Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat der Türkei vorgeworfen, das Recht auf Meinungsfreiheit von kurdischen Aktivisten verletzt zu haben. Die Klage ging auf einen Antrag gegen die türkische Republik zurück, den zwei Männer aus Dersim nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention beim EGMR eingereicht hatten. Die beiden Aktivisten hatten im Jahr 2008 an einer öffentlichen Pressekonferenz zum Verbotsverfahren gegen die DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft) teilgenommen und waren rund ein Jahr später wegen Volksverhetzung zu verschieden hohen Geldstrafen verurteilt worden. Konkret wurde Özgür Söylemez und Süleyman Yurtdaş vorgeworfen, während der Presseerklärung den Ausruf „Bijî Serok Apo“ (Es lebe Apo) skandiert zu haben.
Das Straßburger Gericht kam in seinem Urteil zu dem Schluss, dass das Rufen dieser Parole keine Straftat gewesen sei, die eine Verurteilung zu einer Geldstrafe rechtfertigte. „Bijî Serok Apo“ dürfe in einer demokratischen Gesellschaft nicht als Volksverhetzung geahndet werden, befand der EGMR und sprach den Betroffenen Schadensersatz in Höhe von 4.000 Euro zu. Darüber hinaus verletzten die türkischen Behörden das Recht auf ein faires Verfahren, so die Straßburger Richter. Denn bei ihrem Urteil gegen die Aktivisten hatte die Strafabteilung des Amtsgerichts Tunceli eine Berufung bei einer nächsthöheren Instanz nicht zugelassen.
Kritik an EGMR wegen zögerlichem Vorgehen
Özgür Söylemez zeigte sich über das gestrige Urteil erfreut. Er kritisierte allerdings, dass der EGMR etliche Klagen gegen das Land als unzulässig abweist: „In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nach oben geschossen. Die Gesellschaft ist massiven Einschränkungen und Repression ausgesetzt, vor allem hinsichtlich der Meinungs- und Gedankenfreiheit. In viel zu vielen Fällen entscheiden die Richter in Straßburg aber, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse.“ Hinzu käme, dass Verfahren gegen die Türkei angesichts der Lebenserwartungen der Kläger*innen für diese von entscheidender Bedeutung seien, der EGMR jedoch wie im aktuellen Fall erst nach mehreren Jahren Urteile erlasse. „Zehn Jahre ist eine lange Zeit für das menschliche Leben. Dass Beschwerden wie diese nicht unverzüglich bearbeitet werden, wirkt sich zum Nachteil der Antragssteller aus“, so Söylemez.
Unklarheiten in Deutschland nun aus dem Weg geräumt
In Deutschland herrschte bisher Unklarheit darüber, ob das Skandieren von „Bijî Serok Apo“ einen Straftatbestand erfüllt. Im April wurde Tahir Köçer, Ko-Vorsitzender der Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland (KON-MED), vor dem Amtsgericht Braunschweig zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er auf einer Demonstration für die Freiheit Abdullah Öcalans am 20. Oktober 2017 den Ausruf verwendet haben soll. Wegen desselben Vorwurfs sprach das Amtsgericht Kassel allerdings vor drei Wochen einen Angeklagten frei. Die Äußerung „Bijî Serok Apo“ sei zulässig und von der Meinungsfreiheit gedeckt, entschied das Gericht. Auch die Staatsschutzkammer des Landgerichts Berlin hat in diesem Jahr entschieden, dass der Ausruf nicht strafbar ist.
Da Urteile des EGMR rechtlich verbindlich sind und von den Staaten respektiert und umgesetzt werden müssen, sollte mit der Entscheidung zum Fall aus Dersim nun auch Klarheit bei den deutschen Behörden herrschen.