Anlässlich des Jahrestags der Verschleppung von Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 in die Türkei hat ANF mit Dr. Michael Koch, einem langjährigen Aktivisten aus der Solidaritätsarbeit für Leonard Peltier, gesprochen. Leonard Peltier ist ein indianischer Aktivist des American Indian Movement (AIM) in den USA. 1977 wurde er wegen des Mordes an zwei FBI-Agenten verurteilt, obwohl es keine Indizien gab, die seine Schuld bewiesen.
Ich freue mich, aus Anlass des Jahrestags der Verschleppung Abdullah Öcalans mit einem langjährigen Aktivisten aus der Solidaritätsarbeit für Leonard Peltier sprechen zu können. Herr Koch, der heute 76-jährige indigene politische Gefangene Leonard Peltier ist mittlerweile seit 45 Jahren in Haft. Er wurde verurteilt, nachdem zwei FBI-Agenten im Zuge einer Schießerei in einem Reservat von Angehörigen des Lakota-Stammes ums Leben kamen. Ist es richtig, dass die Agenten selbstmordattentatmäßig in eine Grundstücksmauer gerast sind? Wichtig wäre noch zu sagen, dass die Indigenen damals die AIM um Schutz vor FBI-Aktivitäten baten. Sind die Umstände so annähernd richtig dargestellt oder wie würden Sie diese benennen?
Um zu verstehen, wie es zu dem Schusswechsel kam, in dessen Verlauf am 25. Juni 1975 zwei FBI-Agenten sowie ein junger Aktivist des American Indian Movement – eine anfänglich der Black Panther Party for Self Defence analoge indianische Widerstandsbewegung, die sich zu Beginn hauptsächlich gegen rassistische Polizeigewalt gegenüber Native Americans engagierte – erschossen wurden, muss kurz auf den Hintergrund dieses Schusswechsels zwischen FBI und anderen Polizeigruppen einerseits sowie AIM und anderen Natives andererseits eingegangen werden. In der Pine Ridge Reservation herrschte Anfang bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine korrupte Stammesregierung, die mit Hilfe einer eigenen Todesschwadron vor allem traditionell orientierte Lakota sowie sich politisierende junge Natives bedrohte und auch ermordete. Wir kennen mindestens 60 Mordopfer namentlich, wobei diese mörderische Gewalt unter den Augen des FBI und diverser Polizeigruppen stattfand, ja durch Polizei und FBI sogar unterstützt wurde.
Gegen diese „Herrschaft des Schreckens“, wie diese Zeit heute geschichtlich bezeichnet wird, riefen, wie Sie schon richtig ausführten, die Häuptlinge und Stammesältesten der Oglala Lakota das AIM um Hilfe. Zu der Zeit war vor allem wieder eine ältere Familie bedroht und so errichteten AIM-Aktivist*innen ein Schutzcamp auf dem Gelände dieser Familie. Eine Grundstücksmauer gab es dort allerdings nicht. Man muss sich den Ort eher ländlich vorstellen. In dieses Schutzcamp, in dem auch zahlreiche Frauen und Kinder lebten, rasten die zwei FBI-Agenten überfallartig mit ihren ungekennzeichneten Autos hinein, was dann zu dem tödlichen Schusswechsel führte. Ich würde dies nicht selbstmordattentatsmäßig nennen, denn dies war sicherlich nicht die Intention der beiden Agenten und unterscheidet dies von dem, was wir über Selbstmordattentate zum Beispiel islamistischer Terroristen kennen. Aber es war für die vorgesetzten Stellen des FBI sicherlich antizipierbar, dass nach den zahlreichen Morden an Lakota in der und um die Reservation, ein solcher Polizeiüberfall zur Eskalation der Gewalt führen würde. Zwei AIM-Mitangeklagte Peltiers wurden von einem anderen Gericht daher auch wegen Notwehr in einer Selbstverteidigungssituation freigesprochen. Leonard Peltier, der am 6. Februar 1976 in Kanada festgenommen wurde, wurde 1977 dann wegen zweifachen Mordes zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt, obwohl die Belastungsbeweise eindeutig manipuliert und mit Gewalt(androhung) erpresst wurden, während Entlastungsbeweise komplett unterschlagen bzw. nicht zugelassen wurden.
Auslieferung Leonard Peltiers von Kanada in die USA | Sheila Steele / CC BY-SA 2.0
Abdullah Öcalan ist gefangen genommen und in die Türkei verschleppt worden, nachdem er sich 1998 aufgrund von türkischen Kriegsdrohungen gegen Syrien auf den Weg nach Europa gemacht hatte, um mit den dortigen Regierungen als Mittler einen Friedensprozess einzuleiten. Anstatt die Chance für Friedensverhandlungen wahrzunehmen, haben sich die Regierungen jedes Dialogs verweigert und lieber in einem internationalen Komplott geholfen, ihn an die Türkei auszuliefern. Stellt sich Ihnen diese staatliche Gewalt, die so etwas tun kann, als übermächtig dar?
Vorab. Ich will bei meiner Antwort bewusst keine politische Auseinandersetzung mit der PKK und Abdullah Öcalan vornehmen. Hierfür halte ich mich auch nicht kompetent, hierzu fehlt mir entsprechendes vertieftes Wissen. Klar ist, dass ein solches Vorgehen, wie es gegen Öcalan erfolgte, kein Einzelfall ist. Ich erinnere hier an den Versuch den langjährigen Konflikt um die baskischen Autonomiebestrebungen gegenüber der spanischen Zentralregierung mit Unterstützung internationaler Beobachter* und Vermittler*innen zu beenden. Auch hier wurden Vertreter*innen der baskischen Linken, wie zum Beispiel Arnaldo Otegi, die versuchten, die ETA, eine Gruppe, die den Kampf für ein freies Baskenland auch bewaffnet führte, in den Friedensprozess konstruktiv einzubeziehen, politisch verfolgt und inhaftiert. Seitens des spanischen Staates gab es nämlich keinerlei Interesse an einer friedlichen Lösung, denn dies wäre ja ein Eingeständnis einer langjährigen post-frankistischen Unterdrückungs- und Kolonialisierungspolitik gewesen. Allerdings hatte hier die internationale Beteiligung dann doch langfristig den Friedensprozess erfolgreich beginnen lassen. Dies ist anders als in dem Konflikt um ein selbstständiges Kurdistan, einer souveränen kurdischen Kultur und Politik. Dass international die PKK als „terroristisch“ eingestuft wird, aber eine völkerrechtswidrige, reaktionär-autoritäre, demokratiefeindliche und bezogen auf andere ethnische oder religiöse Gruppen genozidale Politik der türkischen Regierung weiterhin nur getadelt, aber nicht sanktioniert und als sowohl innen- als auch außenpolitisch aggressiv-terroristisch bezeichnet wird, hat mit einer enormen Doppelmoral internationaler Politik zu tun. Diese Verlogenheit internationaler Politik aufgrund hegemonialer Interessen der globalen Großmächte ist für die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber der kurdischen Bevölkerung und für die völkerrechtswidrige Kriegspolitik der Türkei entscheidend mitverantwortlich und lässt somit die staatliche Gewalt zunehmend übermächtig werden, statt einer solchen Entwicklung international entgegenzutreten. Dies wirkt sich innenpolitisch in Form anhaltender und zunehmender Repression gegen alle fortschrittlichen Kräfte aus.
Haben Sie eine Definition dafür, dass Regierungen die Akteure politischen Widerstands gegen Kolonialherrschaft und für Selbstverteidigung für Jahrzehnte in Gefängnisse verschwinden lassen? Von Abdullah Öcalan gab es mehrere Jahre nicht einmal ein Lebenszeichen, wie denken Sie über Isolation?
Dass Akteure eines gegen Kolonialisierung, Unterdrückung, Ausbeutung und Genozid gerichteten politischen Widerstands für Jahrzehnte inhaftiert und zum Teil auch in Isolationshaft genommen werden, ist leider ein global feststellbares Phänomen herrschender Unterdrückungspolitik, gleich ob diese kapitalistisch, religiös-fundamentalistisch oder sonstig totalitär-politisch orientiert ist. Mit der Kriminalisierung politisch progressiven Widerstands und entsprechender sozialer Bewegungen, mit der polizeilich-juristisch-politischen Verfolgung von Aktivist*innen sowie mit der Inhaftierung politischer Gefangener und deren Isolation und Folter sollen Menschen eingeschüchtert werden, damit sie ihr Streben nach Freiheit, Souveränität, Menschenrechte und Gerechtigkeit aufgeben. Das heißt, eine solche unmenschliche Haftpolitik richtet sich nicht nur gegen die Inhaftierten selbst und gegen entsprechende soziale Bewegungen, sondern dient vor allem als Abschreckung an alle gesellschaftlichen Mitglieder. Gleichzeitig sollen somit nicht nur Menschen mundtot gemacht werden, sondern auch die Hintergründe von Befreiungs-, Widerstands- und Protestbewegungen verschleiert und deren bekanntesten Protagonisten vergessen gemacht werden. So geschieht dies in der Türkei mit politischen Gefangenen wie in allen anderen totalitären Staaten, aber auch in sich als demokratisch bezeichnenden Staaten. Hiervon sind Kurd*innen, Palästinenser*innen, Rohingya, Uigur*innen und viele andere Gruppen betroffen. Hiervon sind Native Americans in ganz Amerika betroffen, z.B. Mapuche in Chile und Argentinien, indigene politische Aktivist*innen in den USA …. Aber dies gelingt den Unterdrückenden nicht. Es ist ihnen nicht gelungen Öcalan vergessen zu machen; es ist ihnen nicht gelungen Leonard Peltier vergessen zu machen; es ist ihnen nicht gelungen Martin Luther King, Malcolm X, Huey Newton selbst nach deren Tod vergessen zu machen…. Es ist ihnen nicht gelungen, die politischen Forderungen und Kämpfe vergessen zu machen - den Schrei nach Freiheit wird kein System auf Dauer ersticken können.
Welche anderen langjährigen politischen Gefangenen haben Sie im Bewusstsein? Und wie stellen Sie sich vor, überleben diese überhaupt, behalten ihre Standhaftigkeit und Kreativität?
Mumia Abu-Jamal, Leonard Peltier, weitere Aktivist*innen aus der Black Liberation Army und den Black Panthers. Einige dieser Aktivist*innen sind bereits seit vielen Jahrzehnten inhaftiert, teilweise unter schlimmsten Haftbedingungen, das heißt in Todeszellen, Isolationshaft oder Dauer-Lock Down, teilweise ausgesetzt physisch-psychischer Folter, medizinischer Vernachlässigung, knastinterner Gewalt, Zensur, eingeschränkter rechtlicher Vertretung. Eine solche Haftsituation zu überleben und nicht daran zu zerbrechen kann nur gelingen, wenn die Inhaftierten für sich selbst Wege finden, sich körperlich-seelisch-geistig stark zu halten und wenn es gleichzeitig eine kontinuierliche Unterstützung von außen gibt. So verfasst Mumia Abu-Jamal regelmäßig Kolumnen, Bücher und Beiträge für das Gefängnisradio. Leonard Peltier schrieb Gedichte und malt. Arnaldo Otegi engagierte sich auch aus der Haft im baskisch-spanischen Friedensprozess. Bei der Unterstützung von außen kommt den Solidaritäts- und Unterstützerbewegungen, den Familien und Freund*innen, den Anwälten und Medien große Bedeutung zu. Diese Unterstützung zeigt den Verfolgten und Inhaftierten, dass sie nicht allein gelassen werden.
Nicht zu vergessen sind die vielen in der Öffentlichkeit nicht namentlich bekannten, für Jahrzehnte inhaftierten politischen Gefangenen. In der Türkei haben im vergangenen Herbst ungefähr 100 Aktivist*innen aus dem kurdischen Widerstand kurz vor dem Ende ihrer 25-jährigen Haftstrafen erneute Haftbefehle bekommen, die Urteile erwarten lassen, die wiederum jahrzehntelange Haft bedeuten. Haben Sie Ideen, wie wir die Isolation der Gefangenen besser durchbrechen, unsere Solidaritätsarbeit effektiver machen können?
Wie gesagt, es ist wichtig, das Schicksal der Gefangenen, aber auch die Ursachen und Willkür der politischen Verfolgung und Bestrafung öffentlich zu machen und dies immer und immer wieder. Dies gilt meines Erachtens auch für Personen und Gruppen aus dem progressiven Widerstand, denen wir aus politisch-moralisch-strategischen Gründen selbst kritisch gegenüberstehen. Einer solchen Kritik und Selbstkritik, der wir uns im Sinne der Selbstüberprüfung immer wieder auch unterziehen müssen, ist kein Grund, sich nicht in anderen Belangen solidarisch zu unterstützen. Eine effektivere Solidaritätsarbeit bedeutet, sich über andere Politikfelder und Bewegungen zu informieren und sich dann auf Grundlage eines formulierten Selbstverständnisses auch zu unterstützen. Aus den eigenen Fehlern dabei lernen heißt auch, dass wir mit unseren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Dekolonialisierung, Menschenrechten, Entmilitarisierung von Konflikten glaubwürdig werden, unsere Stimme bis weit in bürgerliche Lager hinein Gewicht bekommt und wir politisch-ethisch diskursfähig sind.
Wichtig für eine effektivere Soliarbeit ist neben Kooperation und neben einem internationalen und intersektoralen Verständnis auch eine professionelle Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit. Am Beispiel Leonard Peltiers und der Arbeit unserer kleinen Gruppe kann ich dies exemplarisch abschließend kurz aufzeigen: wir haben uns national als auch international mit sehr vielen unterschiedlichen sozialen Bewegungen verbunden und in unterschiedlichsten politischen Themen selbst engagiert. Dabei reicht die Bandbreite unseres Handelns von Umweltbewegungen und Menschenrechtsgruppen über Soliarbeit im antirassistischen, kolonialistischen und nationalistischen Kontext, über Unterstützung indigener Belange, Black Lives Matter und von Flüchtlingsprojekten bis hin zur Sozial- und Bildungspolitik. Diese Verankerung unseres Engagements in vielfältigen Diskursen und auch Aktionen hat zur Verbreitung von Informationen über indigene Belange, indigenen Widerstand und die dagegen gerichteten Repressionen und somit auch über indigene politische Gefangene, z.B. über Leonard Peltier, in Deutschland geführt. Und dies hat wiederum eine breitere Unterstützung unserer konkreten Soliarbeit für Peltier und indigene Belange durch Spenden und Medienecho bewirkt. In diesem Sinne danke ich auch den vielen kurdischen Unterstützer*innen, die in den 20 Jahren unserer Aktionen immer wieder zu Straßenaktionen und Veranstaltungen kamen oder uns eingeladen haben. Und umgekehrt war es auch für uns immer wichtig, unsere Solidarität für kurdische Belange zu zeigen. In diesem Sinne auch Danke für dieses Interview als ein wichtiger Schritt, Solidarität zu zeigen.
Herr Koch, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Zur Person: Dr. Michael Koch ist Diplompädagoge, Musiker, langjähriger Menschenrechts- und Umweltaktivist, Mitgründer von TOKATA-LPSG RheinMain e.V. – Verein zur Unterstützung indianischer Jugend-, Kultur- und Menschenrechtsprojekte & Leonard Peltier Support Group und Autor des Buches „Ein Leben für die Freiheit – Leonard Peltier und der indianische Widerstand“ (gemeinsam mit M. Schiffmann, TraumFänger-Verlag). Aktuell arbeitet Koch schwerpunktmäßig an einer intersektoralen Verbindung unterschiedlicher politischer Themen wie Umwelt, Menschenrechte, indigene Belange, soziale Fragen etc., um hieraus auf die Notwendigkeit übergreifender und internationaler Solidarität und Vernetzung sozialer/sozialrevolutionärer Bewegungen hinzuweisen. Wer sich ausführlicher mit Leonard Peltier, seinem „Fall“, der aktuellen Haft- und Gesundheitssituation aber auch mit der Völkermordgeschichte der Native Americans sowie deren heutigen Lebensbedingungen und Kämpfen auseinandersetzen will, findet entsprechende Informationen in dem oben genannten Buch.