Ein universalistischer Internationalist

Der Friedensaktivist und Kommunist Claus Schreer spricht in einem post mortem veröffentlichten Interview über seine Unterstützung des kurdischen Freiheitskampfes und seine Erlebnisse in Kurdistan.

Interview mit Claus Schreer (3. Juni 1938 – 24. August 2023)

Soziale Bewegungen in München ohne Claus Schreer? Undenkbar! Kämpfe für eine gerechtere Gesellschaft ohne Kriege, Faschismus, Ausbeutung, Rassismus und soziale Ungleichheit waren in der bayerischen Landeshauptstadt und darüber hinaus immer mit seinem Namen verbunden. Er war sein ganzes Leben lang Kommunist. Undogmatisch, mit viel Herz und viel Verstand prägte er Generationen an jungen Aktivist:innen. An Ostern 1968 war er bei den Blockaden gegen Springer vorne mit dabei und wurde von der Polizei das erste Mal eingesperrt. 1993 unterstützte er zusammen mit Überlebenden des Nazi-Regimes den Kampf von Sinti und Roma in Dachau um ihr Bleiberecht. Seit 2001 organisierte er die Proteste gegen die sogenannte „Münchner Sicherheitskonferenz“ (SiKo), 2002 wurde er als Pressesprecher des Protestbündnisses in Unterbindungsgewahrsam genommen. In der Zeit des zweiten Irakkriegs nannte er den angereisten US-Außenminister Rumsfeld einen „berufsmäßigen Kriegsverbrecher und Massenmörder“. Als die G7-Staaten ihren Gipfel in die bayerischen Alpen verlegten, meldete er eine Demo in Garmisch-Partenkirchen an. Wenn die Bundeswehr Werbung für sich machen wollte, organisierte er den Protest dagegen.

Dafür, dass er auf einer Kundgebung ein Porträt des kurdischen Politikers Öcalan trug, wurde er 2022 zu einer vierstelligen Geldstrafe verurteilt, die er bis zuletzt nicht akzeptierte. Das ist ein Hinweis auf seine prinzipiell internationalistische Haltung. Claus stand in den 1980er Jahren im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss und gegen weitere Hochrüstung in erster Reihe. Mitte der 1980er und in den 1990er Jahren reiste er drei Mal in Solidarität nach Kurdistan, wurde dort von türkischen Sicherheitskräften geschlagen und in Gewahrsam genommen. Dort sah er wie deutsches Kriegsgerät gegen Kurd:innen eingesetzt wurde und setzte sich noch vehementer gegen deutsche Rüstungsexporte ein. Als Kommunist hatte er Kritik am Konzept des Demokratischen Konföderalismus und an der Fokussierung der kurdischen Bewegung in Europa auf nur sie betreffende Themen. Dies minderte seine prinzipielle Solidarität jedoch nicht.

In diesem post mortem veröffentlichten Interview spricht Claus über seine Unterstützung des kurdischen Freiheitskampfes und seine Erlebnisse in Kurdistan. Das Interview wurde 2020 im Rahmen einer Doktorarbeit zur Geschichte der Solidaritätsbewegung mit Kurdistan geführt und wird hier gekürzt veröffentlicht. Es schmerzt uns, dass er dieses Interview nicht mehr selbst redigieren konnte.

Wie bist du politisiert worden und was waren wichtige Schritte deiner politischen Arbeit?

Politisch aktiv bin ich seit 60 Jahren. Los ging das mit meiner Wehrdienstverweigerung 1957. Da habe ich mich der Internationalen der Kriegsdienstgegner1 angeschlossen und habe den Kriegsdienst verweigert. Dann bin ich in die Ostermarschbewegung eingestiegen, die in München 1961 losging. Die habe ich hier in München damals mit organisiert.2 Ich war dann in den ganzen Bewegungen, die es damals gab, gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetze, aktiv. Die Ostermärsche richteten sich hauptsächlich gegen die Pläne der Adenauer-Regierung und Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, die Bundeswehr atomar zu bewaffnen und gegen die 7.000 in Westdeutschland stationierten Atomwaffen. Die Ostermärsche nannten sich Ostermarsch der Atomwaffengegner. Mitte der 1960er änderte sich das etwas. Da kamen die ganzen anderen Probleme hinzu: Es ging um die Anerkennung der DDR, um Abrüstung und um eine atomwaffenfreie Zone. In Mitteleuropa gab es den Rapacki-Plan3, den wir damals unterstützt haben. Und dann kamen natürlich Vietnam und die Notstandsgesetze dazu. Wir haben damals alles mitorganisiert. Es gab eine eigene Struktur mit einem Komitee gegen die Notstandsgesetze, bundesweite Kongresse und Demonstrationen in Frankfurt und auch in München.

Dann kam die 68er-Bewegung und die Studentenbewegung. Im April 1968 war das Attentat auf Rudi Dutschke und am 2. Juni wurde Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen das Schah-Regime erschossen. Wir haben auch hier Proteste organisiert, weil der Schah auch nach München kam. Und Ostern 1968 haben wir die Springer-Druckerei in München blockiert, drei Tage lang. Die Auslieferung der Bild-Zeitung sollte verhindert werden und zum Teil ist uns das gelungen, weil wir riesige Blockaden um die Druckerei in München gemacht haben.4

Die ganze Demokratie-Frage kam dann natürlich dazu. Die Ostermarschbewegung hatte sich Mitte der sechziger Jahre in Kampagne für Demokratie und Abrüstung umbenannt, aber Anfang der 70er Jahre ist das eingeschlafen. Das hing damit zusammen, dass mit der Studentenbewegung neue Initiativen, neue Gruppierungen, verschiedene sozialistische Organisationen entstanden sind, die es vorher nicht gegeben hat. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) wurde 1968 gegründet.

Die Ostermärsche haben dann nicht mehr stattgefunden und 1971 war der Letzte in München. Wir konzentrierten uns auf andere Dinge, vor allem auf die soziale Frage. Es gab Streiks und viele der Gruppierungen, wie die DKP oder sozialistische Organisationen, die vorher die Ostermärsche mit organisiert hatten, haben dann andere Schwerpunkte gehabt. 1972 bin ich in die DKP eingetreten. Bei der Neugründung 1968 hatte ich ziemliche Probleme, weil ich damals eine Demonstration in München mitorganisiert hatte, die sich gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR aussprach. Ich bin aber dann 1972 in die DKP eingetreten und habe ungefähr 15 Jahre lang schwerpunktmäßig kommunalpolitische Themen bearbeitet. Die ganze Wohnungsfrage war damals sehr präsent in München. Umwandlung und Spekulation hatten damals ziemliche Ausmaße angenommen. Ähnlich schlimm wie heute, vielleicht teilweise sogar schlimmer. In München gab es den sogenannten „weißen Kreis“ und den „schwarzen Kreis“5. „Schwarzer Kreis“ bedeutete räumliche Mietbegrenzungen. Die fielen alle weg und dadurch hatten die Altbauwohnungen keinen Kündigungsschutz mehr. Damit hat diese ganze Umwandlungsspekulation begonnen. Wir haben hier in Neuhausen6 viel gemacht zu der Zeit. Es gab in München große Demonstrationen, Mietersternmärsche und Kundgebungen. Mit ähnlichen Forderungen, wie sie heute wieder gerufen werden: Mietenstopp, gegen Umwandlung, gegen Spekulation. In den 1970er bis in die 1980er Jahre habe ich hauptsächlich das gemacht.

Dann haben wir Anfang 1990er hier in München das Bündnis gegen Rassismus gegründet. Das war dann der Schwerpunkt meiner politischen Arbeit. Die Gründung hing damit zusammen, dass 1991/1992 die Anschläge auf Flüchtlingsheime in Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und so weiter stattgefunden haben. Unser Kampf richtete sich gegen diese unheimliche Hetzkampagne gegen Flüchtlinge und die Änderung des Grundgesetzes, mit der Änderung des Asylparagraphen. Das hat bis Ende der 90er Jahre eine Rolle gespielt.

Anfang 1990, mit dem US-Krieg, dem Einmarsch im Irak, gab es schon einen gewissen Aufschwung der Friedens- und Antikriegsbewegung. Wir hatten große Demonstrationen damals. 1999, mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien, hat die Kriegsfrage wieder mehr eine Rolle in der oppositionellen Bewegung gespielt. Und dann hat sich das Bündnis gegen Rassismus umbenannt in Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus. Das gibt es bis heute noch. Das Bündnis besteht nicht aus Organisationen, sondern aus Einzelpersonen aus verschiedenen Organisationen. Es ist bis heute in München der Motor für die Proteste gegen die NATO-Sicherheitskonferenz. Wenn wir das nicht jedes Jahr anschieben, dann würde nichts passieren.

Wie bist du zur Kurdistansolidarität gekommen?

Zu Kurdistan bin ich mit dem Verbot der PKK 1993 gekommen. Da haben wir 1994 in München ein Kurdistan-Solidaritätskomitee gegründet. Das ging aus dem Bündnis gegen Rassismus hervor. Nach dem PKK-Verbot gab es unheimlich viel Repression gegen Einzelpersonen, aber auch gegen kurdische Vereine, die verboten wurden. Wir haben dann Proteste organisiert gegen die Verbote. Das ging die ganzen 1990er Jahre so. Am Anfang haben ungefähr 100 Einzelpersonen den Aufruf zur Gründung des Kurdistan-Solidaritätskomitees unterstützt. Mit diesem Komitee haben wir dann alle möglichen Veranstaltungen und Aktionen gemacht.

Aufruf zur Demonstration „Keine Abschiebung und Waffenlieferung in die Türkei“ am 23.04.1994 in München

Riesige Repression hat es zum Beispiel im April 1994 gegeben. Da sollte in München ein Prozess stattfinden gegen die Konsulatsbesetzer7. Da haben wir eine Demonstration angemeldet. Dann gab es einen riesigen Aufstand und alles ist verboten worden. Das war das erste Mal, dass es zu einem Totalverbot von Demonstrationen kam. Eine schweinische Berichterstattung. Die Polizei und der Verfassungsschutz haben behauptet, die Kurden mobilisieren nach München und dann haben das bayrische Innenministerium und der Münchner Oberbürgermeister alles verboten. Selbst eine Mahnwache der Initiative Bayrischer Strafverteidiger ist verboten worden. Es gab ein Totalverbot für die Stadt. Wir haben dann erst eine Woche später eine Demonstration gegen das PKK-Verbot organisiert. Insgesamt wurden 4000 Polizisten zusammengezogen, da behauptet wurde, 10.000 Kurden aus der ganzen Bundesrepublik kommen zu dem Prozess. Auf Autobahnen und an Zufahrtsstraßen, gab es überall Kontrollen. „Bürgerkriegsatmosphäre“ hat die Süddeutsche Zeitung (SZ) geschrieben. Dann stand in der SZ: „Aber der Feind taucht nicht auf. Nicht einmal harmlose Kurden bekamen die Ordnungshüter zu Gesicht.“ Weiter aus der SZ: „Das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus und die PKK hatten den Staat herausgefordert und ihn zur Präsenz tausender Polizisten und Grenzschützer genötigt, die Staatsgewalt zu Überreaktionen und Missfälligkeiten gegen die Zivilbevölkerung, zu Straßensperren und Belästigungen unbescholtener Bürger gezwungen. Der bayrische Rechtsstaat wurde als Polizeistaat vorgeführt.“ [Lacht] Und der Autor machte sich natürlich lustig, wie der Verfassungsschutz und die Polizei darauf gekommen sein können: „Hat wirklich jemand geglaubt, die PKK würde 3.000 ihrer besten Kader ins belagerte München schicken, in die Höhle des Löwen? Das bayrische Innenministerium wird sich demnächst mit der Taktik des Guerilla-Krieges beschäftigen müssen.“ Zitat aus der Süddeutschen. Das war eine ziemlich lustige Angelegenheit. Naja, nur eigentlich.

Saßen in dem Kurdistan-Solidaritätskomitee auch Vertreter:innen der kurdischen Bewegung?

Nein, das waren hauptsächlich Deutsche, die sich solidarisiert haben mit den Kurden und sich gegen ihre Verfolgung und Repression stellten. Es gab in München als Erstes einen kurdischen Elternverein, wo sich die Kurden getroffen und natürlich politisch organisiert haben. Zum Beispiel haben sie auch Newrozfeste veranstaltet. Der Elternverein ist mehrmals von der Polizei gestürmt worden. Hausdurchsuchungen, Leute wurden festgenommen, es gab ständig Repression gegen die Kurden. Wir haben dagegen Öffentlichkeit hergestellt und Veranstaltungen gemacht.

Flyer von Newroz 1995 auf dem Münchener Marienplatz. Layout Claus Schreer

Zum Beispiel haben wir mit den Kurden zusammen Newroz organisiert. Weil das Fest 1995 verboten wurde, haben wir gesagt, wir organisieren das. Ich habe das angemeldet, organisiert und so weiter. Dann gab es einen Aufruf zur Unterstützung für dieses Newrozfest, den Süddeutschen Appell. Da ging es darum, eine gewisse Breite herzustellen, auch überparteilich, damit das nicht verboten wird. Das war eine riesige Arbeit, so eine Kampagne ins Leben zu rufen. Am Ende haben wir dann am Marienplatz Newroz gefeiert, so richtig, mit Newrozfeuer und so weiter. Das Plakat dazu, das habe ich gemacht. Während das Newrozfest stattfand, hat die Polizei den kurdischen Elternverein gestürmt, und wir haben dann vom Marienplatz aus spontan eine Demonstration dorthin gemacht.

„Demonstration gegen das Verbot der PKK und weiterer kurdischer Organisation“ am 04.12.1993. Von Argum C. Lehsten.


Außerdem ging es auch um die Abschiebung von Kurden und Kurdinnen. Deswegen haben wir eine Mahnwache vor dem Obersten Bayerischen Landesgericht und eine Demonstration mit 1.000 Leuten organisiert. Wir haben auch versucht, Abschiebungen zu verhindern. Einmal waren wir am Flughafen und die Abschiebung ist in letzter Minute verhindert worden. Ich habe dann eine 1.500 Mark Geldstrafe wegen dieser Demonstration am Flughafen erhalten. Damals war das noch verboten, am Flughafen zu demonstrieren. Inzwischen ist das aufgehoben worden.

Du hast auch an mehreren Delegationen nach Kurdistan teilgenommen. Wie sind die abgelaufen und welche Auswirkungen hatten die Delegationen?

Artikel der Wahlbeobachtungsdelegation 1994 im Kurdistan Rundbrief (Nr. 7/ Jg. 7, 07.04.1994).


Ich habe bei drei Delegationen mitgemacht. Die erste Delegation muss sehr früh, etwa 1994 gewesen sein, denn das war eine Delegation zur Wahlbeobachtung der Kommunalwahlen in der Türkei.8 Und da waren wir hier zu 5 oder 6 aus München, aber aus der ganzen Bundesrepublik waren Leute mit dabei. Da sind wir nach Istanbul geflogen. Von dort aus wollten wir weiterfliegen nach Kurdistan, und zwar nach Van. Da haben sie am Flughafen die ganze Delegation festgenommen. Wir waren vielleicht 30 oder 40 Leute insgesamt. Sie haben uns festgehalten und wieder zurückgeflogen nach Istanbul. Und zwar ziemlich brutal: Wir waren im Flughafengebäude und dann kam ein Flugzeug extra für uns. Dann mussten wir zu dem Flieger, über das Rollfeld, durch ein Spalier von Zivilpolizisten gehen und die haben auf uns eingeschlagen. Das war unglaublich. Aus Istanbul sind wir dann mit dem Bus nach Diyarbakır gefahren. Wir hatten hauptsächlich Kontakt zu einem Menschenrechtsverein, der uns dann auch weitervermittelt hat. Dort hat sich unsere Delegation in drei Gruppen aufgeteilt, und wir sind dann in verschiedene Dörfer gefahren, um da die Wahlen zu beobachten. Das hat allerdings nicht allzu viel gebracht, da sie uns in die Wahllokale nicht hineingelassen haben. Wir haben mitbekommen, dass die Leute mehr oder weniger zum Wählen gezwungen worden sind. Die mussten aus anderen Dörfern zu Fuß in das Wahldorf gehen, wo das Wahllokal war, und mussten dort wählen.

Fotos der Delegation als Belege für den Einsatz von Kriegswaffen in Kurdistan, die von Deutschland an die Türkei geliefert wurden.


Dann kommt die spannendste Delegation. Da waren wir bloß eine Münchner Gruppe von zehn Leuten. Da sind wir auch geflogen und dann mit dem Bus nach Diyarbakır gefahren. Wir hatten Gespräche mit Menschenrechtsorganisationen und mit Vertretern von der Zeitung Özgür Gündem. Wir sind dauernd mit Polizeibegleitung unterwegs gewesen. Die waren immer unsere Begleitung. Wir haben sehr viel fotografiert, auch die deutschen Panzer, diese Radpanzer, von der Nationalen Volksarmee aus der DDR, die die BRD an die Türkei geliefert hat. Wir sind damals viel herumgekommen und hatten sogar offizielle Gespräche in Şırnak mit dem dortigen Gouverneur. Aber wir waren halt unter ständiger Beobachtung; die standen vor dem Hotel und waren dauernd präsent in den Dörfern, wo Kurden waren.

In Diyarbakır haben wir vom Menschenrechtsverein erfahren, dass an dem Tag in der Nähe von Diyarbakır, ein Dorf vom Militär überfallen worden ist, mit der Begründung, dass die Dorfbewohner PKK-Leuten Unterschlupf gegeben oder sie verpflegt haben sollen. Wir sind dann los mit dem Taxi. Die Polizei hat uns nicht verfolgt, da sie das irgendwie nicht mitgekriegt hatten, weil sonst hätten die das sicher nicht zugelassen. Das Dorf hat teilweise noch geraucht und lag in Trümmern. Nur noch Frauen und Kinder waren da und ein paar alte Männer. Sie haben uns erzählt, die jüngeren Männer alle verhaftet und in die nächste Kreisstadt ins Gefängnis gebracht wurden. Wir sind zurückgefahren nach Diyarbakır und haben uns überlegt, da müssen wir irgendetwas machen. Dann haben wir Material gekauft und haben Schilder mit Losungen auf Englisch und hauptsächlich Türkisch geschrieben. Wir haben gesagt, wir fahren da hin und machen eine Demo vor dem Knast, wir paar Leute, um da wenigstens ein bisschen Öffentlichkeit herzustellen. Wir sind da hingefahren in den Ort, haben in einem Café mit Leuten geredet und die haben uns gesagt, dass der Knast ganz weit weg am Stadtrand ist. Und dann haben wir gesagt, das ist ein Schmarrn, da sieht uns kein Mensch. Also haben wir beschlossen, wir gehen auf den Marktplatz und stellen uns dort auf. Zwei von unserer Delegation sind abgesprungen, die meinten, das wäre zu riskant. Dann haben wir uns auf dem Marktplatz aufgestellt und sind losmarschiert, die Hauptstraße runter. Aber wir sind nicht weit gekommen. Da haben sie uns festgenommen und wir sind im Polizeirevier gelandet. Das war eine sehr ungute Situation, weil uns Dorfschützer bewacht haben, die uns in dem kleinen Ort einfach hätten abholen können, ohne, dass das ein Mensch mitbekommen hätte. Da haben wir uns sehr unwohl gefühlt. Da waren wir allerdings nur zwei Stunden und dann hat uns die Polizei nach Diyarbakır gefahren. Dort sind wir im Knast gelandet, wo wir die beiden, die abgesprungen waren, wiedergetroffen haben. Die hatten sich ein Taxi genommen und wurden dann gleich geschnappt, weil wir ja unter ständiger Beobachtung standen. Auf jeden Fall waren wir dann in Diyarbakir über Nacht im Knast in einer großen Zelle, aber es ist nichts passiert, außer dass die Wächter manchmal hereingekommen sind und wütend gebrüllt haben. Am nächsten Tag wurden wir einem Schnellrichter vorgeführt und dann abgeschoben. Im Flugzeug hatten wir sogar das türkische Fernsehen mit dabei. Die haben dann darüber berichtet. Wie sie berichtet haben, weiß ich nicht. Sie haben uns wahrscheinlich als deutsche Terroristen bezeichnet. In Deutschland wurde die ganze Delegation auch von der Presse begleitet. Wir hatten hier ein Presseteam. In München am nächsten Tag haben wir eine Pressekonferenz gemacht, und es ist auch berichtet worden. Vor allen Dingen haben wir aber mit Aufnahmen von deutschen Panzern dazu beigetragen – nicht nur wir, sondern auch die vielen andere Delegationen –, dass es öffentlich wurde, dass Deutschland die Waffen zur Unterdrückung der Kurden in der Türkei liefert.

Als Drittes gab es 1997 das Projekt eines Musa-Anter-Friedenszuges9. Ein europäischer Friedenszug sollte von Brüssel losziehen, durch die Bundesrepublik fahren bis nach Istanbul oder Ankara. Der damalige Innenminister Kanter hat den verboten. Es gab diesen Friedenszug dann nicht. Also sind wir geflogen. In Istanbul gab es eine große Kundgebung, die relativ problemlos ablief. Wir sind dann mit Bussen nach Diyarbakır gefahren. Das war eine große Delegation mit fünf vollen Bussen, also ca. 300 Leute. Unterwegs sind wir immer begrüßt worden von Kurden und es gab immer wieder Kundgebungen. Kurz vor Diyarbakır wurde die Delegation dann gestoppt, mit Panzern auf der Straße. Wir mussten wieder umkehren und sind dann von den Polizeikräften und vom Militär wieder zurückgeleitet worden nach Istanbul. Wenn wir zu einer Raststätte gefahren sind, dann standen die auch da und haben auf die Leute eingeprügelt. In Istanbul haben wir eine Pressekonferenz gemacht und die wurde von der Polizei gestürmt. Dann haben sie uns alle in die Busse verfrachtet und wollten uns irgendwo kasernieren. Wir sind eine halbe Nacht zu allen möglichen Hotels gefahren, aber niemand wollte uns unterbringen und dann sind wir dann doch wieder in unseren gebuchten Hotels gelandet. Und am nächsten Tag war der Rückflug. In München haben wir danach Konferenzen und Veranstaltungen gemacht, um darüber zu berichten.

Wie hat sich das Solidaritätskomitee in München dann weiterentwickelt?

Ja, das ist dann irgendwann eingeschlafen. Die Repression hat dann nachgelassen. Es gab das übliche PKK-Verbot und das Verbot der Embleme der PKK, aber irgendwie hat sich das beruhigt. Ein paar Jahre lang ist dann nicht mehr viel passiert. Ich kann mich erinnern, dass wir ab und zu vor dem türkischen Konsulat hier in München Demonstrationen gehabt haben, aber das war nicht mehr so aufregend wie in dieser Zeit, wo sie die kurdischen Vereine geschlossen haben. Ich habe immer Kontakt zu den Kurden gehabt - die Kurden haben jedes Jahr das Newroz gefeiert – aber das war jetzt nicht mehr so das brennende Thema.

Und heute?

Es ist dann wieder aktuell geworden mit dem Einmarsch der Türkei in Afrin 2018. Die Repression ist wieder stärker. Es sind jetzt massenhaften die YPG-Fahnen aufgetaucht bei den Demonstrationen und es sind ganz viele, nur weil sie irgendein Foto weiterverbreitet haben, in die Fänge der Justiz geraten. Bei der Anti-SiKo Demo 2018 haben wir ausdrücklich beim Kreisverwaltungsreferat angemeldet, dass wir YPG-Fahnen dabeihaben werden, dass wir gegen diese Invasion der Türkei, für die Freilassung von Abdullah Öcalan und gegen das PKK-Verbot demonstrieren werden. Das ist natürlich verboten worden vom Kreisverwaltungsreferat. Dann sind wir vor Gericht gegangen und haben in der ersten Instanz zur Hälfte gewonnen, weil das Gericht gesagt hat, die YPG-Fahnen müsste nicht unbedingt verboten werden. Dann ist uns aber bei der Anti-SiKo Demo von der Polizei gesagt worden, dass interessiert sie nicht und die Staatsanwaltschaft wird auf jeden Fall dagegen vorgehen.

Bei der Auftaktkundgebung habe ich mir ein Plakat mit „Freiheit für Öcalan“ und seinem Foto umgehängt. Deshalb läuft ein Prozess in der zweiten Instanz gegen mich. In der ersten Instanz bin ich zu 140 Tagessätzen verurteilt worden.

Die Prozesse ziehen sich ja alle hin, und wieder geht es durch X-Instanzen. Am Ende beim Kerem Schamberger, da kommt ja nichts raus.10 Sie schaffen es nicht, sie kriegen ihre Verbote nicht durchgesetzt. Und das ist natürlich ein Erfolg, dass es so ist, dass sie das nicht so durchziehen können, wie sie sich das vorstellen.

Azad Bingöl, Kerem Schamberger und Claus Schreer bei einer Veranstaltung gegen Repression.


Was bedeutet Solidarität? Warum wart ihr damals solidarisch und warum seid ihr es heute?

Ja, wenn Menschen in der Bundesrepublik angegriffen werden, noch dazu Leute, die in ihren eigenen Ländern unterdrückt und verfolgt werden, da muss man solidarisch sein, da muss man aktiv werden. Deswegen sind wir sofort aktiv geworden, vor allem nach dem PKK-Verbot. Und heute muss man auch mit den Kurden solidarisch sein, weil sie vom türkischen Staat liquidiert und vertrieben werden und das mit deutscher Unterstützung. Also bin ich mit den Kurden erst einmal solidarisch, weil sie unterdrückt werden, wie man mit allen unterdrückten Völkern solidarisch zu sein hat.

Außerdem unterstütze ich auch ein emanzipatorisches Modell, wie es versucht wird, in Rojava zu praktizieren. Das ist ja schon mal was. Es ist nicht ein reaktionäres Modell, wie sagen wir mal im Nordirak von der Barzani-Clique. Es ist ein emanzipatorisches Modell und eine Bewegung, die man unterstützt.

Was würdest du sagen, ist das Ergebnis der Kämpfe der 1990er und der Solidaritätsbewegung jetzt? Was habt ihr damals und heute erreicht?

Schwierige Frage. Das werde ich immer gefragt, in allen Zusammenhängen. Ich mache das jetzt seit 60 Jahren, was hast du erreicht? [Lacht] Das kann ich gar nicht beantworten. Vielleicht wäre die Repression noch viel schlimmer, als sie ist. Man muss Verbote durchbrechen. Aber man kann das nur erfolgreich machen, wenn du es massenhaft machst: Wenn auf einer Demo mit 3000 Leuten 1000 Leute mit Öcalan-Bildern herumlaufen, dann kann die Polizei gar nichts machen. Wenn aber bei einer Demonstration von 500 Leuten drei mit einer YPG-Fahne und einer mit einem Öcalan-Bild herumläuft, dann können sie dich locker verhaften. Und es juckt ja auch sonst niemanden, außer den Betroffenen. Eigentlich müsste man die Verbote massenhaft durchbrechen. Was ich immer gut finde, wie es die großen Kurden-Demonstrationen in Köln oder Düsseldorf machen, wenn da Hunderte von Öcalan Fahnen auftauchen. Was soll die Polizei da machen? Die können ja nicht hunderte Leute verhaften. Gerade jetzt mit den YPG-Fahnen, da trauen sich die Behörden ja nicht mehr so viel. Das hängt damit zusammen, dass da Öffentlichkeit geschaffen worden ist.

1 https://www.idk-info.net/%C3%BCber-uns/idk-geschichte/

2 https://www.br.de/nachrichten/bayern/ostermaersche-in-muenchen-60-jahre-kampf-gegen-die-atombombe,STPZwCM

3 Der polnische Außenminister Adam Rapacki hatte 1957 einen Plan vorgelegt, in dem er die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone und einer militärisch ausgedünnten Zone in Mitteleuropa vorschlug.1963 wurde der Rapacki-Plan ausführlich von der Ostermarschbewegung in München in einer Broschüre diskutiert. https://www.mao-projekt.de/BRD/SRK/001/SRK_Informationen_zur_Abruestung_1963_002.shtml

4 http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/373

5 Bei der Umwandlung in München vom „schwarzen Kreis“ zum „weißen Kreis“, brauchten die Vermieter*innen von Altbauwohnungen für Kündigungen nun keine Begründung mehr anzugeben. http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/1784                       

6 Stadtteil in München, in dem Claus mehr als 50 Jahre lebte und aktiv war.

7 Am 24. Juni 1993 kam es zu zahlreichen Protestaktionen in europäischen Städten gegen türkische diplomatische Vertretungen und Geschäfte sowie zu einer 14-stündigen Besetzung des türkischen Konsulats in München.

8 Kommunalwahl vom 27. März 1994.

9 Musa Anter, auch bekannt als Apê Mûsa, war ein kurdischer Schriftsteller und Intellektueller, der 1992 in Amed vom JİTEM, dem informellen Geheimdienst der türkischen Gendarmerie, ermordet wurde.

10 https://anfdeutsch.com/weltweit/ypg-ypj-verfahren-gegen-kerem-schamberger-eingestellt-24666