Besê Hozat hat sich als Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) im ANF-Interview zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen als zweiten Teil einen Auszug zur aktuellen Situation im Irak, im Iran und in Syrien, den Interessen der Weltmächte im Zusammenspiel mit der Türkei und der Bedeutung eines kurdisch-arabischen Bündnisses.
Im Irak herrscht in den letzten Monaten ein ernstzunehmendes Durcheinander. Verschiedene regionale und internationale Kräfte tragen dort ihre Konflikte aus. Diese Kräfte wollen auch die als Reaktion darauf ausgebrochene Bewegung in der Bevölkerung manipulieren. Was ist die richtige Politik für eine wirkliche Lösung im Irak? Wie sollte mit der Situation umgegangen werden?
Der Irak ist seit den 1990er Jahren Zentrum der NATO-Intervention im Mittleren Osten. Seit Jahrzehnten findet ein blutiger Inlandskrieg statt. Die globalen Hegemonie- und Status-Quo-Kräfte, die von nationalistischen und konfessionellen Ideologien zehren, haben aus dem Zentrum der Zivilisation ein Grab der Völker gemacht. Der Kriegszustand und das Chaos im Irak können nicht mit einer nationalistischen und konfessionsbezogenen Politik überwunden werden. Im Irak können die Probleme nur mit dem System einer demokratischen Nation und einem demokratischen Führungsverständnis gelöst werden. Nur so kann ein Ausweg aus dem Chaos gefunden werden. Der Hauptgrund für die herrschende Armut und Korruption ist dieses fehlende demokratische Regierungsverständnis. Ein demokratisch-föderales oder konföderales System, das auf dem Paradigma einer demokratischen Nation aufbaut, ist die einzige wirkliche Lösung im Irak. Kurden, schiitische und sunnitische Araber, Turkmenen, Aramäer, Assyrer und Eziden können frei unter einem föderalen oder konföderalen Dach leben, wenn sie demokratisch-autonome Systeme im Irak aufbauen. Das ist die richtigste und realistischste Lösung.
Wir finden nationalstaatliche Politik falsch. Das System des Nationalstaats entspricht nicht den Interessen der Kurden, der Völker, der Frauen und aller unterdrückten Klassen.
Weder Einmischung von außen noch Status quo
Nachdem das Chaos im Irak größer geworden ist, hat auch der Konflikt zwischen dem Iran und den USA einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Was findet hier statt und wie sollte man sich dazu positionieren?
Zwischen den USA und dem Iran findet auf irakischem Boden ein Machtkampf statt. Beide Seiten wollen ihren Einfluss im Irak vergrößern. Mit dem Anschlag auf den iranischen General Ghassem Soleimani in Bagdad wollten die USA den Einfluss des Iran im Irak und der gesamten Region brechen. Gleichzeitig besteht ein Zusammenhang mit der allgemeinen Interventionspolitik der USA im Mittleren Osten. Bei der Umformung der Region entsprechend der eigenen Interessen wollen die USA den Iran schwächen und an den gewünschten Punkt bringen.
Die richtige Positionierung der Bevölkerung ist eine auf eigener Kraft basierende Organisierung und Verteidigung. Die Völker müssen sich nicht auf die Seite der Hegemonialmächte oder der Status-Quo-Staaten in der Region stellen. Beide Seiten erkennen den Willen und die Freiheit der Menschen nicht an. Die richtige Haltung ist es, die eigenen Kräfte zu organisieren, ein Bündnis zwischen den Völkern zu schließen und einen unabhängigen Kampf zu führen. Es geht dabei um die Fähigkeit, sich mit einem demokratischen Politikverständnis zu organisieren und eine eigene Leitung und Selbstverteidigung aufzubauen. Die Menschen müssen auf ein Völkerbündnis in der Region und den darauf basierenden revolutionär-demokratischen Kampf setzen. Ein konföderales System, das fern von nationalistischer, konfessioneller und sexistischer Ideologie auf autonomen Gebieten und einer demokratischen Einheit der Völker aufbaut, ist das beste Verteidigungssystem. Erst wenn mit diesem Verständnis gekämpft wird, können sich die Völker aus ihrer Opferrolle befreien.
In dieser Hinsicht ist ein demokratisches Bündnis zwischen den Völkern, vor allem eine kurdisch-arabische Allianz, sehr wichtig. Ein solches Bündnis in der Region könnte zu historischen Entwicklungen im Sinne der Völker führen. Auch ein kurdisch-persisches Bündnis hätte eine ähnlich positive Wirkung. Diese Aufgabe obliegt den revolutionär-demokratischen Kräften, die den Anspruch haben, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Das gegen die Menschen im Mittleren Osten gerichtete Komplott kann nur mit einer demokratischen Allianz der Völker wirkungslos gemacht werden.
Türkischer Staat will schwache Nachbarn
Welchen Anteil hat der türkische Staat an den Geschehnissen im Irak, im Iran und in Syrien? Was erhofft er sich von dem Chaos?
Der türkische Staat hat maßgeblich zu der aktuellen Situation in Syrien und im Irak beigetragen. Er steht an der Spitze der Kräfte, die den Krieg in beiden Ländern gefördert und verstärkt haben. Seit dem ersten Tag bestehen eine Zusammenarbeit und ein Bündnis zwischen dem IS und der AKP. Der türkische Staat hat bei den IS-Angriffen im Irak und in Syrien jede Form von materieller, ideeller und militärischer Unterstützung geleistet. Das ist eine Tatsache, die in offiziellen Dokumenten belegt ist. Das türkische Regime will seit Jahren seine Vormachtstellung in der Region ausbauen, indem es seine Nachbarländer mit internen Kriegen schwächt. Es will die früher von den Osmanen beherrschten Gebiete unter seinen Einfluss bringen. Zu diesem Zweck gibt es auch die türkische Militärbasis Başika in Südkurdistan. Sie ist das zentrale Hauptquartier, in der die Expansions- und Besatzungspolitik politisch, militärisch und nachrichtendienstlich organisiert wird. Das Gleiche passiert in der türkischen Besatzungszone in Syrien.
Für den Iran besteht ein ähnlicher Plan. Der türkische Staat betrachtet den Iran als Konkurrenz und als Hindernis bei der eigenen Hegemonialpolitik in der Region. Eine Schwächung des Iran durch interne Auseinandersetzungen bewertet er als Vorteil für sich. Mit ihrer Politik legt die Türkei ohnehin offen dar, was sie ist und wo sie steht.
Hauptwidersprüche zwischen AKP und USA
Der türkische Staat hat zuletzt mit seiner Intervention in Libyen offiziell verdeutlicht, dass er als Schutzmacht der Dschihadisten fungiert. Wie muss die Dschihadisten-Politik Erdoğans und das Schweigen der Weltöffentlichkeit dazu interpretiert werden?
Die USA behandeln die AKP als Projekt des „weichen Islam“. Die Gülen-Gemeinde ist mit dem Erfolg dieses Projekts beauftragt worden. Die Allianz zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde im Zeitraum 2002 bis 2013 war Teil des US-Plans. Mit diesem Projekt wollten die USA die Türkei als Modell für die islamische Welt etablieren, um über die Türkei die Kontrolle zu gewinnen. In dieser Hinsicht ist die AKP-Politik in der Region aktiv unterstützt worden. Die AKP hat von dieser äußeren Unterstützung profitiert und in ihren Einflussgebieten verschiedene Gruppen organisiert. Bis sie die Kontrolle über den Staat erlangte, hat die AKP sich an die US-Politik gehalten. Als die Gülen-Gemeinde zunehmend Machtansprüche erhob, kam es zu großen Auseinandersetzungen und die AKP schlug zunehmend eine Richtung ein, die im Widerspruch zu den US-Interessen stand.
Das zweite große Problem mit den USA trat beim Thema IS auf. Der türkische Staat wurde innerhalb der NATO zu der Kraft, die in den Beziehungen zum IS die aktivste Rolle übernahm. Die NATO änderte ihre Politik, um den IS zu schwächen, aber die AKP behielt ihre Politik bei und intensivierte ihre Beziehung zum IS. Bei diesem Thema traten Probleme mit den USA auf, es entstanden Widersprüche. Die AKP gab den IS aufgrund ihrer ideologischen Nähe nicht auf. Sie verfolgte beharrlich das Ziel, im Irak und in Syrien eine Regierung an die Macht zu bringen, die ihrer eigenen ideologischen Ausrichtung nahesteht. Aus diesem Grund bemühte sie sich darum, den Krieg im Irak und in Syrien zu vertiefen. Gleichzeitig unterstützte sie den IS, um über die Islamisten einen Genozid an den Kurden zu vollziehen und ihren neoosmanischen Plan zu verwirklichen. Sie wollte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Türkei hat eine Dschihadistenarmee gegründet
Nach der Niederlage des IS hat die AKP die zerstreuten IS-Mitglieder unter neuem Namen wieder zusammengeführt. Auch die ideologisch gleichgesinnten Al-Nusra- und verschiedene Al-Qaida-Gruppen wurden unter neuen Namen organisiert. Seit die AKP an die Regierung gekommen ist, wurden Vorbereitungen in diese Richtung getroffen. Mit der Zeit hat sie eine große Dschihadistenarmee aufgebaut. Diese Dschihadistenarmee ist beim Widerstand für Selbstverwaltung in Nordkurdistan gegen die Kurden eingesetzt worden. Ein Teil Nordsyriens ist mit diesen Dschihadisten besetzt worden. Jetzt werden sie teilweise nach Libyen geschickt. Obwohl die USA, Europa und Russland sehr genau darüber Bescheid wissen, unterstützen sie die Dschihadistenpolitik des türkischen Staates weiter. Die Türkei baut sogar mit Unterstützung der USA und einigen europäischen Ländern ein Dschihadistensystem in Nord- und Ostsyrien auf.
Lieber ein Dschihadistenstaat als ein Autonomiesystem
Wir müssen die Politik der globalen Mächte gegen die Kurden und die Völker der Region in ihrer ganzen Tiefe begreifen. In Nordsyrien wird ein Dschihadistenstaat einem demokratisch-autonomen System der Kurden und der anderen dort lebenden Völker vorgezogen. Das ist eine Tatsache, die die Politik der globalen Mächte ganz offen zeigt. Sie wollen kein demokratisches System in der Region. Sie sind gegen eine Demokratisierung des Mittleren Ostens. Ständige Konflikte und Kriege entsprechen ihren Interessen mehr. Es handelt sich um ein Machtsystem, das von Konflikten und Chaos lebt. Weil die AKP/MHP-Regierung ihren schmutzigen Interessen dient, wird sie von den Hegemonialmächten unterstützt. Die Politik der faschistischen AKP/MHP-Regierung vertieft das Chaos und steigert die Konflikte. Diese Politik dient der aktuellen Politik der Hegemonialmächte.
Abgestimmter Dschihadistentransfer nach Libyen
Auch der Transfer von Dschihadisten nach Libyen war mit diesen Kräften abgestimmt. Davon auszugehen, dass die internationalen Mächte nichts davon wussten und nicht zugestimmt haben, wäre falsch. Die Dschihadisten, die in Syrien nicht zu bezwingen waren, sind nach Libyen geschickt worden.
Bei der Libyen-Politik der türkischen Regierung geht es um die Expansion ihrer konfessionell-ideologischen Ausrichtung und um eine Machtdemonstration, um die im In- und Ausland erlebte Schwäche zu vertuschen. Bei dieser Politik handelt es sich jedoch um eine Totgeburt.
Wie sehen Sie die Haltung der arabischen Welt zur Mittelostpolitik des türkischen Staates? Und welche Bedeutung hat das in Nord- und Ostsyrien entstandene kurdisch-arabische Bündnis für die arabische Welt?
Es war wichtig, dass die Länder der Arabischen Liga die Invasion des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien verurteilt und sich gegen die Besatzung positioniert haben. Das zeigt zumindest eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber der türkischen Expansionspolitik. Es reicht jedoch nicht aus. Alle arabischen Länder müssten aktiv gegen die Besatzungsangriffe der Türkei kämpfen. Der türkische Staat betreibt eine Expansionspolitik über die eigenen Grenzen hinaus und besetzt militärisch ausländisches Territorium. Die besetzten Gebiete werden annektiert und über die Vernichtung der einheimischen Bevölkerung werden die staatlichen Grenzen ausgedehnt. Der türkische Staat begeht Verbrechen an der Menschheit. Dagegen ist jede Art des Kampfes legitim.
Eine kurdisch-arabische Allianz hat eine Schlüsselfunktion bei der Demokratisierung der Region. Das kurdisch-arabische Bündnis, das in Nord- und Ostsyrien geschlossen wurde, hat großartige Entwicklungen hervorgerufen. Es hat eine Auflösung Syriens verhindert und eine Einheit erbracht. Gegen den IS und die türkische Besatzung ist gemeinsam gekämpft worden, was zu wichtigen Ergebnissen geführt hat. Ein solches Bündnis in der gesamten Region aufzubauen, ist für eine Demokratisierung, für Freiheit und Frieden im Mittleren Osten sehr wichtig. Die Demokratisierung des Mittleren Ostens hängt von einer dauerhaften Stärkung einer kurdisch-arabischen Allianz ab. Dieses Ziel zu verfolgen, ist eine sehr wertvolle Aufgabe.