Abdullah Öcalan: Die Freiheit wird siegen

Vor 23 Jahren musste Abdullah Öcalan Syrien auf Druck der Nato verlassen, nach 130 Tagen auf einer Odyssee wurde er in die Türkei verschleppt. Warum der kurdische Vordenker längst in Freiheit sein sollte, erklärt sein Übersetzer Reimar Heider.

Vor genau 23 Jahren, am 9. Oktober 1998, verließ Abdullah Öcalan Syrien, nachdem die Türkei mit Unterstützung der USA mit einer Invasion Syriens gedroht hatte. Öcalan wurde zu einem der ersten prominenten Opfer von Überstellungen nach dem Muster von Guantanamo, als er 1999 in Kenia entführt und in die Türkei verschleppt wurde. Der Einmarsch in Syrien wurde aufgeschoben, doch heute hält die Türkei große Teile des mehrheitlich kurdisch besiedelten Nordens besetzt.

Öcalan und die von ihm gegründete Bewegung, die 1999 in der Welt kaum bekannt war, erlangten in den letzten Jahren mit der Rojava-Revolution und dem erfolgreichen Kampf gegen den IS größere Popularität. Er wird auf der Insel Imrali in völliger Isolation gehalten und darf keinen Besuch empfangen. Dennoch bleibt er durch die von ihm aufgebaute Bewegung und die Bücher, die er in seiner Gefängniszelle geschrieben hat, einflussreich.

Obwohl seine Inhaftierung darauf abzielte, ihn von der politischen Bühne verschwinden zu lassen, ist es Öcalan gelungen, seine Bekanntheit zu erhöhen. Im Gefängnis verfasste er mutige, innovative Werke, die seine Stellung als einen der bedeutendsten Denker unserer Zeit eindrucksvoll belegen. Seine Gefängnisschriften haben Millionen von Menschen mobilisiert und eine sich anbahnende Revolution in Rojava, Nordsyrien, inspiriert, aber auch die Mauern der akademischen Welt durchdrungen und zahlreiche Wissenschaftler:innen zum Nachdenken angeregt. Damit ist er ein wichtiger Akteur für einen friedlichen und demokratischen Wandel im Nahen Osten und in der Lage, einen enormen positiven Einfluss auf die ganze Welt auszuüben.

Öcalans Einfluss lässt sich am besten anhand zahlreicher Vergleiche aus den letzten Jahren mit verschiedenen Persönlichkeiten und revolutionären Schriftsteller:innen zusammenfassen, die Aspekte seines Einflusses beleuchten. Zusammen zeichnen sie ein farbenfrohes Bild einer Person in strenger Isolation von der Außenwelt.

Karl Marx war zweifellos eine wichtige Inspiration für die revolutionäre Linke in den 1970er Jahren, und auch für Abdullah Öcalan. Als Marx sein wichtigstes Werk, Das Kapital, schrieb, hatte er Zugang zu einer der besten Bibliotheken der Welt und konnte mit Freund:innen und Genoss:innen korrespondieren. Öcalan hingegen schreibt allein in seiner Zelle und darf nur ein Buch auf einmal lesen.

Wie Wladimir Iljitsch Lenin hat Öcalan eine Organisation geschaffen, die selbst härtesten Repressionen durch diktatorische Regime standgehalten hat. Den leninistischen Modellen von Partei, Staat und Revolution hat er aber längst den Rücken gekehrt.

Schnell kommt einem Antonio Gramsci in den Sinn. Wie Öcalan war auch er ein herausragender Intellektueller, dessen Denken sich um die Befreiung der Unterdrückten drehte. Seine berühmtesten Schriften, die Gefängnishefte, entstanden in einer Zelle im faschistischen Italien. Gramsci verbrachte seine letzten zehn Jahre in Gefangenschaft; Öcalan ist nun schon seit 22,5 Jahren inhaftiert.

Frantz Fanon hat in brillanter Weise über die psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf alle Beteiligten und die Wege zur Befreiung geschrieben. Öcalan, ein begeisterter Leser von Fanons Büchern, teilt dessen Fokus auf die Psychologie der Unterdrückten, aber im Gegensatz zu Fanon (und vielen anderen brillanten Autor:innen) ist es ihm gelungen, um diese Ideen herum eine Bewegung aufzubauen, die seit Jahrzehnten allen möglichen Angriffen standhält.

Öcalan wurde am 9. Oktober, dem Jahrestag der Ermordung von Ernesto Che Guevara, aus Syrien vertrieben. Kurdinnen und Kurden haben oft spekuliert, dass dies beabsichtigt war. Wie Che inspiriert auch Öcalan mit seinen Taten und Schriften junge Menschen in der ganzen Welt. Und auch die ikonischen Porträts von beiden wurden von ein und demselben Künstler, Jim Fitzpatrick, gezeichnet. Während die Revolution in Kuba vom sozialistischen Staatenblock unterstützt wurde, wird die von Öcalan inspirierte Revolution in Rojava von keiner Großmacht der Welt unterstützt - aber sie erhält die Unterstützung der Bevölkerung.

Oft werden Vergleiche mit Nelson Mandela gezogen, die sich auf Popularität und Öcalans Rolle in vergangenen und zukünftigen Friedensprozessen konzentrieren. Wie Mandela ist auch Öcalan zu einem wichtigen Symbol des Widerstands gegen die Unterdrückung eines ganzen Volkes und für einen demokratischen Wandel weit über sein Heimatland hinaus geworden. Mandela erhielt nach seiner Freilassung die Chance, einen Friedensprozess auszuhandeln. Öcalan hat diese Möglichkeit bisher nicht gehabt. Alle Gespräche, die er bisher mit dem Staat geführt hat, fanden in Gefangenschaft statt.

All diese Vergleiche haben natürlich ihre Grenzen, aber sie zeigen, dass Öcalan heute von vielen Menschen in der ganzen Welt als wichtiger Theoretiker und einflussreicher Organisator des revolutionären Wandels anerkannt wird. Vielleicht war genau dies der Grund für die Ermordung von Che Guevara und die Entscheidung, Öcalan an die Türkei auszuliefern. Die Türkei hält ihn auf dieselbe Weise gefangen wie das faschistische Italien es mit Gramsci tat. Die europäischen Regierungen unterstützen die Kerkermeister anstelle der Unterdrückten, die sie als Terroristen verunglimpfen, so wie sie es mit dem ANC im Südafrika der Apartheid taten. Öcalans Situation ähnelt all dem auffallend.

Am wichtigsten ist jedoch, dass Öcalan im Gegensatz zu allem anderen, was oben erwähnt wurde, nicht Geschichte ist. Er ist ein lebender, fühlender, leidender politischer Gefangener in einem europäischen Gefängnis, das zahlreiche Menschenrechtsnormen und -konventionen verletzt - allen voran die „Nelson-Mandela-Regeln“ der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen.

Internationale politische und menschenrechtliche Organisationen werden immer wieder aufgefordert, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen, um eine Verbesserung der schrecklichen Haftbedingungen Öcalans zu erreichen und seine Freiheit zu erlangen. Wir stellen jedoch fest, dass das internationale Recht und die Menschenrechtskonventionen zunehmend an Substanz verlieren und zu Werkzeugen werden, die gegen die Rechte und Freiheiten der Menschen eingesetzt werden. Es gibt keine einzige Institution oder Organisation, die wirksam gegen die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen vorgeht, die die Türkei tagtäglich begeht.

Bis jetzt waren es das kurdische Volk und seine Freundinnen und Freunde, die unaufhörlich Widerstand geleistet und unermüdlich für Öcalans Freiheit gekämpft haben. In Zeiten wie diesen ist die einzige Kraft, die wirklich zählt, die Kraft des Volkes. Es ist diese Kraft, die letztendlich die Türen von Imrali öffnen wird. Und deshalb sollten sich alle an der Kampagne für Öcalans Freiheit beteiligen. Fordern Sie seine sofortige Freilassung, wo auch immer Sie sich befinden, damit „die Freiheit siegt“.

Reimar Heider ist Übersetzer der Gefängnisschriften von Abdullah Öcalan und Sprecher der Internationalen Initiative „Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“.