Die Schlüsselfunktion der kurdischen Frage

Die kurdische Selbstbestimmung als das Schlüsselelement der Demokratisierung des Mittleren Ostens.

Der Mittlere Osten mit seinen heutigen politischen Ordnungen, Staaten und Problemen ist maßgeblich ein Produkt westlich-imperialer Verteilungskämpfe im 20. Jahrhundert. Die kurdische Frage in den wichtigen mittelöstlichen Staaten (Türkei, Iran, Syrien, Irak) ist ein Produkt davon. Der Kampf der Kurden um Selbstbestimmung bzw. die kurdische Frage hat sich zum Schlüsselelement der demokratischen Neugestaltung und Stabilisierung der Region entwickelt. Beim gesamtkurdischen Befreiungskampf sind zwei gegenteilige Modelle zur Realisierung der Selbstbestimmung entstanden. Es stellt sich die Frage, welcher Lösungsweg mittels der Lösung der Kurdenfrage auch die Demokratisierung und Stabilisierung der gesamten Region und eine nachhaltige Lösung aus der globalen Krise des Politischen mit sich bringen kann?

Das radikaldemokratische und das nationalstaatliche Lösungsmodell

Während die Kurden in der Türkei oder in Syrien eine radikaldemokratische Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in den jeweiligen Staaten, in denen die Kurden neben anderen gleichberechtigt und selbstbestimmt ihren Platz haben, anstreben, haben die nordirakischen Kurden die Etablierung eines kurdischen Nationalstaats zum Ziel. Der radikaldemokratische Strang überwindet das am Nationalismus und Nationalstaatlichkeit gebundene Selbstbestimmungskonzept, wohingegen der andere Strang die Selbstbestimmung mit Nationalismus und Nationalstaatlichkeit definiert.

Während die kurdische Bewegung um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Abdullah Öcalan in Nordsyrien ein konföderales und kommunales Rätesystem ohne Hierarchien und Ungleichheit (!) zu etablieren versucht, betrachtet die KDP (Kurdistans Demokratische Partei) um die Person des Stammesführers Masûd Barsanî das Recht und die Möglichkeit der Kurden auf Selbstbestimmung mit einem Nationalstaat verbunden. Ganz aktuell: Während der nationalstaatliche Strang am 16. Oktober 2017 als Reaktion auf das Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September 2017 von der irakischen Zentralregierung – gelenkt und gestützt vom Iran und der Türkei, ferner unterstützt und begrüßt von westlichen Staaten – angegriffen und ihre Erfolgschancen auf ein Minimum reduziert hat, befreiten die (Radikal)Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), ein konfessionell und ethnisch diverses militärisches Ensemble, dessen Teil auch die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sind, am 17. Oktober 2017, die Hauptstadt des sogenannten IS, Raqqa.

Bedenkt man die mosaikartige politische, kulturelle, ethnische und konfessionelle Verfasstheit des Mittleren Ostens zusammen mit den mit dem Nationalstaatskonzept entstandenen und bis heute anhaltenden Problemen, dann erscheint der radikaldemokratische Strang nicht nur als der revolutionärere Weg, sondern im Hinblick auf die Probleme und Lösungsmöglichkeiten auch als der realistischere Pfad.

Die Rolle der Türkei, des Irans und anderer Staatsmächte

Doch sowohl das nationalstaatliche als auch das radikaldemokratische Modell der Kurden werden vom Iran und der Türkei und anderen regionalen und internationalen Staaten abgelehnt und bekämpft. Neben der Selbstverwaltung Rojavas in Nordsyrien stößt auch das Unabhängigkeitsreferendum der Kurden in Nordirak bzw. Südkurdistan auf Ablehnung und bringt die historischen Rivalen – den schiitischen Iran und die sunnitische Türkei – zusammen. Die Ausdehnung des iranischen Machtraums und die neo-osmanischen Ambitionen der Türkei verschärfen und vertiefen die Konflikte und Unterdrückung. Beide Staaten, aber auch Saudi Arabien oder andere Golfstaaten, haben den politischen Islam als Ideologie des Überbaus. Dies impliziert einen faschistoiden globalen Geltungsanspruch und wird langfristig größere Probleme hervorbringen.

Die Lösung der kurdischen Frage wird die politische Ordnung nicht nur Syriens und des Iraks grundlegend verändern, sondern auch den Iran und die Türkei mit in diesen Prozess des Umbruchs und der Neugestaltung einbeziehen. Insofern gilt es den kurdischen Kampf um Selbstbestimmung, insbesondere den radikaldemokratischen zu unterstützen.

An dieser Stelle ist es sinnvoll anzumerken, dass es weder der Türkei noch dem Iran vorrangig um die PKK geht, sondern um die Unterdrückung, Beherrschung und Ausbeutung des geostrategisch wichtigen und an natürlichen Ressourcen reichen Kurdistans. Die entschiedene Haltung gegen die Selbstbestimmtheit der Kurden resultiert hieraus. Und weil die PKK dagegen Widerstand leistet, unternehmen die Türkei und der Iran alles, um diesen Kampf zu unterdrücken. Einen Sieg über die PKK bedeutet für sie einen Sieg über den Freiheits- und Demokratiewillen der mittelöstlichen Gesellschaften und die Fortführung ihres rassistischen Kolonialismus über Kurdistan. Damit zusammenhängend verhindern das Verbot und die Kriminalisierung der durchaus theoretisch und praktisch revolutionären und emanzipatorischen PKK und der kurdischen Bewegung seitens der westlichen Staaten, insbesondere der BRD, die Lösung der kurdischen Frage und die Etablierung der Demokratie und des Friedens im Nahen Osten. Auch gegen das Unabhängigkeitsreferendum der irakischen Kurden hat die BRD und der Westen Stellung genommen und den kriegerischen Vorstoß der irakischen Zentralregierung in Kirkuk öffentlich begrüßt.

Internationalistische und revolutionäre Perspektive und Aufgabe

Die politische Ausprägung der derzeit vielschichtigen Krise der Welt ist die Krise der repräsentativen Demokratie. In der französischen, russischen oder der amerikanischen Revolution gingen hunderttausende Menschen auf die Straße, und zwar gegen ausbeuterische und despotische Monarchen, Könige und Zaren. Die treibende Kraft der Umbrüche war der Wunsch der Menschen nach Demokratie, welche mit dem Slogan „Herrschaft aller Menschen über alle Menschen“ ausgedrückt wurde. Diese revolutionären Prozesse mündeten in der repräsentativen Demokratie; die wahrliche, radikale Demokratie von unten nach oben blieb dabei auf halber Strecke stehen. Obwohl Könige, Monarchien und Feudalismen überwunden werden konnten, blieb das Wesen des „Königtums“ im Mantel der Nationalstaaten und der repräsentativen Demokratie bestehen. Gegenwärtig folgt der politische Souverän aufgrund struktureller Bedingungen des Kapitalismus eher den Interessen von Eliten und Unternehmen, als denen der Menschen und der Gesellschaft. In Zeiten von Globalisierungsprozessen und dem entfesselten Kapitalismus bergen solche Verhältnisse große Gefahren in sich. Aufgrund der kapitalistischen Verwertungslogik und seinem expansivem Charakter sind anhaltende Kriege und Ungleichheiten, Unterdrückung, Ausbeutung, sowie die Verhinderung basisdemokratischer Verhältnisse zentrale Charaktermerkmale der gegenwärtigen Ordnung und Staatspolitik. Die repräsentative Demokratie ist auch deshalb in der Krise, weil mit demokratischen und legalen Mitteln Despoten, Oligarchen und Sexisten wie Erdoğan, Putin oder Trump an die Macht gewählt werden, deren gefährliche Politik in der globalisierten Welt in das Leben und die Zukunft des gesamten Planeten einwirkt.

Das basisdemokratische, feministische und ökologisch ausgerichtete Gesellschaftsprojekt in Nordsyrien, Rojava, der eine kurdische Strang, bringt die Chance mit sich, eine echte und/oder sozialistische Demokratie in Syrien mit Blick auf den gesamten Nahen Osten zu verankern. Sein ökologisch, kooperativ und am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaftsmodell hat das Potential den Kapitalismus zu überwinden. Ferner impliziert es auch die Möglichkeit, langfristig die politische Krise durch eine tiefere und breitere Demokratisierung, durch die Selbstermächtigung, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Gesellschaften zu realisieren. Die treibende Kraft und das Schlüsselelement dabei ist der Willen der Kurden zur Selbstbestimmung und der an ihm gekoppelte radikaldemokratische Ansatz. Die Unterstützung für dieses Modell, wie aktuell zu sehen, werden nicht staatliche Akteuren und Entitäten leisten, sondern ist die Aufgabe der deutschen und internationalen Linken.

Ein Text von Ramo Menda – Sozialwissenschaftler und Experte für interreligiösen Dialog