Eine Tradition des Widerstands

Sait Bilgin engagiert sich seit Jahren im kurdischen Freiheitskampf. Als Ko-Vorsitzender des Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrums in Bremen berichtet er über die Widerstandstradition seiner Familie.

Der kurdische Widerstand im Exil prägt auch das Leben in Deutschland. Die kurdische Freiheitsbewegung stellt trotz Verbots weiterhin eine der größten linken außerparlamentarischen Bewegungen in Deutschland dar. Ihr Kampf wird von unzähligen unermüdlichen Aktivistinnen und Aktivisten getragen und reicht weit ins 20. Jahrhundert zurück, basierend auf der langen Widerstandstradition in Kurdistan. Sait Bilgin ist Teil dieser Tradition. Der Freiheitskampf ist tief in seiner Familie verwurzelt. Seit 1992 lebt Bilgin im Exil in Deutschland, derzeit ist er Ko-Vorsitzender des Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrums in Bremen. Im ANF-Interview teilt er Einblicke in sein bewegtes Leben und seine Familiengeschichte.

Sie sind Ko-Vorsitzender des kurdischen Gesellschaftszentrums in Bremen, aber Sie haben auch eine Vergangenheit. Wer sind Sie? Woher kommen Sie?

Ich wurde im Juni 1957 in Xarpêt [tr. Elazığ] geboren, als meine Mutter und mein Vater zu Gast im Haus unseres Großonkels waren. Aufgewachsen bin ich jedoch in Kelaxsî im Landkreis Dara Hênî [Genç], Provinz Çewlîg [Bingöl]. Dort besuchte ich die Grundschule im Dorf. Andere Jugendliche, die älter waren als ich, gingen in anderen Dörfern und Städten zur Schule. Ich habe im Dorf gelernt. Nachdem ich die Grundschule abgeschlossen hatte, blieb ich ein Jahr lang im Dorf. Dann ging ich zur Imam-Hatip-Schule in Xarpêt. Mein Vater hatte mich dort angemeldet. Ich blieb bis zur fünften Klasse in Xarpêt und zog dann nach Ankara, von dort nach Wan und schließlich nach Amed (Diyarbakır). In Amed absolvierte ich meine Ausbildung an der Imam-Hatip-Schule und machte danach mein Abitur extern. Ich studierte am Bildungsinstitut Bingöl, schloss mein Studium ab und wurde Lehrer.


Ich unterrichtete drei oder vier Jahre lang in Çewlîg. Dann wurde ich versetzt, zuerst nach Zonguldak und später nach Konya. Schließlich wurden die Versetzten entlassen. Ich kehrte in mein Dorf zurück und setzte dort mein Leben fort. Wir betrieben Landwirtschaft und Viehzucht.

Mit der Rückkehr der kurdischen Freiheitsbewegung ins Land und ihrer Organisierungsarbeit begann auch eine Bewegung in der Bevölkerung zu entstehen. Aufgrund der Tradition unserer Familie schlossen wir uns natürlich dieser Mobilisierung an. Dies entwickelte sich aus unserer Geschichte heraus. Nach den Erzählungen unserer Ältesten wurde unser Dorf dreimal vom Staat niedergebrannt. Es gab ein altes Sprichwort, das besagte, dass es nicht wieder aufgebaut werden würde, wenn es zum vierten Mal zerstört würde.

„Mein Großonkel Şêx Şerif wurde zusammen mit Şêx Saîd hingerichtet“

Wir sind mit den Geschichten über die Vergangenheit unserer Familie aufgewachsen. Mein Großvater und sein Bruder gehörten zu den führenden Kadern des Aufstands von 1925. Unser Dorf wurde sogar als zentraler Stützpunkt betrachtet; es besitzt eine solche strategische Lage. Die Bewegung war dort in hohem Maße organisiert und ging auch nach der Gefangennahme der Führungspersönlichkeiten weiter. Viele Aspekte davon sind nicht weit bekannt. In der Öffentlichkeit herrscht die Auffassung, dass der Aufstand im Februar begann und im Mai oder Juni endete. Das war jedoch nicht der Fall. Die Bewegung ging auch weiter, nachdem bestimmte Persönlichkeiten gefangen genommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet worden waren. Şêx Şerîf, der ältere Bruder meines Großvaters, wurde zusammen mit Şêx Saîd hingerichtet, aber Şêx Hüseyin wurde nicht gefasst. Er blieb in den Bergen und setzte seinen Kampf lange Zeit fort. Er führte viele Aktionen durch. Zum Beispiel gab es die Aktion in Xazîk, bei der die Vorherrschaft des türkischen Militärs in Kurdistan verhindert werden sollte. Dort wurde ein türkisches Regiment vollständig vernichtet, und es wurde verhindert, dass die Armee nach Çewlîg eindringt. Dieser Kampf dauert bis heute an.

Dann wurde das verbrecherische System der Dorfschützer entwickelt. Durch dieses kriminelle System wurden die Menschen gegeneinander ausgespielt. Das machte das Leben derjenigen, die dortgeblieben waren, schwer. Der Mangel an Organisierung war ohnehin bereits das Hauptproblem gewesen. Es hatte sich um einen Kampf gehandelt, der eher in Verbänden, die nach Namen und Personen organisiert waren, geführt wurde. So gab es die Kolonne von Yadin Pascha und eine von Swas Mono, eine weitere von Kalik Wêsî. Andere Şêxs hatten auch ihre Gruppen, aber sie agierten meist um meinen Großvater Şêx Hüseyin. Im Verhältnis zueinander agierten sie in der Regel autonom.

Sprechen Sie gerade von der Zeit nach 1925? Also von einer Zeit in der der Widerstand trotz Niederschlagung des Şêx-Saîd-Aufstandes weiterging?

Ja, genau, er setzte seinen Kampf fort. In den 1920er Jahren dachte man, dass die Situation noch schlimmer werden würde, wenn man in unserem Dorf bliebe. Mein Großvater rief alle Kräfte in unserem Dorf zusammen und machte folgenden Vorschlag: „Wenn wir hierbleiben, werden wir die Menschen gegeneinander aufbringen und es wird zu einer schlimmen Situation führen. Deshalb sollten wir diesen Ort vorübergehend verlassen.“ Am Ende wurde der Vorschlag angenommen. Also zogen sie nach Rojava, in das Gebiet unter französischer Mandatsverwaltung, das sie Binxet nannten. Auf Vorschlag meines Großvaters konnten diejenigen, die es wünschten, ihre Familien mitnehmen. Sie legten einen bestimmten Tag fest, an dem sich alle trafen. Mehr als 500 Menschen versammelten sich und gingen nach Rojava. Dort blieben sie einen Winter lang.

Hinterhalt auf dem Weg von Şêx Hüseyin

In den 1928er Jahren kam eine Teilamnestie auf die Tagesordnung. In dieser Zeit kehrte die Gruppe zurück aus Rojava. Aber als sie zurückkehrte, wurde eine Komplott organisiert. Sie wurden zum Regionalgouverneur vorgeladen, aber auf dem Weg dorthin wurde ein Hinterhalt gelegt. Mein Großvater wurde von 20 Kugeln getroffen, überlebte aber. Angeblich sollten sie ja zu einem Gespräch kommen, sie wussten nicht, dass es einen Hinterhalt gab. Die beiden Leibwächter meines Großvaters wurden ebenfalls verwundet. Aber er hat trotzdem überlebt.

Großvater in Amed ermordet

Der Konflikt dauerte bis zum Winter 1930 an. Der Winter 1930-31 war sehr streng. In diesem Winter wurde mein Großvater aufgrund von Verrat in einem Dorf gefangen genommen. In unserer Region gab es einen Arzt namens Hekim Bahkuni, der meinen Großvater behandelte. Er entfernte einige der 20 Kugeln, aber eine Kugel in seinem Hals konnte er nicht entfernen, da sie zu nahe an den Nervenbahnen lag. Da es zu gefährlich war, blieb die Kugel dort. Nach seiner Festnahme wurde Großvater für eine Weile ins Gefängnis Elazığ gebracht und dann nach Amed (Diyarbakır) überführt. Aus dem Kerker in Amed wurde er unter dem Vorwand, die Kugel entfernen zu wollen, ins Krankenhaus gebracht und dort mit Gift getötet.

Dorf zerstört

Während dieser Zeit wurde unser Dorf niedergebrannt und zerstört. Ein Teil der Familie wurde gefangen genommen und nach Amasya verbannt. Einige von ihnen flohen nach Rojava, während andere in Dörfern tiefer im Gebirge Schutz suchten. Unser Dorf bestand aus sieben Haushalten. Es gab einen Regimentskommandeur namens Derviş, der auch im Zusammenhang mit dem Aufstand von Agirî erwähnt wurde und eine Zeitlang im Dorf war. Zuvor hatte es einen Regimentskommandeur namens Ali Haydar gegeben, der den Rang eines Hauptmanns hatte. In Afyon wurde ihm ein Denkmal errichtet. Er hatte die Menschen in der Region schrecklich unterdrückt. (...) Mein Vater berichtete von der Situation, nachdem unser Dorf niedergebrannt worden war: „Wir waren 13 Personen und hatten nur noch eine Decke. Wir konnten alle unter dieser einen Decke leben.“ Als sich die Situation wieder änderte, ließen sie alles zurück und zogen in ein anderes Dorf. Sie verbrachten sieben Jahre in einem Dorf namens Tanzux und kehrten dann allmählich nach Kelaxsi zurück, um dort ihr Leben fortzusetzen.

Das war die Zeit, in der wir aufwuchsen und von den Heldentaten der 1925er Jahre hörten, von der Standhaftigkeit von Şêx Hüseyin, seinem Widerstand gegen ein ganzes Regiment und die grausame Art und Weise, wie er vom Sohn seines Onkels ermordet, enthauptet und sein Kopf nach Amed gebracht wurde. Wir hörten von Kalik (Kasim) Wêsî, der 40 Tage lang auf dem Platz in Kelaxsî gefoltert wurde, und wie fast alle seine Kinder bis auf eines ermordet wurden. Wir hörten, wie er dennoch seine Folterer verhöhnte. Egal wie Ali Haydar ihn ansprach, er erhielt die gleiche Replik. Wenn er ihn zum Beispiel „Qaso“nannte, nannte er ihn „Heydo“; wenn er ihn „Kasım“ nannte, nannte er ihn „Haydar“. Wenn er „Kasım Beg“ sagte, sagte er „Haydar Beg“. Kasım wurde 40 Tage lang gefoltert, sein ganzer Körper wurde mit heißen Spießen gequält, sie kochten Eier und steckten ihm diese unter die Achselhöhlen. Nach 40 Tagen der Folter starb Kasım.

Feyzi Bilgin wird nach seinem Abschluss vom Geheimdienst ermordet

Wir sind mit dem Widerstand von Yadin, Kasım und Zülfo aufgewachsen, mit Şêx Abdurrahim, der meinem Großvater bei seinen Kämpfen zugesehen hatte und dann sagte: „Onkel, ich habe nicht eingegriffen, um zu sehen, was für ein Held du bist." Mit anderen Worten, wir sind mit Ironie, Schmerz und der kurdischen Realität aufgewachsen. Das hatte natürlich Auswirkungen auf uns.

Mein Onkel Mehmet Bilgin war einer der 49er. [1] Damals sollte er vor Gericht gestellt werden, aber er war auf der Flucht, obwohl er ein Hauptmann in der Armee war. Dann gibt es noch Feyzi Bilgin, der zwar nicht oft erwähnt wird, aber eine wichtige Figur in der 68er-Jugendbewegung war. Er studierte an der medizinischen Fakultät und wurde an dem Tag, an dem er sein Diplom erhalten hatte, ermordet. Es sollte wie ein Unfall aussehen. Das Verfahren zog sich über Jahre hin, und wenn ich mich richtig erinnere, wurde es erst 1989 abgeschlossen, als der MIT [Türkischer Geheimdienst] zugab, dafür verantwortlich zu sein. Das ist die Realität unserer Familie, die immer noch andauert.

Weitere Gefallene in den 1925er Jahren

Auch die Berichte über den Vater von Lezgin und Rodi, den Vater von Ayfer... [auf ihrem Weg nach Rojava], wie er in den 1920er Jahren in der Ebene von Çaldıran im Alleingang ein schweres Maschinengewehr ausschaltete, haben einen großen Eindruck auf uns hinterlassen. Damals war er erst 13 oder 14 Jahre alt. Er ging dorthin und schaltete das Gatling-Geschütz, ein schweres Maschinengewehr, ganz alleine auf dem Hügel aus, damit sie ihren Weg fortsetzen konnten.

Auf ihrem Weg nach Binxet sind die Brüder Hasan und Yusuf in einem Gefecht gefallen. Dies löste große Trauer in der Gruppe aus, und alle waren betroffen. Diese Lebensweise und Geschichte wurden uns mündlich von der letzten Generation überliefert.

„Das ist die kurdische Realität“

Das war nicht nur bei uns so. Ganz Kurdistan befand sich in der gleichen Situation. Einige Familien lebten traditionell so. Zum Beispiel, als der bewaffnete Kampf am 15. August 1984 begann, wurden wir alle eine Woche lang in Gewahrsam genommen und dann wieder freigelassen. Dann wurden wir erneut vorgeladen. Ich war auf dem Weg nach Çewlîg. Dort gab es den Weiler namens Çirê Xirab, und dort befand sich auch ein Bahnhof. Wir fuhren dorthin mit einem Verwandten. Als wir ankamen und uns umsahen, sahen wir 150 Militärfahrzeuge, die bereitstanden. Natürlich hatten wir am Morgen kein Radio gehört, und zu dieser Zeit begann der bewaffnete Kampf in Dih [Eruh] und Şemzinan [Şemdinli]. Wir kamen an und es gab dort ein Kaffeehaus, also gingen wir in diese Richtung. Es waren keine Soldaten zu sehen, nur die Fahrzeuge standen dort. Natürlich waren wir völlig überrascht und fragten uns, was da los war. Ein Verwandter, ein älterer Mann, schlug vor, umzukehren, aber ich sagte, dass wir das nicht tun sollten, da sie uns erschießen würden, wenn wir das täten, und so gingen wir weiter.

Die Auswirkungen des 15. August

Haben Sie etwas vom Gefängniswiderstand in den frühen Jahren der Freiheitsbewegung mitbekommen?

Ja, wir wussten darüber Bescheid. Im September/Oktober '83 hatten bewaffnete Propagandaeinheiten der Guerilla uns erreicht, und wir hatten Informationen darüber. Aber wir wussten nicht, dass die Guerilla Dih und Şemzinan gestürmt hatte. Als wir dann zum Kaffeehaus kamen, stand ein Fahrzeug auf dem Platz. Ein Soldat stieg aus und rief uns zu: „Kommt her.“ Wir gingen zu ihm, und er stellte sich vor uns auf. Wir sahen, dass es der Offizier war, der uns in der Woche zuvor verhört hatte. „Wo wollt ihr hin?“, fragte er. Ich antwortete: „Wir gehen nach Bingöl.“ Er fragte: „Was ist los?“ Ich sagte: „Nichts.“ „Wie nichts?“, fragte er. Er gab mir den Eindruck, dass etwas passiert war, aber was? Ich sagte: „Ich weiß es nicht, warum, was ist los? Was ist passiert?“ Er sagte: „Weißt du nicht, dass Eruh und Şemdinli überfallen wurden?“ Natürlich wusste er es; er sagte, die PKK habe Eruh und Şemdinli überfallen. Da wurde mir klar, was vor sich ging. Ich erwartete, das Militär würde auf die Situation reagieren, wie es immer auf kurdische Aufstände in der Geschichte reagiert hatte. Dieses Gebiet war sowieso für das Militär eine rote Linie. Deshalb wurde der Ort umstellt, und es geschah, wie ich vermutet hatte. Die Einschätzung der kurdischen Freiheitsbewegung später war ebenfalls die gleiche. Der Staat hatte das gefährlichste Gebiet für sich unter Belagerungszustand gestellt. Die Guerilla hatte jedoch ebenfalls Maßnahmen ergriffen. Es war also so, dass der Staat genauso wie die traditionelle kurdische Widerstandskultur ihre alten Wege fortsetzten. Soweit wir sehen können, verfolgt der Staat diese Linie auch heute noch.

Nach der Aktion von Dih und Şemzinan im Jahr 1984 wurde unsere Region de facto zu einem Gefängnis, einem Kerker. Beim kleinsten Vorfall, dem geringsten Hinweis wurde das Dorf sofort umstellt und es kam zu Festnahmen. Das war damals so. Die Tatsache, dass es Razzien gab und einige Dinge ermittelt wurden, sowie die Tatsache, dass Heval Xebat (Ömer Hayri Konar), der derzeit in Imrali inhaftiert ist, den Soldaten entkommen konnte und nicht gefasst wurde, führten dazu, dass sich die Situation anders entwickelte als zuvor.

„Auch die Folter ist zur Tradition geworden“

Was war passiert? Können Sie etwas davon erzählen?

Es gab das Dorf Avnîk, in dem die Dorfbewohner einen Guerillakämpfer gefangen genommen und ihn dem Staat übergeben hatten. Das Militär ging dann natürlich erneut gegen Kelaxsî vor. Sie versammelten uns, und zu dieser Zeit muss Hayri geahnt haben, dass sie kommen würden. Er war auf dem Dach, als er sie kommen sah, und er entkam, indem er von Dach zu Dach sprang. Er wurde nicht gefasst. Sie brachten uns weg, und wir verbrachten eine Weile in Gewahrsam, bevor wir freigelassen wurden. Sie nahmen uns wegen der kleinsten Dinge fest, und für einige Tage wurden wir dann nach ihrem Ermessen behandelt. Die Folter ist bereits bekannt, man muss sie nicht weiter erläutern, sie ist zur Tradition geworden. In Kurdistan gab und gibt es so schlimme Folterungen, dass selbst diejenigen, die sie erlebt haben, es in normaleren Zeiten kaum glauben können. Und doch schaut die Welt einfach nur zu.

Sıddık Bilgin wird von der Militärpolizei ermordet

So ging es weiter. Im Juli '85 stürmte die Guerilla den provisorischen Militäraußenposten, den wir Bahnhof nannten. Im Jahr '84 hatte das Militär das Bahnhofsgebäude zu einem Außenposten umfunktioniert. Nach dieser Aktion nahm das Militär das gesamte Dorf ins Visier und trieb die Menschen zusammen. Zu dieser Zeit war ich in Xarpêt, während Sıddık in Çewlîg war. Sie versammelten einige unserer Verwandten, darunter meinen Onkel, der Dorfvorsteher war, und auch Hayris Bruder Ahmet wurde mitgenommen. Natürlich machte ich mich von Xarpêt aus auf den Weg nach Çewlîg. Man sagte mir, dass ich ebenfalls festgenommen werden würde. Also sagte ich: „Die Situation zeigt, dass wir wegmüssen. Lass uns nach Amed gehen und von dort aus irgendwie über die Grenze. Dann können wir darüber nachdenken, was wir machen.“ Weder Sıddık noch mein Onkel waren jedoch damit einverstanden. In dieser Nacht kamen wir in Çewlîg an und übernachteten in der Wohnung von Sıddıks Schwester. Während dieser Nacht stürmte die Militärpolizei das Haus und nahm uns gefangen. Sie sperrten uns in dieser Nacht im Kohlenkeller des Hauptquartiers der Militärpolizei ein, und nachdem der Keller abgeschlossen war, kam niemand mehr zu uns und niemand fragte nach uns. Das ging etwa bis zwei Uhr am nächsten Tag so. Jeden Tag um zwei Uhr kam der Zug in unser Dorf und fuhr in Richtung Xarpêt. Zu dieser Zeit kamen sie, legten uns Handschellen an und brachten uns zum Bahnhof. Dort wurden wir zuerst in die Polizeiwache am Bahnhof gebracht, wo wir eine Weile gefoltert wurden. Danach brachten sie uns zurück ins Dorf. Sowohl die Dorfschule als auch der Platz davor waren zu Orten der Folter geworden. Andere festgenommene Dorfbewohner befanden sich ebenfalls dort. Einige von ihnen hatten sie an Haken aufgehängt, während andere auf den Boden gelegt und wie Jesus gekreuzigt wurden. Die Folterungen waren grausam. Sıddık wurde dort umgebracht, und wir wussten nicht, dass er gestorben war, da unsere Augen verbunden waren. Ein Arzt wurde gerufen, der erklärte: „Der hier wird es auch nicht schaffen. Lasst ihn gehen.“ Daraufhin wurde ich freigelassen und ging sofort zu meinem Onkel. Von dort aus gelangte ich zum anderen Bahnhof und fuhr nach Xarpêt. Ich blieb dort jedoch nicht, da die Soldaten die anderen festgenommen und das Dorf verlassen hatten. Nachdem sie weg waren, bin ich sofort gegangen. Meine Tante sagte mir später, dass die Soldaten zurückgekommen waren, um mich erneut festzunehmen, aber ich war bereits weg. Sie hatten Sıddık einfach so auf der Straße erschossen und taten so, als ob er versucht hätte zu fliehen.

Das Dorf wird erneut niedergebrannt

Während dieser vier bis fünf Tage konnte sich niemand um die Tiere kümmern. Das Militär drohte, dass entweder alle das Dorf verlassen müssten oder wir alle erschossen würden. Nachdem wir uns ein wenig erholt hatten, hatten sie die anderen festgenommen, und alle wurden gezwungen, das Dorf zu verlassen. Dann wurde das Dorf trotzdem niedergebrannt, ähnlich wie 1925. Wir wurden zerstreut; einige gingen nach Adana, einige kamen nach Xarpêt. Wir reisten zuerst nach Amed und dann nach Dara Hênî. In der Zwischenzeit wurde ich erneut festgenommen... Ich verbrachte etwa 20 Tage in Haft und wurde dann wieder freigelassen. Danach kehrten wir in die Stadt zurück und blieben dort eine Weile. Im Sommer pendelten wir zwischen der Stadt und unseren ländlichen Gebieten, um uns um unsere Viehzucht und landwirtschaftliche Arbeit zu kümmern. Dann verkündete Turgut Özal eine Amnestie, und ich sollte wieder als Lehrer arbeiten können. Der ermordete Sıddık Bilgin hatte kleine Kinder hinterlassen, und auch ich hatte kleine Kinder. Die Gefahr war groß. Nach '85 bestanden unsere Freunde darauf, dass ich ins Ausland gehe. Ich sagte: „Wohin sollte ich gehen, wenn ich diese kleinen Kinder zurücklasse?“ Die Freunde lachten, als ich sagte, dass ich auch nicht gehen würde, selbst wenn Deutschland hinter der Brücke liegen würde. Als Özal dann seine Amnestie erließ, bestand die Familie darauf, dass ich zurück in den Schuldienst gehen und mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen sollte. Wir hatten drei kleine Kinder von dem Verstorbenen und vier kleine Kinder von mir, insgesamt also sieben Kinder zu versorgen.

Wen meinen Sie mit Verstorbenen?

Sıddık Bilgin. Wir sind Cousins und Schwager. Aber auch Lezgin und Rodin waren bei uns. Sie sind auch verstorben.

Können Sie ein bisschen von ihnen erzählen?

Als mein Onkel starb, waren die Kinder meines Onkels noch sehr jung. Lezgin war so klein, ein süßes, schönes Kind. Rodi war genauso. Er war strohblond. Sie waren sehr besondere Kinder. Sıddık war auch so. Er kümmerte sich um die Menschen, er liebte die Menschen... Das ist unsere Familientradition. Ich habe mich viel mit den Traditionen anderer Şêxs auseinandergesetzt, und das war für mich ein bisschen seltsam. Mein Vater kam nicht aus einer Koranschule. Er hatte sich mit linker Kultur beschäftigt. Manchmal zog er mich damit auf und ich ihn. Unsere Familienkultur war anders als die anderen. Manchmal habe ich meinen Vater geneckt und gesagt: „Dass du Şêx bist, ernährt dich nicht. 80-jährige Männer kommen, küssen die Hände von 18-jährigen Jugendlichen und stecken ihre Hände in die Taschen. Ich bin es leid, zu dienen, ich sehe darin nichts.“

In unserer Familie gibt es eine Kultur, die sich auf Wissen, auf Wissenschaft und auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme stützt und sich auf dieser Grundlage immer für die Menschen einsetzt und sie wertschätzt. Das passt nicht sehr gut zur Tradition der Şêxs. Aus diesem Grund sind fast alle jungen Leute aus unserer Familie wie Menschen aus dem Volk aufgewachsen. Deshalb wurden sie auch vom Volk geliebt und geschätzt, denn sie stehen in einer Tradition, in der sie sich als Teil des Volkes verstehen und versuchen, dessen Probleme zu lösen, indem sie sie als ihre eigenen Probleme betrachten. Sie wurden von allen geliebt. Ich kann sagen, dass selbst diejenigen, die uns am häufigsten anzeigten, den Weggang dieser jungen Menschen nicht ertragen konnten.

Könnten Sie etwas von Rodi erzählen?

Rodi war noch sehr jung. Er ging aufs Gymnasium. Bei uns gibt es in der Region Gökdere die Dörfer Hul und Tanzux. Sein Vater, Onkel Abdulhamit, war eine Zeit lang allein in den Bergen, nachdem mein Großvater in den 25er Jahren gefangen genommen worden war. Mein Großvater schickte Nachrichten aus dem Gefängnis. Natürlich war er noch sehr jung. Er war erst 13 Jahre alt gewesen, als er 1925 das Gewehr in die Hand nahm. Mein Großvater sagt, er solle nicht hierbleiben, er solle nach Binxet gehen, sonst würden man ihn nicht leben lassen. Auf die Bitte meines Großvaters hin ging er wieder nach Binxet.

Er blieb bis 1951 in Binxet. 1951 ging mein Vater hin und zwang ihn zurückzukommen. Manchmal, wenn er wütend war, sagte er: „Wenn Muhittin nicht gewesen wäre, wäre ich nicht hierhergekommen. Er hat mich gezwungen zu kommen.“ Wir sagten: „Du hättest nicht kommen sollen. Warum bist du gekommen?“  Er sagte: „Er ist immer zu mir gekommen. Ich kam zurück, damit er nicht eines Tages den Minen zum Opfer fällt. Denn es gibt überall Minen." Als seine erste Frau starb, heiratete er erneut. Deshalb waren die Kinder noch jung, als er starb. Sie gingen noch in die Grundschule. Später gingen wir gemeinsam in die Schule.

Mit dem Arbeitsvisum nach Deutschland

Ich kam nach Europa, als Rodi noch zur Schule ging. Damals war ich vorübergehend in Europa und hatte ein Arbeitsvisum. Ich war Lehrer. Als ich Çewlîg verließ, wurde unsere Gruppe festgenommen. Nach einer Weile kamen einige von ihnen wieder heraus und riefen mich an. Sie sagten: „Komm nicht zurück.“ Ich fragte: „Warum, habt ihr denn geredet?“ Sie antworteten: „Komm nicht zurück.“ Sie nannten einen Namen und sagten, er hätte Aussagen gemacht. Also kam ich nicht mehr zurück.

Später sprach ich mit dieser Person. Er sagte: „Sie haben mir keine andere Wahl gelassen, als mich zum Reden zu zwingen." Natürlich ging es dabei um Folter, aber letztendlich war ich ja nicht da. Ich kam 1992 hierher und erhielt 1993 Asyl. Seitdem bin ich hiergeblieben. In dieser Zeit habe ich viel Repression erlebt.

Lezgin Bilgin fällt nach wenigen Monaten in Rubarok

Mein Onkel liebte die Natur sehr. Er hatte einen mehrere Hektar großen Garten, in dem alle möglichen Arten von Obst wuchsen. Oberhalb davon befand sich auch ein Weinberg von zwei bis drei Hektar. In der Mitte dieses Anwesens hatte er damals ein Haus gebaut, in dem er lebte. Die Guerilla kam immer wieder dorthin. Ayfers Mutter pflegte mit dem Zug in die Stadt zu kommen. So war es, als ich noch dort war. Dann fuhr sie wieder zurück. Ich fragte sie: „Warum bist du gekommen?“ Sie antwortete: „Ich bin gekommen, um euch zu sehen.“ Sie brachte Medikamente, Verbandsmaterial usw. Natürlich hatte sich Lezgin angeschlossen, als ich noch dort war. Lezgin wurde festgenommen und gefoltert. Er verbrachte eine Zeit in Gefangenschaft. Nach der Folter kam er wieder frei und kämpfte nun aktiv mit. Eine Zeit lang blieb er in Çewlîg, dann wechselte er nach Xarpêt... Bevor ich nach Deutschland kam, ging er in die Gegend von Qendîl. Ich habe oft gesagt, er solle nicht nach Qendîl gehen, sondern zu Rêber Apo. Er antwortete: „Die Freunde hielten es für notwendig, dass ich dorthin gehe, also werde ich dorthin gehen. Wenn ich woanders hingehen soll, dann werde ich auch dorthin gehen.“ Und so ging er. Er war nicht lange bei der Guerilla, höchstens sechs oder sieben Monate, dann fiel er in Rubarok.

Rodi machte zusammen mit Gurbetelli Ersöz Pressearbeit

Nun richtete sich die Repression gegen Rodi. Es wurde deutlich, dass er nicht länger bleiben konnte, und er musste den Ort verlassen. Ayfer brachte ihn anschließend nach Elazığ, wo sie sich niederließen. Dort setzte er nicht nur seine Schulausbildung fort, sondern war auch in der Presse tätig. Zu dieser Zeit war auch Gurbetelli Ersöz in der Presse tätig, neben anderen organisatorischen Aktivitäten. Er und Gurbet waren eine Zeit lang dort aktiv. Sie schickten eine Gruppe, die jedoch in einer Garage festgenommen wurde, vermutlich aufgrund einer Anzeige. Rodi wurde ebenfalls festgenommen und natürlich verhaftet. Man brachte ihn ins Gefängnis von Elbistan, und nach einer Weile in Elbistan wurde er nach Tokat verlegt.

Schwester, wenn ihr keine Öffentlichkeit schafft, werden sie mich exekutieren”

Zu dieser Zeit war ich in Deutschland inhaftiert und befand mich im Hamburger Gefängnis. Wir waren Ende '94 verhaftet worden, und es war nun November '96. Eines Tages, ich weiß nicht mehr, ob ich es in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört habe, aber ich glaube, ich habe es in der Zeitung gelesen, wurde Rodi aus dem Gefängnis ins Krankenhaus gebracht und dort ermordet. Er war bei einem Freund.

Es gab verschiedene Behauptungen. Man sagte, dass Rodi die Waffe des Offiziers genommen und versucht hatte zu fliehen und ähnliches... Dann ergab der Autopsiebericht, dass sowohl er als auch der Beamte durch Kugeln aus derselben Waffe gestorben waren. Schon bei seinem letzten Besuch hatte er Ayfer gewarnt und gesagt: „Schwester, wenn Ihr keine Öffentlichkeit schafft, werden sie mich exekutieren.“ Er hat diese Warnung ausgesprochen, aber natürlich passieren den Menschen manchmal Dinge, die sie nicht vorhersehen können. So wurde er ermordet.

Früher hatte er das bereits gesagt, aber wir haben dem nicht viel Glauben geschenkt. Später haben wir gemerkt, dass es wahr ist. In den Archiven, in allen Archiven des Staates, gibt es rote Markierungen an den Namen unserer Familien, die in dieser Widerstandstradition stehen. In allen Akten. Sogar im Standesamt. Sie wurden auf diese Weise gekennzeichnet. Jetzt nennt man das Erfassung, das heißt, der Staat hat seine eigene Tradition und sein eigenes Archiv auf diese Weise organisiert.

Nach dem Tod von Rodi traten viele Menschen bei”

Im Gefängnis erfuhr ich von Rodis Tod. Natürlich hatte dies unterschiedliche Auswirkungen auf uns alle. Die Situation beeinflusste nicht nur unsere unmittelbare Kernfamilie und unseren engen Familienkreis, sondern auch die gesamte Nachbarschaft sowie alle, die uns nahestanden. Viele junge Menschen entschlossen sich daraufhin, sich dem Freiheitskampf anzuschließen. Der Tod von Sıddık, die Verbrennung und Zerstörung des Dorfes, und dann der Verlust von Lezgin und später Rodi haben uns alle tief getroffen. Viele Menschen aus unserem engsten Umfeld schlossen sich der Guerilla an, und es gab zahlreiche Gefallene. Das setzt sich bis heute fort.

Für unsere Familie würde ich sagen, dass wir eine Generation verloren haben. Die ältere Generation hat sich weitgehend zurückgezogen und isoliert. Diejenigen, die nach uns kamen, haben hingegen ihren eigenen Weg gefunden, aber einige von ihnen sind auch davon abgekommen.

Betrachtet man es so, handelte es sich nicht nur um bestimmte Familien. In einigen Familien wurde es vielleicht deutlicher sichtbar, aber insgesamt wurde der Widerstand zu einer Tradition in weiten Teilen der Gesellschaft, und viele schlossen sich dem Freiheitskampf an. Es entwickelte sich eine Tradition, und fast alle Familien haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich mache mir Sorgen darüber, welche Auswirkungen dies auf die Gegenwart und die Zukunft haben kann, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden.

Wenn man es so betrachtet, ging es nicht um einzelne Familien. Vielleicht wurde diese Situation in bestimmten Familien viel deutlicher, aber im Allgemeinen wurde der Widerstand zu einer Tradition in breiten Teilen der Gesellschaft, die dann am Freiheitskampf teilnahmen. Es entwickelte sich eine Tradition. Fast alle Familien haben die gleichen Dinge erlebt. Ich bin besorgt, was das für Auswirkungen auf die Gegenwart und die Zukunft haben kann, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden.

Andererseits haben die Familien beschlossen, die Tradition fortzusetzen. Soweit wir wissen, sind sowohl die Kinder von Sıddık Bilgin als auch Ihre Kinder in der Freiheitsbewegung engagiert. Gibt es in dieser Hinsicht im Allgemeinen Probleme?

Was das Engagement für die Sache betrifft, so gibt es in den von mir genannten Familien kein Problem, und auch wir haben kein solches Problem. Aber uns fehlen Führungspersönlichkeiten, die auf dem gewünschten und erforderlichen Niveau arbeiten. Das ist das Problem. Ich denke, daher sollten entsprechende Maßnahmen entwickelt werden. Natürlich kann man das nicht losgelöst von unserer Geschichte betrachten. Der Entwicklungsprozess unserer Geschichte verlief ebenfalls auf diese Weise. Die Traumata, die durch traditionelle Aufstände entstanden sind, und die Traumata, die durch diese Ereignisse entstehen...

„Wir haben eine Generation verloren, aber eine Kultur des Widerstands geschaffen“

Zum Beispiel sind wir, wie bereits gesagt, mit Heldentaten aufgewachsen. Aber es gibt auch Traumata, die durch diese Heldentaten entstanden sind. Diese Traumata wurden in unserer Gesellschaft nicht überwunden und setzen sich exponentiell fort. Ein Trauma wurde erlebt, und bevor seine Auswirkungen überwunden waren, trat ein weiteres Trauma auf. Diese Traumata machen unsere soziale Realität aus. Die Transformation dieser sozialen Realität fand durch die Freiheitsbewegung statt. Diese Umwandlung muss weiter verstärkt werden, denn die Kurden haben keine andere Wahl. Aus diesem Grund haben wir zwar eine wichtige Generation verloren, aber eine Kultur des Widerstands wurde geschaffen. Diese Kultur muss weitergeführt werden.

„Mit dem 15. August kam Hoffnung auf“

Nun sind 40 Jahre seit dem 15. August vergangen. Was hat dieser Tag für eine Bedeutung für Sie? Welche Bedeutung hat er für die Zukunft?

Die Menschen in Kurdistan hatten gehofft, dass es schon früher zu so etwas kommen würde. Vielleicht konnte man das damals noch nicht so sagen, aber nach und nach wurden diese Hoffnungen verwirklicht. Eines Tages traf ich einen alten Mann, der die 1925er Jahre erlebt hatte und sein Augenlicht verloren hatte. Ich setzte mich neben ihn und fragte, wie es ihm gehe. Er sagte: „Ich glaube jetzt.“ Ich fragte: „Woran glauben Sie?“ Er sagte: „Ich habe darüber nachgedacht; wissen Sie, es gibt einen Baum an unserem Tor. Wenn der Sturm immer wieder an diesem Baum rüttelt, werden seine Wurzeln geschädigt und er wird irgendwann austrocknen. Ich dachte, dass dies derselbe Weg ist: Sie werden diesen Staat erschüttern und immer wieder erschüttern, bis er irgendwann austrocknet.“ Das war die Hoffnung, die mit dem 15. August aufkam.

„Wir hatten die falsche Vorstellung, dass es schnell gehen würde“

Wir hatten damals die falsche Vorstellung, dass es schnell gehen würde. Die Vorstellung, dass es so lange dauern würde, war zu diesem Zeitpunkt unrealistisch. Es war undenkbar. Natürlich haben die Zeit und die Umstände zu einer solchen Entwicklung geführt. Dafür gibt es sowohl innere als auch äußere Gründe. Aber es ist auch eine Tatsache, dass es kein Zurück mehr gibt. Unsere damalige Generation hatte jedoch immer Hoffnung. Nach dem Aufbruch vom 15. August war sie lebendig, pulsierend und großartig.

Vielleicht wissen es diejenigen, die diese Zeit nicht erlebt haben und diesen Prozess nicht kennen, heute nicht mehr, aber wenn wir zurückblicken, können wir deutlich sehen, aus was für einer Situation wir gekommen sind und wo wir heute stehen. Es war ein Kampf um Sein oder Nichtsein in Kurdistan. Ein Mitglied der Militärpolizei konnte die ganze Gesellschaft gefangen nehmen und missachten. Aus dieser Missachtung heraus sind wir bis in die heutige Zeit fortgeschritten.

„Die kurdische Identität war auf ein Nichts reduziert worden“

Mein Vater pflegte zu erzählen, und er bezog sich damit auf alle Kurd:innen: „Ein Mann geht auf die Polizeiwache. Ein Korporal sagt: ‚Sohn, komm und setz dich zu uns, trink eine Tasse Tee mit uns.‘ Er spielt sich auf. Der Mann denkt, er hat mich seinen Sohn genannt, dabei ist er im Alter meines Enkels.“ Eine solche Situation wurde in Kurdistan geschaffen. Die Umkehrung dieser Realität und die Tatsache, dass dieser Mensch heute als ehrenwerte Persönlichkeit mit erhobenem Haupt herumlaufen kann, das ist eigentlich die größte Leistung der Kurdinnen und Kurden.

Die kurdische Identität war tatsächlich zerstört und auf ein Nichts reduziert worden. Die Gründe dafür waren natürlich auch die Massaker. Mein Großonkel Burhanettin zum Beispiel, der die 1925er Jahre im Alter von sieben oder acht Jahren erlebt hat, konnte diese letzte Phase nicht verkraften. Er hat sich nichts mehr getraut und sich an mich geklammert. Er sagte: „Tu nichts, gib keinen Laut von dir, sie werden dich töten wie Sıddık. Du bist der Einzige, der noch übrig ist, lass nicht zu, dass sie dich auch mitnehmen.“ Obwohl er innerlich brannte, das sah man manchmal, wenn wir uns unterhielten und er wütend wurde, wenn ein türkisches Wort in unserem Zazaki verwendet wurde und sagte: „Ihr verfolgt eine kurdische Sache, aber ihr sprecht Türkisch.“ Aber trotzdem wagte er es nicht, ein organisierter Kurde zu werden. Denn er hatte dieses Trauma selbst erlebt. Auf dem Weg von Çilbiran nach Binxet war er sogar in ein Gefecht geraten. Mein Onkel Gıyasettin, der jünger war als er, wurde während der Auseinandersetzungen auf einem Dach vergessen. Als sie merkten, dass Gıyasettin nicht da war, kamen sie zurück und holten ihn. Solche Traumata haben die Menschen erlebt. Diese Traumata haben die Familie tief getroffen.

„Die Freiheitsbewegung verankerte eine gesellschaftliche Moral“

Egal, welches gesellschaftliche Problem in der Region auftrat, unsere Familie war an der Lösung beteiligt, sie versuchte alles, um es zu lösen. Diese Tradition ermöglichte es uns, sowohl die kurdische Kultur und die kurdische Identität zu bewahren als auch mit der Freiheitsbewegung zusammenzukommen. Denn die Kultur, die die Alten gelebt und am Leben erhalten haben, die soziale Kultur, die Moral, die Suche nach unseren Rechten, all das macht uns aus. Als die Freiheitsbewegung dies vergesellschaftete, trug es Früchte. Das hält bis heute an.

In der Türkei und in Deutschland verfolgt

Das hat auch mit unserer Migration ins Ausland zu tun. Ich hatte nicht die Absicht, hier in Deutschland zu bleiben. Dann zwang uns die Situation jedoch zum Bleiben. Aber ich habe hier ein Leben mit der Einstellung, dass ich jederzeit zurückkehren würde, geführt. Deshalb habe ich die Familie nicht mitgebracht. Dann kam ich ins Gefängnis.

Warum kamen Sie ins Gefängnis?

Wegen meiner Beteiligung an der Bewegung. Drei Personen standen mit mir vor Gericht. Ich habe dreieinhalb Jahre Haft bekommen. Ein Freund erhielt vier Jahre und ein anderer fünf Jahre. Wir haben die Zeit abgesessen und sind wieder draußen.

Sie wurden also in der Türkei verfolgt, aber auch in Deutschland?

Es geht weiter. Viele Kurden haben eine ähnliche Situation erlebt. Sie haben sowohl in den Gefängnissen dort als auch hier in Deutschland gesessen. Zum Beispiel Muzaffer Ayata und viele andere Freunde, an deren Namen ich jetzt nicht mehr erinnere. Sie haben 20 Jahre in der Türkei im Gefängnis verbracht und sind dann hierhergekommen und erneut im Gefängnis gelandet.

Nach meiner Entlassung versuchte ich, meine Familie nachzuholen. Zuerst stellte ich einen offiziellen Antrag, sie hierherzuholen, doch das Innenministerium intervenierte und verweigerte die Erlaubnis. Wir konnten sie nicht herbringen, und ihre Pässe wurden annulliert. Dann holte ich den ältesten Sohn von Sıddık über die Universität hierher, dann seine Tochter, danach meine Tochter. Ayfer kam illegal hierher, gefolgt von anderen. Zelal (Bilgin) war die Letzte, die übrig blieb. Zelal war Krankenschwester, doch dann wurde sie durch ein Dekret suspendiert und zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Sie sitzt in Sincan ein.

Hier im Exil versuchen wir, das Leben aufrechtzuerhalten, wenn man es überhaupt Leben nennen kann. Aber wir hoffen, dass unser Volk und unser Land so bald wie möglich ihre Freiheit erlangen werden.

 


[1] Der Prozess der 49 wurde 1959 eigentlich gegen 51 Männer unter dem Vorwurf des Separatismus und der kurdischen Propaganda geführt. Er war eine Initialzündung für die Fortsetzung des kurdischen Widerstands. Mehmet Bilgin war wegen Hochverrat und Separatismus angeklagt.