Die nationale Frage in Armenien
Wer auch immer den aktuellen Machtkampf in Jerewan am Ende für sich entscheidet, ob sogar das Militär putscht oder ob Nikol Paschinjan doch überlebt: Das Schicksal Armeniens wird nun im Kreml entschieden.
Wer auch immer den aktuellen Machtkampf in Jerewan am Ende für sich entscheidet, ob sogar das Militär putscht oder ob Nikol Paschinjan doch überlebt: Das Schicksal Armeniens wird nun im Kreml entschieden.
„Armenien hat heute die Wahl, ob es ein türkisches Vilayet oder eine russisches Gubernia sein darf”, so ein Bekannter von mir in einem der vielen Telefongespräche, die wir derzeit über den Krieg in Arzach führen. Vilayet beziehungsweise Gubernia stehen dabei übersetzt für Provinz. Armenien hat also die Wahl, ob es eine türkische oder russische Kolonie sein darf. Zweifellos ist Armenien mit dem jüngsten trilateralen Abkommen mit Russland und Aserbaidschan zu einer De-Facto-Kolonie des Kremls geworden, das seinen ohnehin großen Einfluss auf den armenischen Staat mit der Kapitulation im Arzach-Krieg aufbauen konnte. Rund 2000 russische Friedenstruppen werden nun vor allem im nördlichen Teil von Arzach stationiert, zudem überwachen russische Militärs den Latschin-Korridor von Armenien nach Arzach. Der südliche Teil von Arzach mit Schuschi und Hadrut wird von Aserbaidschan besetzt.
Der letzte und neunte Punkt des nur einseitigen Abkommens bedeutet zudem, dass Aserbaidschan in Südarmenien einen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan bekommt — überwacht wiederum vom russischen Geheimdienst FSB. Das bedeutet einen enormen Souveränitätsverlust der Republik Armenien und wird in den nächsten Jahren noch eine Schlüsselrolle einnehmen. Der Korridor bedeutet letztendlich, dass der türkische Staat eine direkte Verbindung zum ölreichen Kaspischen Meer bekommt. Obwohl die Türkei nicht Teil der „Friedensmission” wird, kann sie sich als Siegerin sehen, da sie sich in Aserbaidschan festgesetzt hat und ihrem panturkistischen Traum einen großen Schritt näher gekommen ist. Das Abkommen ist damit vor allem eine nationale Demütigung, sodass sich die Frage nach der Zukunft des armenischen Volkes stellt, welche hier thematisiert werden soll.
Ein beispielloser Zusammenbruch
Die Stunden vor und nach der Ankündigung des Abkommens waren von einem Zerfall der armenischen Staatsstrukturen geprägt. Es gab wilde Spekulationen um die Stadt Schuschi, die strategisch wie symbolisch große Bedeutung hat. Selbst der Premierminister Nikol Paschinjan machte nicht den Eindruck, dass er wüsste, wie es um Schuschi steht, nachdem das aserbaidschanische Verteidigungsministerium Videos von der besetzten Stadt veröffentlicht hatte. Am Abend des 9. November wurde zudem ein russischer Helikopter über armenischem Territorium von aserbaidschanischen Kräften abgeschossen, was im Falle Russlands einen Casus Belli (Handlung, die unmittelbar einen Krieg auslöst) zur Folge gehabt haben könnte — doch nur zwei Stunden später kam der Waffenstillstand. Die Bekanntmachung dessen trieb tausende wütende Armenier*innen auf die Straßen und ließ sie das Parlament und das Regierungsgebäude stürmen. Paschinjan wurde als der größte Verräter der armenischen Geschichte gebrandmarkt; der Parlamentssprecher Ararat Mirzoyan wurde fast zu Tode geprügelt und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Wie sich schnell herausstellte, waren diese Demonstranten (tatsächlich fast nur Männer) Anhänger der ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan. Paschinjan selbst hielt sich versteckt, meldete sich nur per Livevideo über seinen privaten Facebook-Account. Die gesamte Situation zeigte ein desaströses Bild, zumal sowohl der Außenminister Sohrab Mnazakanyan als auch Staatspräsident Armen Sarkissjan berichteten, über der Presse von dem trilateralen Abkommen erfahren zu haben. Mnazakanyan trat infolge dessen von seinem Amt zurück.
Nach ein paar Tagen und entsprechenden Aussagen von hochrangigen Militärs und dem Verteidigungsminister Dawid Tonojan lichtete sich der Nebel in einer Hinsicht: Die armenische Seite war weder vorbereitet gegen das aserbaidschanische Militär, türkische Militärberater, islamistische Milizen und moderne Drohnentechnologie, noch war sie alldem gewachsen. Die militärische Front stand kurz vor dem Kollaps und nach der Einnahme Schuschis wären weitere Gebiete Arzachs an Aserbaidschan gefallen.
Türkische Fahne in Schuschi, 11. November 2020 | Global News
Die Bilanz des Krieges ist verheerend: Mehr als 2300 gefallene Soldaten, weitere tausend Verletzte, rund 100.000 Geflüchtete, ganze Städte, die zur Hälfte zerstört wurden. In den besetzten Gebieten von Arzach, aber auch den umliegenden Provinzen wie Karwatschar gibt es eine ethnische Säuberung, die die Handschrift Recep Tayyip Erdogans trägt. Armenien verliert alle umliegenden Provinzen, die zuvor unter seiner Kontrolle waren. Kilometerlange Geflüchteten-Karawanen und niedergebrannte Häuser prägen das Bild der ethnischen Säuberung, unzählige Familien haben eine ungewisse Zukunft. Ungewiss ist aber auch die Zukunft der armenischen Nation: Sie ist geteilt wie noch nie und hat mit der Kapitulation ein weiteres Trauma zu bewältigen.
Doch wie konnte es dazu kommen? Wie konnte es zu diesem Desaster kommen angesichts einer motivierten Mobilisierung zu Kriegsbeginn? Wie sieht die Zukunft Armeniens und Arzachs angesichts einer russischen Besatzung und einer türkischen Bedrohung aus?
Die Sackgasse der Bourgeoisie
In der Geschichte der armenischen Republik gibt es zwei politische Hauptlinien: die liberale und die konservative. Erstere Linie wird von dem ersten Präsidenten Levon Ter-Petrosyan und seinem politischen Ziehsohn Nikol Paschinjan vertreten, während letztere Linie von Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan vertreten werden, beide jeweils Ex-Präsidenten. Entstanden aus der Solidaritätsbewegung für Arzach und der Unabhängigkeitsbewegung Armeniens von der Sowjetunion arbeiteten diese beiden Strömungen mal zusammen, mal gegeneinander und sind heute so verfeindet wie nie zuvor.
Die Amtszeit von Ter-Petrosyan (1991-1998) war geprägt von der Lostrennung und dem Zerfall der Sowjetunion und der neoliberalen Schocktherapie, die er dem Land mit Privatisierungen verordnete. Armenien verlor nur ein Jahr nach der Unabhängigkeit 56 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts und stand Anfang der 90er Jahre kurz vor dem Kollaps. Während in dieser Zeit der Befreiungskampf um Arzach tobte, wurden Gas, Wasser und sogar Strom streng rationiert und waren teilweise nur für vier Stunden am Tag erhältlich. Ter-Petrosyan war unfähig, diese wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, und fälschte gar den Ausgang der Wahlen 1996, deren nachfolgende Proteste er mit Waffengewalt niederschlagen ließ.
Ter-Petrosyan war nicht so sehr in die militärischen Angelegenheiten des Arzach-Krieges involviert wie sein Verteidigungsminister Wasken Sarkissjan, der als Kämpfer in Arzach zu Ruhm und Ehre gelangte. Sarkissjan hatte ihn zwar 1996 noch unterstützt, sollte sich aber als Königsmacher des damaligen Premierminister Robert Kotscharjan erweisen, der Ter-Petrosyan 1998 ablöste, nachdem dieser zu Kompromissen in der Arzach-Frage bereit war. Kotscharjan wurde Präsident, während Sarkissjan ein Jahr später Premierminister wurde.
Als am 27. Oktober 1999 bewaffnete Männer das Parlament stürmten und neben dem Premierminister auch den Parlamentssprecher Karen Demirtschjan ermordeten, stellte dies einen Wendepunkt für die junge Republik dar: Die zwei wichtigsten Figuren im Parlament waren ausgeschaltet, sodass der Weg für die autoritäre Herrschaft Kotscharjans geebnet wurde: Diese Herrschaft sollte bis 2018 dauern und stellte für Armenien eine Zeit der Stagnation dar. Es waren zwanzig verlorene Jahre, wo rund 500.000 Menschen das Land verließen, weil es für sie keine Perspektiven mehr gab. Dem eigenen Staat liefen also die Bürger*innen davon, zumal sich die wirtschaftliche Lage schlecht entwickelte, Korruption allgegenwärtig, Arbeitsplätze dafür aber rar waren.
Widerstand und Herausforderung eines autoritären Systems
Die Armenier*innen sind ein rebellisches Volk. Kaum eine (gefälschte) Wahl ging ohne Proteste ab; die letzten 30 Jahre seit dem Erwachen um die Arzach-Bewegung waren geprägt von allen möglichen Aktionsformen: Generalstreiks, Blockaden, massenhafter ziviler Ungehorsam, Massendemonstrationen und schließlich die sogenannte „Samtene Revolution” prägten all die Jahre seit 1988. Exakt dreißig Jahre nach diesem Erwachen kam es zum Sturz der Regierung um Sersch Sargsjan, der 2008 das Amt des Präsidenten von seinem Freund und Verbündeten Robert Kotscharjan „bekommen” hatte.
Stellte der Regierungssturz 2018 das Ergebnis eines friedlichen, demokratischen Massenprotests dar, verliefen die Proteste gegen die gefälschten Wahlen 2008 sehr blutig ab: Acht Protestierende und zwei Sicherheitskräfte starben bei der gewaltsamen Auflösung der Demonstrationen am 1. März. Ein Tiefpunkt in der Geschichte der Republik Armenien, aber gleichzeitig auch das Signal, dass Proteste wirkungslos sein sollten. Doch auch diese blutige Botschaft hinderte die Armenier*innen über kurz oder lang nicht, die Proteste wieder aufzunehmen: 2015 gab es Widerstand gegen die Erhöhung der Strompreise, die bereits von der Jugend angeführt wurden, die nicht mehr in der Sowjetunion aufgewachsen war. Ein Jahr später kam es zur Erstürmung einer Polizeistation in Jerewan durch die Gruppe „Sasna Tserer”, einer nationalistischen Partei, welche die Vereinigung mit Arzach und die Ablehnung der Allianz mit Russland fordert.
Die Geiselnahme mehrerer Personen, an der auch angesehene Veteranen des Arzach-Krieges beteiligt waren, sollte als Initialzündung für einen revolutionären Aufstand dienen. Tatsächlich kam es im Sommer 2016 zu Protesten infolge dieser Aktion, an deren Ende zwei Personen starben. Es war nicht so sehr die Solidarisierung mit der kleinen Gruppe, sondern die Ablehnung der Regierung, welche die Menschen zu tausenden auf die Straßen trieb. Die Sargsjan-Jahre waren eine Zeit der Agonie; verstärkt wurde dieses Gefühl durch die Verluste beim Vier-Tage-Krieg im April 2016 um Arzach, der schon damals offenbarte, in was für einem schlechten Zustand sich das Militär befand. Es konnte nicht mehr so weitergehen — und doch gewann Sargsjans Partei der Republikaner 2017 die Parlamentswahlen. Das Land drohte zu einem Friedhof zu werden, die Korruption im Staatsapparat machte jegliche Entwicklung zunichte.
Anfang 2018 wähnte sich die kremltreue Elite sicher im Sattel, überfressen von der Plünderung des Landes wurde es dekadent. Sargsjan war ihr Mann schlechthin, der beste Verbindungen zu Wladimir Putin hatte und die Wirtschaft des Landes an russische Unternehmen verkaufte, die zum Beispiel mit Gazprom zu 80 Prozent den Energiesektor kontrollieren.
Als Sargsjan in einer Ämterrochade von Staatspräsidenten zum Premierminister zu wechseln versuchte, wollte er damit nichts anderes als das gleiche Manöver wie Erdogan und Putin vollziehen, mithilfe einer Verfassungsreform die bisherige Regierungsform in ein autoritäres System mit einer Machtkonzentration bei der Exekutive und enormer Machtfülle für sich selbst umbauen. Doch diese Ankündigung brachte das Fass endgültig zum Überlaufen; das Land sah im April und Mai eine beispiellose Massenmobilisierung.
Die Explosion
Beobachter*innen hatten schon bei den Wahlen 2017 erstaunt darauf verwiesen, dass es diesmal keine Proteste gegen den Wahlausgang gab, die These von den Armenier*innen als rebellisches Volk konterkarierend. Doch Mitte März nahm ein ehemaliger Journalist und bis dato der Welt unbekannter Parlamentsabgeordneter einen Protestmarsch von Gjumri nach Jerewan auf und kam einen Monat später an. Nur einige Dutzend begleiteten ihn, seine Parteienkoalition hatte weniger als acht Prozent bei den Parlamentswahlen erreicht. Selbst die eigenen Anhänger*innen scherzten, dass der Protestmarsch zwar politisch wenig gebracht, dafür aber gut für die Gesundheit gewesen sei.
Doch diesmal blieb es nicht nur bei Demonstrationen und Kundgebungen. Diesmal wurden eine Reihe neuer Taktiken angewandt, um vor allem die Jugendlichen zu begeistern und zu mobilisieren. So verliefen die Demonstrationsrouten immer wieder an Schulen und der Universität vorbei, sodass die Proteste im Laufe der Zeit anwuchsen. Massenhafter und spontaner ziviler Ungehorsam wurde zum Motto der Stunde: Kleinere Gruppen konnten den Verkehr urplötzlich lahmlegen und ganz Jerewan paralysieren. Paschinjan gab zwar damals den Takt vor, aber seine Taktik hätte nichts gebracht, wenn es nicht selbstorganisierte Blockaden und Streiks gegeben hätte. Er selbst war in der armenischen Politik kein Unbekannter: 2008 stand er an der Seite Ter-Petrosyans und wurde repressiv verfolgt, nachdem das Massaker stattgefunden hatte. Nachdem er ein Jahr im Untergrund war, stellte er sich und wanderte für zwei Jahre ins Gefängnis, ehe er 2011 durch eine Amnestie wieder frei kam.
Die Aktionen im Frühjahr 2018 sollten im Gegensatz zu 2008 stets friedlichen und auch fröhlichen Charakter haben: Die Blockierung einer Kreuzung wurde einmal zum Beispiel mit einem typisch armenischen Grillfest verbunden. Der Polizei fiel es aufgrund dessen schwer, repressiv gegen friedliche und freundliche Protestierende vorzugehen. Aber nichtsdestotrotz gab es sie und besonders am Anfang wurden die Kundgebungen sogar mit Blendgranaten angegriffen. Die Proteste wurden aber auch deswegen so massiv, weil sich Sargsjan unflexibel zeigte und kaum auf die Protestierenden zuging. Das noch nicht einmal fünfminütige Gespräch zwischen ihm und Paschinjan vor aller Öffentlichkeit wurde zum Symbol einer tiefen Spaltung zwischen dem Volk und den Herrschenden, zumal Sargsjan offen mit einer Wiederholung des 1. März 2008 drohte.
Der Rücktritt danach kam unerwartet, aber nicht überraschend angesichts des Datums am 23. April. Der 24. April ist der Gedenktag der Armenier*innen an den Genozid im Osmanischen Reich, ein Datum von enormer Bedeutung, wo regelmäßig Hunderttausende sich auf den Weg zur Gedenkstätte Zizernakaberd machen, um an die Opfer zu erinnern und sie zu ehren. Das Gebiet des heutigen Armenien wurde zu großen Teilen von den Überlebenden und Geflüchteten des Genozids bevölkert. Es gibt kaum eine Familie in Armenien, die nicht vor über hundert Jahren ein Opfer zu beklagen hätte. Es wäre ein nationales Desaster für Sargsjan gewesen, an diesem Tag neue Proteste womöglich gewaltsam anzugreifen und aufzulösen.
Mit dem Rücktritt kam Nikol Paschinjan zwar nicht direkt an die Macht, jedoch zeigte der Generalstreik am 2. Mai, dass er auch die Arbeiterklasse mobilisieren konnte, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Für die gesamte Kaukasus-Region war dieser Generalstreik ein Schritt nach vorn, da im Zuge der bürgerlichen Restauration ab 1989/90 die Industrie abgebaut und Unternehmen privatisiert wurden, sodass eine proletarische Organisierung und Mobilisierung schwerer wurde. Der Generalstreik legte das ganze Land lahm und sorgte letztendlich dafür, dass Paschinjan selbst mit den Stimmen der Opposition Premierminister wurde.
Er machte sein Versprechen wahr, indem er wenige Monate später zurücktrat, um Neuwahlen auszurufen: Die ersten freien und unabhängigen seit 1991. Das Land war mitten im demokratischen Aufbruch und sollte 2019 ein Wachstum von 7,5 Prozent hinlegen. Das bekannte Wirtschaftsmagazin Forbes wählte Armenien 2018 zum „Land des Jahres” aus und selbst die FAZ sprach vom „Silicon Valley des Kaukasus” aufgrund der starken IT-Branche in Armenien.
Nichts ist mehr, wie es war
„Wir sind nicht mehr das gleiche Land wie vom 26. September, noch nicht einmal wie vom 8. November”, so der Präsident Armen Sarkissjan in einer Rede am 16. November, bei der er den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen forderte. Das Abkommen mit Russland und Aserbaidschan trägt dazu bei, dass das Land im politischen Chaos versinkt. Neben anderen taktischen Fehlern, die Nikol Paschinjan vorgeworfen wurden, wie etwa seine negative Haltung zu Russland, trägt er selbst nun dazu bei, dass sich die politische Stimmung im Land aufheizt. Sein Facebook-Post vom 15. November, wo er die Soldaten von der Front begrüßt und darauf wartet, dass sie zurückkehren, um mit dem „Weinen vor den Mauern” (damit meint er die Demonstrationen der Oppositionsparteien gegen ihn) Schluss zu machen, kann als Aufruf zu einem Bürgerkrieg verstanden werden.
In den letzten Tagen soll es aber auch Attentatspläne gegen ihn gegeben haben, die der nationale Geheimdienst vereitelte. Während in Arzach russische Truppen einmarschieren, das türkische Militär seine Präsenz zur armenischen Grenze verstärkt, die türkische Fahne über Schuschi weht und mehr als 100.000 Geflüchtete aus Arzach in Not sind, zerfleischen sich die bürgerlichen Parteien und kümmern sich kaum um humanitäre Hilfe für die Geflüchteten. Einmalig bekommen die Geflüchteten aus Arzach rund 140 US-Dollar — eine lächerlich geringe Summe angesichts der Existenz schwerreicher Kapitalisten im Land.
Die Zahl der gefallenen Soldaten ist viel höher als lange Zeit angegeben, mehr als 2500 teils sehr junge Menschen sind gefallen, tausende weitere verwundet und so arm, dass sie sich die Operationen nicht leisten können. Während in Jerewan der Machtkampf tobt, sammeln die armen Familien privat verzweifelt Geld, um ihre Not zu lindern und zu überleben. Eltern vermisster und toter Soldaten demonstrieren vor dem Verteidigungsministerium, um wenigstens die Körper ihrer Kinder zu bekommen, um sie in letzten Ehren bestatten zu können.
Doch wer auch immer den Machtkampf am Ende für sich entscheidet, ob sogar das Militär putscht oder ob Nikol Paschinjan doch überlebt: Das Schicksal Armeniens wird nun im Kreml entschieden. Es scheint ausgeschlossen, dass die zukünftige Regierung ohne Moskaus Willen ins Amt kommt. Russland hat eine sehr starke Militärpräsenz in Arzach aufgebaut und verfügt zudem über eine selbstverwaltete Militärbasis in Armenien. Mit diesem aufgezwungen Abkommen machte es noch einmal deutlich, dass es den Kaukasus als seine Hegemoniezone ansieht. Es setzte sich vorläufig gegen die Türkei durch, was die Stationierung der „Friedenstruppen” angeht und scheint sogar im Begriff zu sein, nicht nur in Arzach präsent zu sein, sondern auch in Karwatschar, das von den Armenier*innen geräumt wurde. Zusammen mit türkischen Truppen wird es in Barda (Aserbaidschan) unweit von Arzach ein Zentrum zur Überwachung des Waffenstillstandes bilden.
Das Abkommen ist zunächst nur für fünf Jahre ausgelegt und kann um weitere fünf Jahre verlängert werden, allerdings ist es im Grunde noch fragiler als das Waffenstillstandsabkommen vom 12. Mai 1994. Der gesamte Südkaukaus wird damit zum Schauplatz starker russischer und türkischer Militärpräsenz und birgt ein enormes Konfliktpotenzial zwischen den Regionalmächten. Genauso wie in Syrien sind die unterdrückten Völker die ersten, die unter dieser Situation zu leiden haben und verfolgt werden. Das armenische Volk zusammen mit den im Land lebenden Ezid*innen und Aramäer*innen steht wortwörtlich zwischen den Fronten zwischen der Türkei, die sie am liebsten ganz vernichten, und Russland, das sie als Manövriermasse beherrschen will.
Deswegen und aufgrund der Geschichte der unterdrückten Völker zwischen Krieg, Vertreibung, Genozid und Kolonisation bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu kämpfen – zu kämpfen, um zu leben!