Antikurdischer Rassismus: Eine Praxis ohne Gehör

Nach dem Mord an einem kleinwüchsigen Kurden in Dortmund fordert die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim, dass die Analyse und Aufarbeitung von antikurdischem Rassismus in Deutschland eine absolute Priorität haben muss. Egal, aus welcher Ecke er kommt.

Vor zwei Stunden: Eine schöne Videokonferenz zwischen den Außenministern von Frankreich, Großbritannien, Deutschland und der Türkei findet statt. Man hofft, dass die Verhältnisse zwischen Deutschland und der Türkei wieder besser werden können, dass man wieder touristisch voneinander profitieren kann, dass man die Situation in Syrien während der COVID-19-Krise auch ein bisschen im Auge hat.

Vor drei Monaten: Der Terror von Hanau scheint gerade erst gestern gewesen zu sein. Zwischen QAnon und klassisch deutschen rassistischen Kontinuitäten hat ein weiterer „Einzeltäter“ sich dazu aufgetan, um neun unschuldige Seelen zu töten – ihre Schuld: Nicht weiß zu sein.

Heute: Ibrahim Demir, ein körperlich behinderter Kurde, wohnhaft in Dortmund und ursprünglich aus der nordkurdischen Stadt Mêrdîn, wird brutal zu Tode geschlagen von niemand geringerem als einem faschistischen Türken, der offener Unterstützer der ultrarechten Ülkücü-Bewegung ist. Er erliegt seinen Verletzungen. Nur durch die Bemühungen kurdischer Aktivist*innen wird der Fall, und darüber hinaus das mögliche Motiv des Täters, bekannt: Die Facebookseite des Tatverdächtigen wird geteilt und es wird darauf aufmerksam gemacht, dass er zuvor schon mehrfach Ibrahim schikaniert, bedroht und belästigt hat. Ob wir von Ibrahims Fall überhaupt mitbekommen hätten, wenn diese Öffentlichkeitsarbeit nicht geleistet worden wäre? Man will es sich nicht vorstellen.

Was haben diese drei Gegebenheiten der letzten Tage gemeinsam? Sie haben gemeinsam, dass sie ernste Themen sind, die in allen Fällen politisch motiviertes Töten beinhalten und Kurd*innen betreffen. Das spezifisch kurdische Leiden innerhalb dieser Themenfelder wird jedoch nicht ansatzweise thematisiert.

Dastan Jasim

Dass die Türkei gerade gezielt in der Hesekê-Region in Syrien Wasserwege abschneidet, um Millionen von Binnenflüchtigen in der Region wortwörtlich vertrocknen zu lassen, ist keine Rede für Maas und Konsorten wert. Dass außer dem kurdischen roten Halbmond kaum eine humanitäre Organisation in den kurdisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien präsent ist, während die COVID-19-Krise weiter fortschreitet, ist auch keine Rede wert. Dass diese Tatsachen direkt damit verbunden sind, dass kurdisch-politische Präsenz und Selbstverwaltung von der Türkei und somit von den Bündnispartnern der Türkei gezielt unterdrückt und mit allen Mitteln eliminiert werden, das ist auch keine Notiz wert. Maas und Cavusoglu reden in seliger Einigkeit darüber, wie sie einfach nur wollen, dass alles besser wird, nicht mehr und nicht weniger.

In Hanau genau dasselbe Spiel. Die kurdischen Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau wurden als Türken subsumiert, zur Trauerfeier und zu weiteren Protestdemos gibt es stattdessen massig türkische Flaggen und warme Worte von Erdogan bis zum Generalkonsul. Verletzte werden vom türkischen Staatsfernsehen TRT besucht, die türkische Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren, bis heute. Dass damit aber kurdische Opfer von deutschem Rassismus durch türkische Rassisten vertreten werden, interessiert überhaupt niemanden. Vielmehr ist man sich im postmodern-integrationswilligen Feuilleton einig, dass all diejenigen, die die Alleinrepräsentationsmacht vom Zentralrat der Muslime und DITIB anprangern, natürlich islamophobe Propagandisten sind. Kurdisches Leiden unter Rassismus und Faschismus wird somit auch in diesem Fall weder richtig gesehen noch richtig kontextualisiert.

Dann der Fall von Ibrahim. Nicht weniger als rassistische und ableistische Gewalt ist das, was in seinem Fall als Motiv stark anzunehmen ist. Menschen mit Behinderungen als minderwertig zu sehen, hat in faschistischen Bewegungen wie den „Grauen Wölfen“, denen sich der Tatverdächtige gegenüber loyal sieht, Tradition. Mischt man dazu noch die ethnische Kategorie der Kurd*innen, die von genau solchen Menschen als minderwertige Bergmenschen, als „Zigenuer“ oder als genetisch minderbemittelte Unruhestifter gesehen werden, dann ist das physische Feindbild komplett. Von Ibrahims Fall geschweige denn von den Überlegungen zum Motiv des Täters bekommt man höchstens mit, wenn man etwa das Statement von Ulla Jelpke, den Artikel von Nick Brauns bei der jungen Welt oder die Artikel von ANF gelesen hat.

Die Intersektion des Rassismus, der gegenüber Kurd*innen auf einer täglichen und internationalen Basis ausgelebt wird, einer Intersektion aus rassistischer, sicherheitspolitischer und diplomatischer Blindheit gegenüber der Unterdrückung von Kurd*innen, ist weiterhin Nischenthema. Krieg und Frieden in Syrien ist weiterhin eine Frage, in der Kurd*innen überhaupt nichts zu sagen haben, türkische Integrationsautor*innen mit dubiosen DITIB- und Milli Görüs-Bezügen geben weiterhin den Ton an, und ein mutmaßlich ableistischer und rassistischer Mord in Dortmund ist auch nur eine Randnotiz für diejenigen, die irgendwie in der kurdischen Social-Media-Blase sind. Es scheint, dass kurdisches Leiden vorprogrammiert und selbstverständlich ist, das Nennen und Anprangern dessen aber absolute Seltenheit ist.

Diese Fälle sollten uns daran erinnern, dass die Analyse und Aufarbeitung von antikurdischem Rassismus in Deutschland, egal ob dieser von Türk*innen, Araber*innen, Perser*innen oder Deutschen kommt, eine absolute Priorität haben muss. Solidarität bedeutet auch haargenau zu analysieren, warum in diesen Fällen Gewalt an Kurd*innen unter den Teppich gekehrt und gar negiert wird, warum ihre Unterdrückung Praxis aber keine Sprache hat. Vielleicht ist das das Zweierlei von Sprache und Sein, von dem einige hier öfter reden sollten.


*Dastan Jasim studierte Politikwissenschaft mit einem Schwerpunkt auf Demokratisierungs- und Feminismustheorien und Assyriologie im Master an der Universität Heidelberg. 2019 verbrachte sie am Center for Gender and Development Studies an der American University of Iraq in der südkurdischen Stadt Silêmanî (Sulaimaniyya). Seit 2017 forscht sie zudem am Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung zu den Konflikten um Kurdistan in Syrien und dem Irak. Der hier veröffentlichte  Artikel erschien zuerst am 21. Mai 2020 bei der Tageszeitung Yeni Özgür Politika.