkampfmittel eingesetzt hat. Özdemir ist der Meinung, dass bei diesen Wahlen ein ähnlicher Weg eingeschlagen werden wird. Er betont aber auch, dass die Verschärfung des Krieges in der Ukraine zu Veränderungen in der türkischen Gleichgewichtspolitik zwischen Russland und dem Westen führen wird.
Yücel Özdemir hat sich im ANF-Interview über Erdogans Wahlkampfstrategie und die Beziehungen zu Europa geäußert:
Die NATO-Spannungen zwischen der Türkei und Schweden eskalierten nach der Koran-Verbrennung in Stockholm durch den rechtsextremen Politiker Rasmus Paludan. Erdogan erklärte, dass die Türkei eine andere Haltung gegenüber Schweden einnehmen werde und eine Botschaft über Finnland vermitteln könne. Die Türkei führt seit einiger Zeit mit Genehmigung der NATO Verhandlungen mit diesen Ländern. Wie wird das alles in Europa gehandhabt, von der Koran-Verbrennung bis zu diesen Beitrittsgesprächen?
Seit einigen Jahren ist klar, dass es Spannungen zwischen Europa und der Türkei im Allgemeinen bzw. zwischen der NATO und der Türkei gibt. Innerhalb der NATO gab es eine sehr intensive Diskussion darüber, dass die Türkei mit dem Kauf der russischen S400 ihren Schwerpunkt verlagern würde. Dann, auf dem NATO-Gipfel in Madrid, zeigte Erdogan teilweise, dass er eine harmonische Politik mit dem Westen verfolgen will, indem er einen Achsenwechsel vollzog. An dem Punkt, an dem wir jetzt angelangt sind, zeigt die Frage seines Vetos gegen Schweden und Finnland jedoch, dass er nicht im Einklang mit der NATO steht.
Auf die Frage, wie lange dieses Veto noch andauern würde, hieß es, dass es kaum Möglichkeiten des Widerstands gäbe. Genau das haben wir vermutet. Insbesondere wurden Namen für die Auslieferung von Personen genannt, die sich gegen die Türkei stellen oder die von der Türkei in Anführungszeichen als „Terroristen" bezeichnet werden. Die Türkei forderte ihre Auslieferung. Wir haben erwartet, dass es in dieser Frage ein gewisses Nachgeben geben und Schweden einige symbolische Gesten machen würde. Einen solchen Krisenmoment haben wir nicht erwartet.
Aber es war nicht so...
Ja, das war nicht der Fall. Schweden hat unter dem Druck der Öffentlichkeit seine Haltung zur Auslieferung der von der Türkei besonders gesuchten Personen und zum Waffenembargo aufgeweicht. Schweden wird der Türkei die gewünschten Waffen liefern, und es hat sich bereits gezeigt, dass es hier kein großes Problem gibt. Die Koran-Verbrennung hat aber auch die Türkei in dieser Veto-Frage gestärkt. Es ist natürlich klar, wer den Koran verbrannt hat, denn die schwedische Regierung würde so etwas nicht tun und auch nicht dahinterstehen. Ulf Kristersson, der schwedische Ministerpräsident und gleichzeitig EU-Ratspräsident, hat sich in diesem Zusammenhang geäußert und offen erklärt: „Das ist ein Spiel fremder Mächte".
Aber bezieht sich Kristersson auf Russland, wenn er von ausländischen Mächten spricht?
Letztendlich ist klar, dass die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Schweden und die Zustimmung der Türkei zur NATO gegen Russland gerichtet sind. Und es ist bemerkenswert, dass es sich bei den Tätern um Rechtsextremisten handelt. In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass es Kontakte zwischen Russland und rechtsextremen, faschistischen Organisationen in Europa gibt. Es gab auch Kontakte mit rechtsextremen Organisationen in Österreich. Es war sogar die Rede davon, dass Russland die Wahlen in diesen Ländern manipuliert. Ich glaube, der schwedische Ministerpräsident verweist damit auf Russland. Natürlich haben wir keine vollständigen Informationen. Hat Russland wirklich eine aktive Rolle gespielt und seine Agenten in dieser Region mobilisiert? Wir wissen nicht, ob versucht wird, aus einem bereits bestehenden Problem Schlussfolgerungen zu ziehen und die Beziehungen zwischen der Türkei und Schweden zu belasten.
Es gibt die Meinung, dass Erdogan die Krise in Schweden als Wahlkampfmittel nutzen will. Glauben Sie, dass Erdogan dadurch den von ihm gewünschten Impuls erhält?
Soweit wir sehen können, besteht eine der wichtigsten Säulen dieses Themas darin, es auf die Innenpolitik zu lenken. Das haben wir sowohl beim Verfassungsreferendum als auch vor den Wahlen im Jahr 2018 gesehen. Damals spielte die antiwestliche Haltung eine sehr wichtige Rolle in Erdogans Wahlkampfstrategie. So beschuldigte er beispielsweise die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel des Nazismus. Es gab sogar eine intensive Kampagne gegen den Wahlkampf der AKP und die Beziehungen waren angespannt. Auch mit den Niederlanden gab es große Spannungen, und die diplomatischen Beziehungen wurden für lange Zeit abgebrochen. Damals erlaubten die Niederlande einem AKP-Minister nicht, dort eine Sitzung abzuhalten.
All das hat eine Atmosphäre geschaffen, in der ein politischer Führer nicht tut, was die NATO will, und mit einer antiwestlichen Haltung an die Gefühle der Wähler zu Hause und in Europa appelliert. Ich denke, dass diese Möglichkeit auch in diesem Wahlkampf sehr wahrscheinlich ist. Erdogans Besuch in Berlin ist abgesagt worden. Es gab Diskussionen darüber, ob der Besuch stattfinden würde oder nicht. Im Vorfeld des geplanten Erdogan-Besuchs kam ein AKP-Abgeordneter nach Deutschland und rief dazu auf, PKK-Anhänger und FETÖ-Mitglieder ebenso wie in der Türkei auch in Europa zu vernichten. Daraufhin hat Deutschland reagiert, und nach Informationen aus diplomatischen Kreisen gibt es nach wie vor eine Haltung der Regierung gegen den Wahlkampf der AKP in Deutschland. Vor allem im Außenministerium.
Ist das also der Grund für Erdogans Abwesenheit? Öffnet sich die Tür zu einer neuen Krise?
Ja, das ist einer der Gründe, warum Erdogan nicht kommen wird. Denn wenn Erdogan nach Deutschland kommt, hat er einen Zeitplan: Er trifft sich mit Bürgern, auch wenn es nicht am Wahlabend ist, und hält Versammlungen in großen Sälen mit Teilen seiner eigenen Anhängerschaft ab. In gewisser Weise wollte er vielleicht den Wahlkampf in Europa in Berlin einleiten, aber dazu ist es nicht gekommen. Auch wenn es vorerst keine intensive Debatte über die Absage dieses Besuchs auf antideutscher Grundlage gibt, denke ich, dass Erdogan in den kommenden Tagen, wenn die Wahlstimmung steigt, eine antiwestliche und antieuropäische Initiative versuchen wird, wie er es 2018 getan hat.
Andererseits hat die Türkei, da Schweden auch den amtierenden EU-Vorsitz innehat, zumindest symbolisch eine Anfrage zum Fortschritt der Verhandlungen an Schweden gerichtet. Es wird gemunkelt, dass die Türkei von der Europäischen Union verlangt, die festgefahrenen Beziehungen voranzubringen, aber das kann Schweden natürlich nicht allein tun. Im Allgemeinen geht es um den Mechanismus und den Kurs der Europäischen Union selbst, aber in der kommenden Zeit wird dies einer der wichtigsten Pfeiler im Wahlkampf in der Türkei sein.
Apropos Verhandlungen: Seit langem stellen wir fest, dass die Europäische Union keine ernsthaften Schritte in Richtung Demokratie und Menschenrechte in der Türkei unternommen hat. Sie aktiviert nicht einmal ihre eigenen Mechanismen gegen die Türkei, die weder die Europäischen Menschenrechtskonventionen noch die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs berücksichtigt. Jetzt sagen Sie, dass die Türkei eine Wiederaufnahme der Verhandlungen fordert. Es ist nicht bekannt, wie dieser Prozess ablaufen wird, aber die Europäische Union ist derzeit mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt. In diesem Prozess sind zum Beispiel das Verhalten der Türkei, die erneute Verschiebung ihrer Achse in Richtung Russland, ihr Vetorecht bei der NATO-Mitgliedschaft usw. wichtig. Wenn wir diese Aspekte alle nebeneinander stellen, wird sich dann eine neue Perspektive für die Haltung Europas gegenüber Erdogan ergeben?
Ehrlich gesagt bin ich auch ein wenig neugierig auf dieses Thema und beobachte es. Werden die Europäische Union und die NATO diese Wahlen als eine Gelegenheit sehen, Erdogan loszuwerden? Wir haben derzeit keine klare Antwort auf diese Frage. Aktuell gibt es in Europa keine Atmosphäre, die einen Kandidaten begünstigen würde, der Erdogan in Ungnade fallen lässt und sich ihm mit aller Macht, all seinen Mechanismen und all seiner Propaganda entgegenstellt. Die Europäische Union hat gelernt, mit Erdogan zu leben und zusammenzuarbeiten. In der Vergangenheit hat die EU ihn als autoritäres Regime kritisiert, weil er die Menschenrechte verletzt und die Urteile des EGMR nicht anerkennt, und manchmal waren die Beziehungen angespannt. Vor allem, wenn wir die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in den Jahren 2017-18 betrachten. Aber dann normalisieren sie sich plötzlich, als ob nichts geschehen wäre.
Zwischen beiden Seiten gibt es gegenseitige Verpflichtungen. Im Moment passt es der Europäischen Union, dass Erdogan den Auftrag im Zusammenhang mit der „Flüchtlingsfrage“ ordnungsgemäß erfüllt und die Handelsbeziehungen so bleiben, wie sie sind. Auch die Waffenproblematik geht weiter. Die Ukraine-Achse ist jedoch eine problematische Situation innerhalb der weltweiten Balancen. Bis zum 24. Februar 2022 beruhte die Rolle von Ländern wie Frankreich und Deutschland in der Weltpolitik im Allgemeinen auf der Aufrechterhaltung einer engen Beziehung zu Russland, zumindest ohne es zu konfrontieren. Deutschland verschaffte sich hier sehr wichtige Vorteile. Mit dem Regierungswechsel hat sich jedoch ein teilweiser Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik vollzogen. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Es hat eine Distanzierung von Russland und eine Annäherung an die transatlantische Achse stattgefunden. Die derzeitige Stimmung ist eher US-amerikanisch geprägt.
Wo steht die Türkei in dieser Gleichung und wie lange kann sie ihre Position halten?
Die Türkei behält ihren Platz in dieser Gleichung bei. Obwohl die Türkei Mitglied der NATO ist, hat sie nicht wie Deutschland und Frankreich gehandelt, sondern ihre Beziehungen zu Russland im Gleichgewicht gehalten. Sie setzt auch ihre Beziehungen zum Westen fort. Aber wie lange wird das anhalten? Soweit wir das verstehen können, geht Erdogan bis zum Äußersten. Innerhalb der Europäischen Union oder der NATO wird sicherlich großer Druck ausgeübt, diese Politik aufzugeben und Russland zu isolieren, und auch die USA haben sich in letzter Zeit in dieser Richtung geäußert. Insbesondere wenn Schweden und Finnland aufgrund des Vetos der Türkei nicht in die NATO aufgenommen werden, scheint es zu einem Achsenwechsel gegen die Türkei zu kommen. Bisher gab es eine teilweise Tolerierung der türkischen Beziehungen zu Russland. Sie freuen sich sogar, wenn die Türkei die Rolle des Vermittlers spielen. Mit dem Verhalten von Erdogan bei der Öffnung des Getreidekorridors war man zufrieden. Aber wenn wir uns die Lebensdauer dieser Sache in der ukrainischen Arena ansehen, ist sie nicht sehr lang.
Deutschland und die USA schicken jetzt Panzer in die Ukraine. Deutet das auf eine Eskalation des Konflikts hin und welche Folgen hätte diese Eskalation für die Türkei? Kann die Politik des Gleichgewichts durch den Verlauf des Krieges gestört werden?
Der Krieg wird derzeit nicht auf der Grundlage von Verhandlungen geführt. Deutschland hat der Ukraine kürzlich Panzer versprochen. Außerdem wird jetzt intensiv über die Vergabe von Kampfjets diskutiert. Der Bundeskanzler sagte zunächst nein, aber der Kriegskurs verhärtet sich immer mehr. Bei einem Treffen mit Biden hat Scholz die Lieferung von Panzern unter der Bedingung zugesagt, dass die USA auch welche schicken. Später sagte Biden: „Wir werden Abrams schicken, aber ihr Einsatz und ihre Kosten sind zu hoch." Momentan ist ungewiss, wann und in welchem Umfang sie zum Einsatz kommen werden. Aber Deutschland hat natürlich auch gesagt, dass es in der ersten Phase 14 Panzer liefern wird. Zuvor sind bereits kleine Panzer entsandt worden.
Damit ist der Weg für andere NATO-Mitgliedstaaten geebnet, Leopard-Panzer in die Ukraine zu schicken. Es ist also wichtig. Schweden, Finnland und die baltischen Länder werden Waffen in Richtung Ukraine schicken, und das Szenario ist folgendes: In der Kriegsstrategie, die darauf basiert, dass die Ukraine nicht gewinnt und Russland verliert, wird die Krim im Frühjahr mit einer Großoffensive militärisch von Russland eingenommen. Dies ist auch ein Szenario für einen intensiven Krieg aus den von Russland kontrollierten ukrainischen Gebieten. Wir wissen nicht, inwieweit dieses Szenario eintreten wird.
Die Absicht des Westens und der Ukraine ist es, alle von Russland kontrollierten Gebiete zu evakuieren und unter ihre Kontrolle zu bringen. Dazu gehört auch die Krim. Das wird von Zeit zu Zeit gemunkelt. Wenn der Krieg dieses Stadium erreicht, bedeutet dies, dass die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei in einer anderen Gleichung diskutiert werden. Mit der Verschärfung des Krieges wird meiner Meinung nach der Druck auf die Türkei zunehmen, ihre Beziehungen zu Russland einzuschränken. Er wird sogar noch stark zunehmen.
Ich meine, wie lange kann Erdogans politisches Leben noch andauern? Wir wissen es nicht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist jedoch, dass die Nationale Allianz [aus CHP, Iyi-Partei und anderen], wenn wir uns den Kurs der türkischen Außenpolitik ansehen, keine klaren Aussagen zu den Beziehungen zu Russland macht. Sie sagt auch nichts Eindeutiges über den Westen aus. Die Achse der Beibehaltung der gegenwärtigen Politik ist stärker ausgeprägt. Es ist die Rede von einer Außenpolitik, die sich an den Interessen der Türkei orientiert. Mit anderen Worten: Selbst wenn Erdogan geht, wird es meiner Meinung nach in der neuen Periode keine scharfe Wende geben.