Vom 5. bis 11. September 2020 fand unter dem Motto „Für die Freiheit Rêber Apos! Zusammen Serhildan!“ ein Protestmarsch kurdischer Jugendbewegungen von Hannover nach Hamburg statt. Jeder der sieben Tage stand unter einem anderen inhaltlichen Motto, sodass die Aktion verschiedene Themen miteinander verband. An dem „Langen Marsch“ beteiligten sich täglich bis zu 200 Personen, nicht nur kurdische Jugendliche, sondern auch Aktivist*innen anderer linker Bewegungen.
Die Versammlungsbehörden und die Polizei versuchten die Versammlung immer wieder zu behindern und einzuschränken. Öcalan-Fahnen und -Bilder waren von Anfang an per Auflage der Versammlungsbehörde verboten worden. Das Verwaltungsgericht Hannover bestätigte diese Entscheidung (VG Hannover vom 07.09.2020 – 10 B 4592/20). Eine andere Auflage, das Protestcamp im Lüneburger Kurpark in den Nächsten vom 8. bis 10. September nicht zum Übernachten zu nutzen, wurde vom Verwaltungsgericht Lüneburg gekippt (VG Lüneburg vom 07.09.2020 – 5 B 44/20).
Aus diesem Protestcamp kommend, waren Teilnehmer*innen des Protestmarschs am Morgen des 10. September mit dem Regionalzug auf dem Weg zu ihrem Startpunkt. Die Darstellung der Ereignisse durch die Organisator*innen und die Polizei unterscheiden sich. Fest steht, dass Teilnehmer*innen am Bahnhof Bardowick den Zug verlassen mussten und dort nach unterschiedlichen Angaben der Polizeibehörden 50 bis 80 von ihnen festgehalten, über Stunden gekesselt und kontrolliert wurden. 14 Teilnehmer*innen wurden kurzzeitig festgenommen und über acht Stunden festgehalten. Am Ende des Tages reichten die Vorwürfe der Behörden von Treten gegen Polizist*innen über aufgrund der Corona-Verordnungen unerlaubten Aufenthalt in Deutschland bis hin zu Fahren ohne gültigem Fahrschein. Die TCŞ, Teko-JIN, YXK und JXK widersprachen den Vorwürfen in einer umfangreichen Gegendarstellung.
Anfang Dezember haben die ersten Betroffenen Briefe von der Bundespolizeiinspektion Bremen erhalten, in denen ihnen vorgeworfen wird, ohne gültigen Fahrschein im Regionalzug gefahren zu sein und dadurch Leistungen erschlichen zu haben (§ 265a StGB). Sie werden aufgefordert, sich schriftlich zu den Vorwürfen zu äußern. Aus diesem Anlass hat ANF einen Mitarbeiter des Rechtshilfefonds AZADÎ gefragt, wie sich in einem solchen Fall verhalten werden kann.
ANF: Was sind das für Briefe, die geschickt wurden? Lässt sich schon abschätzen, was für Ausmaße das Verfahren annimmt?
AZADÎ: Die Polizei ermittelt gerade gegen Teilnehmer*innen des Langen Marsches. Wir wissen von einem knappen Dutzend Personen, die von der Bundespolizei angeschrieben wurden. In den Briefen, von denen wir mitbekommen haben, geht es bisher ausschließlich um den Vorwurf, ohne Zugticket gefahren zu sein, also den Tatbestand der Erschleichung von Leistungen nach § 265a des Strafgesetzbuchs verwirklicht zu haben. Das ist das, was wir als AZADÎ bisher wissen.
In den Pressemitteilungen im September hatten die Behörden aber auch andere Vorwürfe erhoben, z.B. Beleidigung oder Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen, indem sich Menschen, die nicht in Deutschland leben, entgegen dieser Bestimmungen hier aufgehalten haben. Wir wissen auch von ziemlich rabiaten Festnahmen durch die Polizei und da ist es nicht unüblich, dass die Betroffenen wegen versuchter Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamt*innen oder tätlichem Angriff angezeigt werden. Von daher können wir noch nicht absehen, was für weitere Verfahren folgen werden.
Gerade deswegen ist es auch so wichtig, jetzt nicht einfach irgendwas zu antworten.
ANF: Müssen die Angeschriebenen denn überhaupt auf die Briefe antworten? Wie sollen sie sich jetzt am besten verhalten?
AZADÎ: Die Polizei ermittelt gegen die Aktivist*innen und wirft ihnen vor, sich strafbar gemacht zu haben. Sie sind also Beschuldigte. Beschuldigte müssen sich nicht zu den Vorwürfen, die ihnen gemacht werden, äußern, weder schriftlich noch mündlich. Sie haben das Recht zu schweigen. Die Betroffenen sollten also nicht auf die Briefe antworten. Stattdessen sollten sie sich an uns oder eine Ortsgruppe der ROTEN HILFE in ihrer Nähe wenden.
Wenn sie das wirklich wollen, können sie sich auch noch später zu den Vorwürfen äußern. Das sollten sie aber wirklich nur machen, wenn sie dabei von einem*einer Anwalt*in beraten werden. Rechtsanwält*innen können vorher die Ermittlungsakten einsehen und abschätzen, was auf die Betroffenen zukommt. Das können die Betroffenen oder wir derzeit nicht. Kontakte zu guten Strafverteidiger*innen können Betroffene von Repression über uns bekommen. Wir zahlen in politischen Sachen den Anwält*innen auch einen Kostenvorschuss und unterstützen bei Anwält*innen- oder Gerichtskosten.
ANF: Du sagtest, es ist noch nicht wirklich absehbar, was da noch auf die Betroffenen oder andere Teilnehmer*innen des Langen Marschs zukommen kann. Was können denn die Betroffenen jetzt schon mal tun, außer nicht auf die Briefe zu antworten und euch Bescheid zu sagen?
AZADÎ: Das allerwichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren. Das ist auch der beste Rat, den die ROTE HILFE immer in ihren Tipps gibt. Dann sollten sich die Betroffenen nochmal erinnern, wer noch mit ihnen am Marsch teilgenommen hat und ihre Bezugspersonen fragen, ob sie auch Post bekommen haben und bereits wissen, wie sie damit umgehen.
Die Polizei ermittelt jetzt. Je weniger Informationen sie bekommt, desto schwieriger wird es für die Staatsanwaltschaft, die Teilnehmer*innen anzuklagen. Vielleicht versucht die Polizei nochmal die Betroffenen anzuschreiben oder lädt sie vor. Auch dann haben die Beschuldigten das Recht zu schweigen und müssen zu dem Termin nicht erscheinen. Auch Zeug*innen dürfen die Auskunft verweigern, wenn sie Gefahr laufen, sich selbst zu belasten. Wenn dann die Ermittlungen abgeschlossen werden, muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob sie die Verfahren einstellt, Anträge auf Strafbefehle stellt oder Anklage beim Gericht erhebt. Die Betroffenen bekommen dann in jedem Fall wieder Post und sollten sich wieder bei uns melden. Damit sollten sie auf keinen Fall warten, denn es kann sein, dass damit Fristen verbunden sind, die unbedingt einzuhalten sind.
Die Behörden haben ja teilweise von bis zu 80 Personen in Bardowick geschrieben. Wir wissen auch von Teilnehmer*innen, die vor Ort waren und bisher nicht angeschrieben wurden. Sollten es aber viele Verfahren werden, die vielleicht sogar vor Gericht geführt werden, müssten sich die Betroffenen nochmal Gedanken machen, wie sie diese Verfahren führen wollen und ob sie gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit oder praktische Solidarität organisieren wollen.