Gegendarstellung: „Helme aufsetzen und draufhauen!“

Die Organisator*innen des „Langen Marsches“ für die Freiheit von Abdullah Öcalan widersprechen der medialen Berichterstattung über den Polizeieinsatz in Bardowick und haben eine Gegendarstellung veröffentlicht.

Am 5. September 2020 startete der alljährliche „Lange Marsch“ (Meşa Dirêj) kurdischer und internationalistischer Jugendlicher von Hannover nach Hamburg. Die Demonstration, zu dem jährlich hunderte kurdische und internationalistische Jugendliche aus ganz Europa zusammenkommen, verfolgt nach Angaben der Veranstalter*innen das Ziel, „für die Freiheit von Abdullah Öcalan einzustehen, auf die aktuelle politische Lage in Kurdistan und im Mittleren Osten aufmerksam zu machen und der deutschen Gesellschaft die Folgen der deutsch-türkischen Kriegsbrüderschaft aufzuzeigen“.

Die kurdische Jugendbewegung und die Studierendenverbände YXK/JXK haben nach dem Abschluss ihrer Dauerdemonstration am Freitagabend in Hamburg eine Stellungnahme abgegeben, in der sie zum Hintergrund erklären: „Das Hauptziel des Langen Marsches ist es, Aufmerksamkeit für den Gesundheitszustand Abdullah Öcalans und die gegenwärtige Situation in Kurdistan zu schaffen. Abdullah Öcalan, der seit seiner Gefangennahme am 15. Februar 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft festgehalten ist, wird von Millionen Kurdinnen und Kurden als ihr politischer Repräsentant angesehen. Öcalan wendet sich mit seinen Ideen gegen Faschismus und Kolonialismus und bietet mit seinem Konzept des „Demokratischen Konföderalismus“ eine zeitgenössische und demokratische Gesellschaftsalternative zu bestehenden reaktionären und antidemokratischen Mentalitäten und Herrschaftsformen an - nicht nur für die Kurd*innen, sondern für die gesamte Welt. Doch sowohl die Ideen als auch das Abbild Abdullah Öcalans gelten in Folge der historisch tief verwurzelten und mörderischen türkisch-deutschen Beziehungen auch hier als verboten und unterliegen einer massiven Repressionspolitik.“

Deutsche Polizei prügelt willkürlich auf Jugendmarsch ein“

Die Demonstration war in den ersten fünf Tagen trotz strikter polizeilicher Auflagen von einer sehr enthusiastischen Stimmung geprägt. Es wurde viel getanzt und gesungen, abends fanden Veranstaltungen zu Themen wie Rassismus und Gendergerechtigkeit statt. Am Donnerstag kam es dann im niedersächsischen Bardowick zu einem Polizeieinsatz, der laut tagesschau.de zu 87 Strafverfahren wegen Erschleichens von Leistungen, 14 Verfahren wegen unerlaubten Aufenthalts in Deutschland, sechs Strafverfahren wegen Widerstandes gegen Polizeibeamte und einem Verfahren wegen versuchter Gefangenenbefreiung führte. Zudem soll ein europäischer Haftbefehl vollstreckt und in neun Fällen „Fahndungsnotierungen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft“ in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) festgestellt worden sein. An dem Einsatz waren demnach „248 Bundespolizisten und 54 Beamte des Landes Niedersachsen“ beteiligt.

Die Organisator*innen der Jugenddemonstration haben eine Gegendarstellung zu der Berichterstattung über „randalierende Anhänger des PKK-Führers Abdullah Öcalan“ in den deutschen Medien veröffentlicht, die wie folgt lautet:

„Am 10. September kam es bereits vor Beginn des Marsches zu einer brutalen Polizeiattacke auf alle Teilnehmenden, die der deutschen Presse derzeit als wie gefundenes Futter dient, um die Realität zu verzerren, den Marsch der kurdischen und internationalistischen Jugendlichen zu kriminalisieren und zu verbieten, das Bild eines aggressiven und antidemokratischen Mobs zu erzeugen und die Teilnehmenden einzuschüchtern. Als Teilnehmende des Langen Marsches akzeptieren wir die falschen Anschuldigungen der Polizei, des Bahnpersonals, die brutale Polizeigewalt, die wir erfuhren, sowie auch die falsche Berichterstattung durch die deutschen Großmedien nicht.

Den Vorfall von Donnerstag schildern wir den Geschehnissen entsprechend wie folgt:

Der Marsch-Tag wurde durch die polizeiliche Attacke sabotiert. Vier Tage marschierten wir vorher problemlos und ohne Zwischenfälle von Hannover bis nach Bardowick, erreichten große Öffentlichkeit, erfuhren viel Solidarität und Zuspruch auf den Straßen und setzten den Marsch mit hoher Moral fort.

Am sechsten Tag unseres Marsches wurden wir unmittelbar nach dem Betreten des Zuges in Richtung Winsen-Luhe von dem zweiköpfigen Bahnpersonal (weiblich und männlich) zum Vorzeigen von Bahnkarten aufgefordert. Die Teilnehmenden des Marsches hatten bereits in den vergangenen Tagen mit der Polizei kommuniziert, dass die Marsch-Teilnehmenden auch ohne Fahrscheine bei ihrer Fahrt von der Polizei begleitet werden, um die Marsch-Stationen zu erreichen, die per Fußstrecke nicht erreichbar sind.

Dazu merken wir an, dass an allen vorherigen Marschtagen keine Problematik bei der Nutzung des Zuges ohne Fahrscheine - jedoch mit Kenntnis und Begleitung der Polizei - aufkam. Am Donnerstag (10.09.2020) kam es in den Morgenstunden zu einer Diskussion mit dem Bahnpersonal, welchem mehrfach erklärt wurde, dass die örtliche Polizei über die Nutzung des Zuges informiert ist und sich bereits am Bahnhof befindet. Das Personal zeigte sich nicht interessiert an einem kooperativen Gespräch und startete eine lautstarke verbale Diskussion. Im Nachhinein warf das weibliche Bahnpersonal einem Jugendlichen des Marsches vor, sie während der Diskussion angegriffen zu haben. An dieser Lüge bedienen sich nun sowohl Polizei als auch Presse, obwohl die Jugendlichen nach dieser Anschuldigung mehrfach auf die Aufnahmen der Zug-Kamera bestanden und mit mehreren Augenzeug*innen bezeugen können, dass es in keiner Weise zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam. Hier betonen wir, dass die kurdische Freiheitsbewegung das Prinzip der radikalen Frauenbefreiung vertritt. Allein aus diesem Grund ist kein Angriff auf eine Frau möglich - und diese Behauptung eine reine Lüge!

Nach der Diskussion stoppte das Bahnpersonal den Zug, forderte alle Passagiere dazu auf, den Zug zu verlassen und informierte die Bundespolizei. Die Marsch-Teilnehmenden verweilten in der Zwischenzeit etwa eine Stunde am zugehörigen Gleis.

Nach Ankunft der Bundespolizei wurden die Teilnehmenden nach draußen geführt und dort in kürzester Zeit auf engstem Raum eingekesselt, obwohl die Jugendlichen mehrfach auf die geltenden Corona-Maßnahmen aufmerksam machten. Die anrückenden Bundespolizist*innen (teilweise ohne Maske und mit aufdringlicher Körpernähe) warfen allen Teilnehmenden des Marsches anschließend das „Erschleichen von Leistungen“ vor, obwohl die zuständigen Beamt*innen des Marsches (und nicht die Bundespolizei!) in Kenntnis über die Nutzung des Zuges war. Auf die Diskussion mit den Jugendlichen antwortete die Polizei mit rassistischen Aussagen wie ,Wir sind hier nicht in Absurdistan' (in Anlehnung an Kurdistan) und forderte alle Anwesenden zur Identifikationsfeststellung auf. Der spontan getroffenen Abmachung, Tickets zu kaufen, kamen die Teilnehmenden dann ebenfalls nach und zeigten ihre gültigen Fahrkarten vor, die dann wiederum nicht von der Polizei akzeptiert wurden. Der zuständige Beamte äußerte wenige Minuten vor dem Angriff noch, die Polizei wolle nicht eingreifen, solange der Versammlungsleiter nicht da ist. Dieser war nicht vor Ort und erschien erst einige Zeit später. Doch innerhalb kürzester Zeit folgte dann nach lauter Diskussion zwischen Teilnehmenden und Polizei hörbar das polizeiliche Kommando „Helme aufsetzen und draufhauen!“ Innerhalb von Sekunden stürmte die Polizei die Menschengruppe und prügelte willkürlich auf sie ein. Diese Momente sind gut sichtbar mit zahlreichen Videoaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert. Am brutalsten ging die Polizei dabei gegen fünf Teilnehmer*innen vor, die gewaltsam aus der Menschenmenge gezerrt wurden. Unter ihnen waren eine schwerbehinderte junge Kurdin und eine weitere junge Frau, die die schwerbehinderte Teilnehmerin zum Schutz umarmte, als diese von der Polizei verprügelt wurde. Innerhalb von Sekunden griff die Polizei der jungen Frau unter den Kiefer, riss diese zu Boden, ließ sie auf ihrem Kopf aufkommen und zerrte sie anschließend am Kopf greifend über den Boden, um sie festzunehmen. Der Tatvorwurf für die Umarmung: Gefangenenbefreiung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Zeitgleich wurde die schwerbehinderte Teilnehmerin unter andauernder Prügel festgenommen. Mehrfach rief die weitere junge Frau den Beamten zu, dass sie auf eine Schwerbehinderte einprügeln, und forderte zur Beendigung der Angriffe auf. Die Polizei jedoch schlug weiterhin zu und trieb die junge Frau, die bereits am Kopf blutete, zu einer Panikattacke. Einem weiteren Aktivisten wurden bei der widerstandslosen Festnahme mehrfach Tritte und Schläge ins Gesicht verpasst. Der in Frankreich wohnhafte Jugendliche hörte sich sowohl während seiner Festnahme als auch bei der Maßnahme am Wagen mehrfach rassistische Äußerungen an.

Zur Abschreckung der Gruppe während der plötzlichen Prügelattacke setzte die Polizei zudem auch Pfefferspray ein und erhöhte blitzschnell die Anzahl der Einsatzkräfte. Auch eine 65-jährige Frau wurde von der Polizei zu Boden gerissen und eine weitere Frau mehrfach in die Hüfte getreten.

Alle weiteren Teilnehmer*innen, die nicht aus der Menge gezerrt wurden, bildeten eine Menschenkette, mussten stundenlang im Kessel verweilen, sangen jedoch mit hoher Moral Lieder, tanzten und wurden einzeln zur Identitätsfeststellung und Strafanzeige herausgezogen. Nach der gewaltsamen Festsetzung wurden etwa 16 Jugendliche in Gewahrsam genommen und bis ca. 2.30 Uhr einer ED-Behandlung unterzogen - einem Prozedere, das normalerweise in kurzer Zeit abgehandelt wird. Die Jugendlichen wurden dabei dazu gebracht, Dokumente zu unterzeichnen, welche sie nicht verstehen konnten.

Der brutale Angriff der Polizei, durch den Dutzende Teilnehmende des Marsches verletzt und unrechtmäßig festgenommen wurden, sorgt in den deutschen Medien nun für eine Welle der Polizei-Solidarität. Die politisch motivierte Polizei nutzte auch bei diesem Langen Marsch eine fadenscheinige Ausrede, um die brutale Attacke auf die Teilnehmenden zu legitimieren, ihre Gewaltlust an migrantischen Jugendlichen auszuüben und alle Teilnehmenden als aggressiven, kriminellen und pöbelnden Mob darzustellen. Gleichzeitig war dieser Angriff ein Vergeltungszug der Polizei, da diese sich durch die erfolgreiche Ausführung des tagelangen Marsches und die breite Solidarität, die wir erfuhren, bereits seit Tagen massiv provoziert fühlte.

Mit allen Mitteln wurde auch dieses Jahr versucht, den langen Marsch der kurdischen Jugend zu manipulieren und anschließend zu verhindern. Als Grundlage dienten willkürliche Vorwände der deutschen Repressionsbehörden. Die Teilnehmenden ließen sich allerdings keinesfalls einschüchtern und setzten ihren Marsch am letzten Tag erfolgreich, mit größerer und solidarischer Teilnahme und mit hoher Moral fort.

Die aggressive und tief verwurzelte Repressionspolitik der deutschen Behörden ist uns nicht neu: Seit Jahrzehnten stehen kurdische Institutionen sowie politische und kulturelle Aktivitäten in Deutschland im Visier der Behörden und auch solidarische Kräfte werden von der zunehmenden Kriminalisierung und Illegalisierung erfasst. Und durch diese gezielte Kriminalisierung und Dämonisierung legitimiert die BRD alle Angriffe auf Kurd*innen, antifaschistische, antikapitalistische und feministische Strukturen und möchte damit systematisch Solidarität verhindern.

Doch während weiterhin deutsche Panzer in Rojava einrollen und für den Tod von unseren Genoss*innen sorgen, während weiterhin politische, wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung Deutschlands für die Türkei existent ist, während wir als kurdische Jugendliche weiterhin unbegrenzte Kriminalisierung, Zwangsassimilierung und Gewalt erfahren, während weiterhin deutsche Nazis, Dschihadisten und türkische Faschisten ein freies Organisationsfeld in der BRD besitzen, während der Faschismus durch Politik und Wirtschaft reproduziert wird, während weiterhin Kriege mitfinanziert und unterstützt werden, schweigen wir nicht!

Dass hierzulande vor allem diejenigen kriminalisiert werden, die für einen alternativen Weg im Mittleren Osten einstehen, nämlich für Basisdemokratie, Frauenbefreiung und ein pluralistisches Zusammenleben und gleichzeitig eine weltweit greifende Gefahr wie den IS niederschlugen, zeigt zudem erschreckende, aber altbekannte Parallelen zu Erdogans Unterdrückungspolitik. Auch aktuell stellt die BRD ihre schmutzigen Deals mit dem faschistischen AKP-Regime deutlich unter Beweis und steht der Türkei als aktiver Kriegspartner zur Seite.

Aus diesem Grund sehen wir die gesamte deutsche Öffentlichkeit in der Verantwortung für die Kriegsverbrechen der Türkei in Kurdistan und tragen unsere Proteste erst recht auf die Straßen Deutschlands! Diesen kaltblütigen, absolut entmenschlichten und unbegründeten Angriff auf unseren Marsch sowie alle lächerlichen und unwahren Anschuldigungen akzeptieren wir nicht und leiten rechtliche Schritte ein. Der Polizeiangriff auf Dutzende Menschen ist zudem ein Aufruf an die gesamte Öffentlichkeit, Solidarität nun praktisch werden zu lassen und hinter die Fassaden der Polizei, Medien und Repressionsbehörden zu schauen. Die Linie der kurdischen Freiheitsbewegung ist die des Widerstandes und des Zusammenhalts - und diese bleibt unser ewiger Weg! Der Kampf um Befreiung bleibt international! Und deshalb sagen wir: Ji Bo Azadîya Rêber APO - Bi Hev Re Serhildan!“

Die Erklärung erfolgte im Namen von TCŞ (Tevgera Ciwanên Şoreşger / Bewegung der revolutionären Jugend), TEKO-JIN (Tevgera Jin ên Ciwan ên Têkoşer / Bewegung der jungen kämpferischen Frauen), YXK (Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan / Verband der Studierenden aus Kurdistan) und JXK (Jinên Xwendekar ên Kurdistan / Studierende Frauen aus Kurdistan).