Vor knapp vier Wochen, am 24. September 2019, stellte der türkische Präsident Erdoğan in der Generalhauptversammlung der Vereinten Nationen der ganzen Weltöffentlichkeit seinen Plan einer ethnischen Säuberung der meist kurdischen Bevölkerung mittels eines (wiederholten) völkerrechtswidrigen Krieges in Nordsyrien vor. Sein Hauptargument und Legitimationsmittel dabei war der sogenannte Kampf gegen Terror.
Zahlreiche Repräsentanten internationaler Organisationen wie zum Beispiel Jens Stoltenberg von der NATO[1] und Regierungsvertreter westlicher Staaten wie zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Bundestagsdebatte äußerten ihr Verständnis für die Sicherheitsbedenken der Türkei (gegenüber dem Terrorismus) und bekräftigten damit das Terror-Argumentationsmuster Erdoğans und des türkischen Staates.[2]
Der brillante Demagoge Donald Trump brachte es fertig, die realen Geschehnisse und Fakten der letzten Jahre gänzlich umzukehren und die zentralen Kräfte (YPG/YPJ), die gegen den islamistischen Terrorismus gekämpft haben, selbst als Terroristen darzustellen. Auf Twitter reagierte er auf eine Ansage Erdoğans, den Terrorismus zu bekriegen, mit der folgenden Antwort: „DEFEAT TERRORISM!“[3]. Zuvor hatte er über Twitter geschrieben, die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sei möglicherweise gefährlicher als der IS[4]. Kurz: Die kurdischen Kräfte in Syrien und Irak bekämpfen den IS und andere islamistische Kräfte, um im Anschluss von Trump selbst als Terroristen dargestellt und von Erdoğan mit islamistischen Söldnern (!) angegriffen zu werden. Spätestens an diesem Punkt muss über die Legalität und Legitimität des Terrorismus-Konstrukts gegen Kurdinnen und Kurden gesprochen werden.
Der türkische Staat begeht also Kriegsverbrechen[5], Verbrechen gegen die Menschlichkeit und tritt das Völkerrecht und die Genfer Konventionen mit Füßen. Der türkische Staat kontrolliert tausende islamistische Söldner, setzt sie gegen eine friedliche und demokratische Region in Syrien ein und hat diverse Beziehungen zum Islamischen Staat[6]. Die größte ethnische Säuberung im 21. Jahrhundert ist nach Aussagen des Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), Mazlum Abdi Kobanê, geplant, und diese Säuberung stützt sich dabei legitimatorisch und rechtlich auf den sogenannten Kampf gegen Terror, genauer auf den Kampf gegen die kurdische PKK.
Unabhängig davon, dass in Nord- und Ostsyrien dutzende kurdische und nicht-kurdische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen an der Selbstverwaltung partizipieren und auch die PYD (Partei der demokratischen Einheit) trotz ihrer ideellen Orientierung an Abdullah Öcalan nicht mit der PKK gleichzusetzen ist, begründet die Türkei ihr Vorgehen der Welt gegenüber mit dem Kampf gegen den Terror und erhält, wie oben in wenigen Beispielen dargelegt, direkte oder indirekte Unterstützung von wichtigen internationalen Institutionen und Regierungen.
Dabei ist die eigentliche Sorge des türkischen Staates die Anerkennung und Selbstbestimmung des kurdischen Volkes, das damit verbundene Ende der kolonialen Ausbeutung und Unterdrückung, sowie die Demokratisierung im Mittleren Osten. Die kurdische Frage existiert seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Es gab zahlreiche Widerstände der Kurdinnen und Kurden gegenüber der ihre Existenz und Rechte negierenden Ordnung in Kurdistan um den Mittleren Osten, lange vor dem Widerstand der PKK. Die Briten bezeichneten den Widerstand des südkurdischen (Nordirak) Mahmud Berzencî (Barzandschi) im Jahre 1919 gegen die Entrechtung der Kurden als „Aufstand wilder Stämme“; die Führungspersonen der Aufstände von Kurden in der Südosttürkei der 1920er und 1930er Jahre wurden von der Türkei und ihren Freunden in Europa als reaktionäre „Banditen“ bezeichnet.
Die PKK selbst wird von der EU, der NATO und den USA als Terrororganisation gebrandmarkt. Die Lösung der Demokratiefrage und der kurdischen Frage wird mit dem Terrorstempel verhindert und dem türkischen Staat werden alle Machtmittel der internationalen Diplomatie und des Diskurses in die Hände gelegt, um Unrecht und Verbrechen zu begehen – nicht nur auf dem eigenen Territorium, sondern auch im Irak und Syrien und sogar in Europa.
Ich will hier nicht die PKK verteidigen, das habe ich redlich an anderen Stellen versucht[7]. Die PKK und Abdullah Öcalan selbst fordern seit Jahrzehnten die Weltgemeinschaft und Weltmächte auf, eine vermittelnde Rolle in der demokratischen, gerechten und nicht-separatistischen Lösung zwischen den Kurden und dem türkischen Staat einzunehmen, und ist bereit, sich ihrer vierzigjährigen Geschichte zu stellen[8].
Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass die internationale Kriminalisierung des kurdischen Willens nach Demokratie und Selbstbestimmung – nichts anderes bedeutet die Auflistung kurdischer Konfliktparteien als Terrororganisationen – zum einen die Türkei dazu befähigt die Demokratisierung der eigenen Gesellschaft zu blockieren, und zum anderen instrumentalisiert der türkische Staat dieses Mittel für zahlreiche Verbrechen und kriminelles Vorgehen auch außerhalb seiner Grenzen. Zur aktuellen Lage in der Türkei: Die gesamte Führung der kurdischen Opposition um die HDP (Demokratische Partei der Völker) und tausende ihrer Mitglieder sind aufgrund von Terrorvorwürfen in türkischer Haft. Zur aktuellen regionalen Lage: Die Türkei greift neben dem Nordirak auch das demokratische und friedliche Nordsyrien an, um – gemeinsam mit Trump – den „Terrorismus zu besiegen“.
Diese Verdrehung von Tatsachen und die Verschleierung von Unrecht und Unterdrückung, das Nichtlösen der kurdischen Frage und der „Kampf gegen den Terror“ ist auch aus Sicht Europas nicht mehr tragbar, weil es den Islamismus und die Mobilisierung und Organisierung islamistischer Kräfte stärkt und zur Bekämpfung demokratischer und freiheitlicher Werte und Kräfte im Mittleren Osten dient. Das Gegenteil von Fluchtursachenbekämpfung ist der Fall.
Wenn es so ist, wie die Türkei es behauptet, sie gehe in Rojava gegen die Terrororganisation YPG/PYD/PKK vor, warum protestieren dann Kurdinnen und Kurden in allen vier Teilen Kurdistans und auf der ganzen Welt gemeinsam gegen den türkischen Besatzungskrieg? Warum positionieren sich bis auf die (vom türkischen Staat initiierte) islamistisch-kurdische Partei Hüdapar alle kurdischen Parteien und Organisationen gegen den türkischen Angriffskrieg und dem Ziel der ethnischen Säuberung? Warum gehen in Deutschland neben demokratisch-solidarischen Menschen die Kurdische Gemeinde zusammen mit kurdischen Organisationen wie NAV-DEM oder Kon-Med auf die Straße? Warum protestieren kurdische Migrant*innen aus dem Iran, der Türkei, Syrien und dem Irak, also aus ganz Kurdistan, gemeinsam gegen den türkischen Angriffskrieg? Dieser Diskurs der türkischen Faschisten und des türkischen Staates, man habe nichts gegen die Kurden, sondern nur etwas gegen die PKK, muss durchbrochen werden und sollte keinen Platz mehr in deutschen Medien finden oder zumindest kritisch diskutiert werden.
Die Auflistung der PKK als Terrororganisation vonseiten westlicher Mächte (EU, USA, NATO) und das PKK-Verbot in Deutschland sind rechtliche Mittel, die die Türkei im Hinblick auf die „kurdische Frage“ unterstützen sollen. Denn die kurdische Frage selbst ist ein Produkt westlicher Mächte, primär nämlich Frankreichs und Großbritanniens, die sich aus dem Verteilungskrieg während des Ersten Weltkriegs ergab.
Die kurdische Frage ist ein Ergebnis der internationalen Politik und genau so ist die Kriminalisierung der Kurden das Resultat internationaler Politik. Diese internationale Politik ist gegenwärtig jedoch nicht nur für die Kurden, sondern die gesamte Region und die Welt zur Gefahr geworden, wenn sie Demokratie und Frieden verhindert und stattdessen Islamismus und Krieg befördert.
Der Widerspruch zwischen dem positiven Recht und gesellschaftlichen Verhältnissen kann an der Realität der kurdischen Bevölkerung und der Kriminalisierung ihrer Befreiungsbewegung abgelesen werden. Nicht nur in Bezug auf die Türkei, sondern auch Deutschland betreffend. Denn trotz Terror-Stigma und Verbot existiert der kurdische Widerstand noch immer und genießt die Solidarität von Millionen Menschen. Warum das so ist, möchte ich mit einem Zitat des Rechtssoziologen Rudolf von Jhering aus dem Ende des 19. Jahrhunderts beantworten:
„Was nicht in Wirklichkeit übergeht, was bloß in den Gesetzen, auf dem Papier steht, ist ein bloßes Scheinrecht, leere Worte, und umgekehrt was sich verwirklicht als Recht, ist Recht, auch wenn es in den Gesetzen nicht zu finden, und Volk und Wissenschaft sich dessen nicht bewusst geworden sind.“
Die Kriege und Konflikte im Mittleren Osten sind noch lange nicht vorbei. Ein Ende und eine Lösung sind nur mit einer Demokratisierung zu erreichen. Dazu gehört ein fairer Umgang der Welt- und Staatengemeinschaft mit den Kurdinnen und Kurden.
[1]https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/nordsyrien-tuerkei-beginnt-offensive-gegen-kurden
[2] https://www.fr.de/politik/militaeroffensive-tuerkei-deutsche-waffenexporte-hoechstem-stand-seit-jahren-13075324.html
[3] https://twitter.com/realDonaldTrump/status/1185220552254017537
[4] https://www.aljazeera.com/news/2019/10/trump-kurds-angels-dubs-pkk-worse-isil-191017081803445.html
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/amnesty-tuerkei-kriegsverbrechen-101.html
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-is-107.html
[7]Hier: http://civaka-azad.org/ueber-das-pkk-verbot-und-antikurdische-haltung-deutschlands-und-der-tuerkei/; und hier: https://anfdeutsch.com/hintergrund/die-schluesselfunktion-der-kurdischen-frage-810
[8]https://anfdeutsch.com/kultur/brief-der-pkk-an-das-amerikanische-volk-und-praesident-trump-14756, und: https://anfdeutsch.com/hintergrund/warum-die-pkk-keine-terroristische-organisation-ist-2221