Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. In dem Interview legte Bayik seine Ansichten zu dem internationalen Komplott gegen die kurdische Befreiungsbewegung, das mit der erzwungenen Ausreise von Abdullah Öcalan aus Syrien am 9. Oktober 1998 begann, der Guerillaaktion gegen eine Polizeistation in Mersin, den in Ostkurdistan und Iran nach dem Mord an Jina Mahsa Amini ausgebrochenen Aufständen, dem tödlichen Anschlag auf die Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel in Silêmanî, dem Guerillakampf in Kurdistan und der Staatspolitik in Nordkurdistan und der Türkei dar. Wir veröffentlichen den vierten und letzten Teil des Interviews.
Auch in Nordkurdistan verfolgt der türkische Staat eine schmutzige Politik. Zusätzlich zu den schmutzigen Methoden, die Sie bereits beschrieben haben, wird mit einer als „Kulturfestival“ verbrämten Veranstaltung in Sûr, der Altstadt von Amed [Diyarbakır], aktuell versucht, die kurdische Politik zu spalten und den Spezialkrieg zu vertiefen. Was halten Sie davon?
Die AKP/MHP-Regierung will alles beseitigen, was den Namen Kurdistan oder Kurdisch trägt. Sie tut dies ganz offen und ist der Meinung, damit die gewünschten Ergebnisse erzielen zu können. Solche Täuschungsmanöver sind Teil der Sonderkriegsführung. Das Regime glaubt, auf diese Weise Weise alle zur Kapitulation zwingen und den Völkermord zu vollenden. Es ist ja nicht so, dass der türkische Staat nur gegen den kurdischen Menschen ist. Alle Berge, Bäume und sogar die Fauna Kurdistans wurden zum Feind erklärt. Sein Ziel ist es, den Kurdinnen und Kurden keinen einzigen Fußbreit Lebensraum zu lassen. Das Abholzen von Bäumen in Orten wie Dersim und Botan ist Teil dieser Politik. Es ist nicht nur das Abholzen und Veräußern von Bäumen, es ist ein Ökozid. Der türkische Staat vernichtet die Natur, weil das zur Strategie der genozidalen Politik gehört. Das ist keine Randerscheinung des Krieges, sondern integraler Bestandteil.
Das sogenannte Festival in Sûr ist hier nur ein weiterer Baustein. Es wird von jenen organisiert, die seinerzeit nichts unversucht ließen, den gesamten Ort samt aller Häuser dem Erdboden gleichzumachen. Daher kann nicht behauptet werden, die kurdische Gesellschaft hätte einen Nutzen davon. Es geht dem türkischen Staat lediglich darum, die Kurden zu assimilieren. Er will sie vergessen lassen, welches Leid über dieses Volk bisher gebracht worden ist. Die Spuren der Vernichtung von Sûr sollen beseitigt werden. Unsere Menschen sollten sich diesem Festival verweigern, sie sollten es ablehnen. Es ist eine Quelle der Schande, für Amed und für Sûr. Erinnern wir uns an den Besuch von Türkeş [Alpaslan; neofaschistischer Rechtsextremist und Gründer der MHP] 1995 in Amed. Unser Volk machte ihm unmissverständlich deutlich, dass er in der Stadt nicht zu suchen hatte. In der Folge dachte Türkeş noch nicht mal daran, nochmal nach Amed zu reisen.
Heute stellen wir fest, dass sich Vertreter des Staates wieder nach Amed trauen. Sie wollen den Patriotismus von Amed und Kurdistan beseitigen. Sûr wurde faktisch von der Landkarte ausradiert, an seinen Bewohnerinnen und Bewohnern sind schwerste Verbrechen verübt worden. Dieser Staat begeht Massaker, will die Menschen durch ein ganzes System an schmutzigsten Methoden ihrem Willen berauben, führt Hinrichtungen in Gefängnissen durch, foltert und verhaftet – und das Tag für Tag – setzt rund um die Uhr seine Chemiewaffen gegen die Guerilla ein, greift permanent Rojava und Südkurdistan an und tötet seine Menschen. Und dann präsentiert sich dieser Staat als Veranstalter eines Kulturfestivals in Sûr? Was hat das zu bedeuten? Es steht für die Annahme: ‚Ganz gleich, was auch immer ich mache, die Kurden können mich nicht durchschauen, und ich kann sie auf eine einfache Art und Weise vergessen lassen, was ich ihnen angetan habe.‘ Die Kurden von heute sind nicht die Kurden von damals. Die von heute wird niemand dazu bringen können, ihre kurdische Identität zu vergessen. Heute rächen sich die Kurdinnen und Kurden für alles, was sie durchgemacht haben, und werden dies auch weiterhin tun.
Kürzlich ist in der Türkei unter dem Eindruck der genozidalen Politik, von der wir sprechen, das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ ins Leben gerufen. Diese Allianz wird von Tag zu Tag größer, weil sie die Völker der Türkei vertritt. Die Politik wird nicht mehr von AKP, MHP und CHP bestimmt, sondern von diesem Bündnis. Es lässt sich als Versinnbildlichung der Strategie des „dritten Wegs“ verstehen. Diese Art von Politik wird mit jedem Tag stärker und wirkt sich auf alles Politische im Land aus. Den Herrschenden ist klar, dass Politik in der Türkei fortan ohne das Bündnis für Arbeit und Freiheit nicht mehr funktionieren wird. Sie halten es für äußerst gefährlich, deshalb legen sie Hand an. Sie wollen den dritten Weg schwächen, sie wollen ihn neutralisieren. Nur so, glauben sie, können sie ihre Macht erhalten. Die Öffentlichkeit muss dieser Taktik ins Auge sehen und sie vereiteln. Jede Person sollte sich auf ihre Art und Weise an dem Bündnis für Arbeit und Freiheit beteiligen, um es zu stärken und damit das Regime ins Leere laufen lassen. Nur so kann diese faschistische Regierung ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte katapultiert werden. Erst dann lassen sich die Probleme der Kurden, aller anderen Völker, der alevitischen Gemeinschaft und weiterer Gruppen lösen. Der dritte Weg, der von der HDP und vielen anderen Parteien und Organisationen verfolgt wird, ist die einzige Lösung. Wir alle wissen, dass die HDP die treibende Kraft dieser Strategie ist. Alle sind sich einig, dass die HDP bei den kommenden Wahlen eine entscheidende Rolle spielen und das Ergebnis bestimmen wird. Als Antwort auf all diese Bemühungen wird der Staat versuchen, dieses Bündnis zu brechen.
Die AKP und ihr Koalitionspartner MHP sind von Kapitalisten und den am internationalen Komplott [gegen Abdullah Öcalan] beteiligten Kräften an die Macht gehievt worden, um den Genozid am kurdischen Volk zu vollenden. Denn allein schon dieser Piratenakt bedeutete, den finalen Schachzug im Vernichtungsplan zu setzen. Mit Hilfe der AKP und MHP haben die Komplott-Kräfte gewisse Erfolge erzielt, nun wollen sie ihre Bemühungen zum Abschluss bringen. Mit anderen Worten: sie werden versuchen, den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden durch die Vernichtung der PKK zu vollenden. Deshalb bestehen auch sie darauf, dass dieses Regime seine Macht erhalten kann. Wie wollen sie das erreichen? Indem sie das Bündnis, zu dem die HDP gehört, schwächen. Gelingt es, dieses Bündnis, die HDP und die Kurden zu spalten, würde auch nicht die CHP an die Macht kommen können – das Regime bliebe an der Spitze des Staates. Das ist die Grundlage der Taktik, die derzeit angewandt wird. Es ist der MIT [türkischer Geheimdienst], der als einer der Hauptpfeiler dieser Strategie handelt. Wenn die CHP glaubt, dass sie an die Macht kommt, indem sie sich die Stimmen einiger Kurden sichert, dann irrt sie sich. Sie spielt nur das Spiel von Erdoğan und Bahçeli [MHP-Vorsitzender] mit. Ich möchte alle warnen: Diejenigen, die das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ und die HDP schwächen, dienen nur der AKP/MHP und der Politik des Genozids. Niemand darf das unterstützen. Mitmenschen, die den Herrschenden ihren Dienst erweisen, sollte man sich entgegenstellen, sie aufhalten und ihnen sagen: Heute gibt es zum ersten Mal Hoffnung in der Türkei.
Die demokratischen Kräfte haben begonnen, aktiv zu werden. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Wahlen, sondern wird auch das Schicksal der Türkei und aller anderen bestimmen und bestehende Probleme lösen, auch die kurdische Frage. Das ist es, was der türkische Staat verhindern will. Er kann bestimmte Ergebnisse erzielen, indem er die HDP zum Schweigen bringt oder indem er sie zerteilt, indem er die Kurden spaltet. Deshalb müssen wir die HDP und dieses Bündnis gegen diese Politik stärken. Dann werden sich die Spiele des türkischen Staates gegen ihn wenden. Es ist dieses Bündnis, das die Wahlen und die Zukunft der Türkei bestimmen wird. Deshalb möchte ich alle auffordern, sich an dieser Initiative zu beteiligen. Denn nur durch die Stärkung dieses Bündnisses können sie sich vor dem Faschismus retten.
Teil 3:
Teil 2:
Teil 1: