Dilok: „In der Türkei gibt es einen Kontra-Staat“

Dilzar Dilok aus dem Zentralkomitee der PKK erklärt gegenüber ANF: „Es gibt einen Kontra-Staat, und das Denken, das heute umgesetzt wird, ist das Denken dieses Kontra-Staats.“

Unsere Korrespondent*innen führten ein Gespräch mit Dilzar Dilok aus dem Zentralkomitee der PKK über die Hintergründe der aktuellen Politik des türkischen Staats. Wir geben hier dieses Gespräch in seiner übersetzten Fassung wieder. Zuvor ein redaktioneller Hinweis: Der Begriff Kontra-Denken leitet sich aus der Bezeichnung für extralegale Einheiten, die gegen Befreiungsbewegungen eingesetzt werden, sogenannten „Kontras“ ab. Der Begriff Denken ist eine Übersetzung für das türkisch Wort akıl, das sowohl für Denken, Mentalität, Haltung und Bewusstsein verwendet werden kann.

Der türkische Staat hat unter der Herrschaft der AKP und MHP eine andere Form angenommen. Öcalan hat den Begriff der „Staatsmentalität“ in die Debatte gebracht. Um was für einen Staat handelt es sich Ihrer Meinung nach und was für ein Denken steht hinter ihm?

Statt das gesellschaftliche Denken mit dem institutionellen Denken zusammenzubringen, ist die Türkei in die Hände einer Gruppe von Völkermördern mit institutioneller Mentalität geraten. Wenn man über die Mentalität des türkischen Staates eine Feststellung treffen möchte, muss man von der Tatsache ausgehen, dass es sich um einen Kontra-Staat, um einen von Banden durchdrungenen Staat handelt. In der Türkei gibt es einen Kontra-Staat und das, was gerade passiert, das Denken, das im Moment umgesetzt wird, ist das dementsprechend. Der Kontra-Staat hat sich mit den Genoziden und den Verbrechen, die unter der Verantwortung von Demirel, Çiller, Ağar und Güreş in Kurdistan begangen worden sind, herausgebildet. Die heutigen Vertreter der Institutionen, den Präsidenten eingeschlossen, bewegen sich im Rahmen der kontrastaatlichen Logik. Der gesamte Staat wird von der Kontra-Mentalität regiert. Der Freiheitskampf Kurdistans hat der Türkei große Chancen geboten, sich davon zu befreien. Zuletzt hatte auch wieder Rêber Apo erklärt: „Sie sollen die Bedingungen schaffen, dann werde ich das Problem innerhalb einer Woche lösen.“ Dies war eine dieser historischen Gelegenheiten. Aber die Kontra-Mentalität hat dies verhindert.

Sie sprechen von einem Kontra-Staat, wie genau ist das in Bezug auf die kurdische Frage zu verstehen?

Die kurdische Gesellschaftlichkeit wird geleugnet. Alle Institutionen des Staates arbeiten mit der gleichen Logik, mit der gleichen Denkweise. Der Kontra-Staat zieht seine Existenz aus der Nichtexistenz der Kurd*innen. Die Restrukturierung des Staates auf der Grundlage der Vernichtung der Kurd*innen hat den Staat viel weiter gebracht, als nur ein Mittel der Repression zu sein, er ist selbst zum Kontra geworden. Deswegen sind vor allem alle Formen des Umgangs mit den Kurd*innen auf der Kontra-Haltung aufgebaut.

Es werden Menschen in Säurebrunnen geworfen, ihnen werden die Köpfe abgetrennt und auf Bildern als Trophäen präsentiert, es werden Ohren abgeschnitten und Ketten daraus gemacht, die Bilder davon werden als Erinnerung aufgehoben, die Anwerbung von Agenten, die extralegalen Hinrichtungen, bei denen die Opfer an Fahrzeuge gebunden und am Hals an Panzerfahrzeugen durch die Stadt geschliffen werden, das ganze aufzunehmen und zu posten… das alles sind Praktiken eines Kontrastaats. Der größte Verlust für die Türkei ist es, dass das ganze Land es als normal betrachtet, was den Kurd*innen angetan wird, und sich die ganze Bevölkerung aus Angst als „Terrorist“ zu gelten, vor dieser Politik gebeugt hat. 

Welchen Einfluss hat diese Kontra-Politik auf die Bevölkerung der Türkei?

Das der Gesellschaft in der Türkei aufgezwungene Denken des Kontra-Staats zu akzeptieren, bedeutet im Kern das Leben als Kontra zu akzeptieren. Jeden Tag werden Menschen auf der Straße einfach umgebracht. Frauen werden zerstückelt, Kinder vergewaltigt. Während sich diejenigen breit machen, die dem Land alle materiellen und geistigen Werte nehmen, verfolgt der Staat die Ärmsten. Jeden Tag hören wir Nachrichten, in denen berichtet wird, wieviel Geld die Zwangsverwalter gestohlen haben, wie sie sich voll maßloser Gier auf die Orte gestürzt haben. Der Kontra-Staat hat diese Unersättlichkeit ebenso wie die Schamlosigkeit geschaffen. Um seine völkermörderische Politik zu legitimieren und sie der Gesellschaft in der Türkei aufzuzwingen, werden alle moralischen Werte der Gesellschaften in der Türkei angegriffen. Es ist ein Land geschaffen worden, aus dem massenhaft Menschen fliehen. Kinder werden im Verkehr, in Brunnen, in Schwimmbecken, in allen Bereichen des Lebens umgebracht. Manche werden von ihren eigenen Eltern vergiftet. Manche töten ihre Töchter mit der Schrotflinte. Es gibt so viele Beispiele dafür. Einerseits darf man das nicht vergessen, andererseits wird das Gedächtnis der Gesellschaft jeden Tag angegriffen.

Die türkische Gesellschaft ist mittlerweile von der Angst durchdrungen, es könne jederzeit alles passieren. Sie wurde dazu gezwungen, zu glauben, dass die Praxis des Kontra-Staates so alternativlos wie die Gebote eines Gottes ist. Für all das ist die Mentalität des Kontra-Staats verantwortlich. Es ist eine Art Tod. Es ist nur noch ein Vegetieren. So etwas ist schlimmer als der Tod.

Wie sieht es mit dem Widerstand gegen die Diktatur in Nordkurdistan und der Türkei aus?

Die AKP ist der aktivste Teil des Kontra-Staats. Sie hat sich mit der MHP vereinigt und Mentalität sowie Physis eines Kontrastaats geschaffen. Es ist viel dagegen zu tun. Es finden demokratische Aktionen statt. Es gibt Mahnwachen für die Demokratie, jeden Tag nehmen mehr Menschen an ihnen teil. Der Faschismus verfolgt ein derartig umfassendes Angriffskonzept, da ist es mit Sicherheit nicht ausreichend, für die Demokratie Mahnwachen abzuhalten oder Sitzstreiks abzuhalten. Wenn Hunderttausende an einer Aktion teilnehmen und eine Gruppe Parolen ruft, dann kann auch eine andere Gruppe Lieder singen. Aber wenn bei einer Aktion mit zwanzig bis dreißig Teilnehmer*innen alle Lieder singen und immer die Gleichen teilnehmen, kann das als ausreichend bezeichnet werden? Es sind sowieso zehnmal so viele Polizisten da. Sie umstellen die Protestierenden mit ihren Schilden und es werden Sirenen angeschaltet, damit die Demonstrationen keine Außenwirkung haben. Aber die Aktionen haben gezeigt, dass die Teilnehmer*innen bereit sind, ihre demokratischen Werte auch im Angesicht von Wasserwerfern und Knüppeln zu verteidigen. Die Aktionen sind sehr wichtig und müssen sich ausweiten. Aber Mahnwachen für Demokratie und Sitzstreiks reichen in dieser Zeit nicht mehr aus.

Sie sagen, die aktuellen Aktionen reichen nicht aus. Was sollte Ihrer Meinung nach jetzt geschehen?

Es gibt ein gewisses Gleichgewicht im Kampf für Demokratie. Da die Definition von Demokratie in der Türkei vollkommen korrumpiert ist, muss man den Begriff auf universeller Ebene angehen. Innerhalb der Grenzen der völkermörderischen Verfassung der Türkei kann es niemals Demokratie geben. Es darf genauso wenig vergessen werden, dass man in die Gesetze, die nicht einmal der Staat respektiert, kein Vertrauen haben kann. Wenn sich die Proteste gegen den Raub von Rechten auf die ganze Türkei ausweiten, wird sich das Land demokratisieren. Die Adresse der Angriffe ist die HDP. Deswegen muss die HDP nicht nur in Kurdistan, sondern überall in der Türkei die Aktionen anführen.

Die eigentliche Krise der Türkei ist keine ökonomische. Es ist die AKP/MHP-Regierung, die auf einem faschistischen Regime besteht. Deswegen muss sich die gesamte Energie darauf richten, den totalen Angriff auf die Völker zurückzuschlagen und einen demokratische-revolutionären Widerstand aufzubauen.

Die Kurdinnen und Kurden haben für die Freiheit nicht nur ihre Stimme gegeben, sie haben ihr Leben, ihre Zeit und ihre Kinder gegeben. Der Widerstand gegen den Faschismus muss gesteigert werden, wenn wir den Opfern, die wir erbracht haben, einen Sinn geben wollen.