Das Thema „Kurdistan und die Kurd*innen“ ist heute in der deutschen Öffentlichkeit ohne Zweifel präsenter als vor zehn Jahren. Der Genozid an den Ezid*innen in Şengal (Sindschar) 2014, der Kampf gegen den „Islamischen Staat” (IS) in Kobanê 2014/2015, aber auch die antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei und damit verbunden in Nordkurdistan haben den Fokus der internationalen Medien immer wieder auf die Region Kurdistan gelenkt. Heute ist viel von „den Kurden“ als politische Akteur*innen im Mittleren Osten die Rede; sei es die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) und PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien oder die Autonome Region Kurdistan im Nordirak. Die kurdischen Akteur*innen sind hierbei nicht so homogen wie sie in der verkürzten Darstellung der Mainstream-Medien als „die Kurden“ erscheinen, sondern organisieren sich entlang völlig verschiedener politischer Konzepte.
In diesem Artikel möchten wir einen Blick auf die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) im Kontext der in Kurdistan bestehenden zwei zentralen politischen, ideologischen Linien werfen. Wir werden dabei sowohl historische als auch gegenwärtige politische Entwicklungen in diesem Rahmen bewerten und die beiden entgegengesetzten Pole zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit herausarbeiten, in denen sich die kurdischen Akteur*innen befinden.
Historischer Rückblick auf die Entstehung der PKK und der PDK
Die Kurd*innen sind in den 1970ern aktiv auf die politische und diplomatische Bühne im Mittleren Osten getreten. Dieser Schritt wurde von zwei verschiedenen politischen Kräften mit unterschiedlichen Linien vollzogen, hatte allerdings einen gemeinsamen Ursprung: die kurdische Frage.
Die PDK-Linie ist die der traditionellen herrschenden Führungselite, die mit verschiedenen ausländischen Mächten kollaboriert. Sie stützt sich nicht primär auf die eigene Kraft, um die politischen Ziele zu erreichen. Es besteht eine starke Abhängigkeit von den ausländischen Mächten, von denen die PDK-Linie unterstützt wird. Kommt es zu einem politischen Kurswechsel, kann dieser also durchaus eher dem Interesse der „Gönner“ geschuldet sein als den Interessen der kurdischen Bevölkerung in den Reihen der PDK selbst. Das bringt letztlich auch die Gefahr des Verrats an der eigenen Bevölkerung mit sich. Letztendlich führt dieser Verrat dazu, dass die ursprüngliche Unterstützungsbasis in der Bevölkerung weiter erodiert, was die Parteieliten wiederum noch stärker in die Fänge ihrer internationalen Unterstützer treibt. Die Abhängigkeit drückt sich in marionettenhaftem politischem Agieren im Interesse der Geldgeber und politischen Unterstützer aus dem Ausland aus; und die eigene Bevölkerung wird durch finanzielle Abhängigkeiten, eine vermeintliche Alternativlosigkeit zum Status quo oder den Einsatz von staatlichen Gewaltmitteln in Schach gehalten. Genau dieses Phänomen beobachten wir aktuell in der politischen Beziehung zwischen der Türkei und der südkurdischen Regierungspartei PDK.
Die zweite Linie nimmt die demokratische Widerstandstradition der Völker als Quelle ihrer Kraft und organisiert sich entsprechend eines demokratischen Sozialismusverständnisses. In Politik, Krieg und Diplomatie wird sich prinzipientreu auf die eigene, unabhängige, selbstbestimmte Kraft verlassen. Die unterdrückten Völker und sozialen Klassen werden als die strategischen (langfristig) Verbündeten betrachtet. Diese Linie verfügt über genug Selbstvertrauen, auch mit verschiedenen regionalen und internationalen Akteur*innen auf demokratischer Basis politisch und diplomatisch zu agieren. Zentrale Vertreterin dieser Linie in der gesamten Region Kurdistans ist die kurdische Freiheitsbewegung, angeführt von der PKK und der KCK.
Perspektiven und Wege zur Lösung der kurdischen Frage
Um die gegensätzlichen Charaktere dieser beiden politischen Linien besser zu verstehen, hilft es, einen Blick auf die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen zur Frage der Region Kurdistans beziehungsweise der kurdischen Frage zu werfen. In seiner im Jahr 2009 verfassten „Roadmap für Verhandlungen“ formuliert der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan im Kontext der damaligen Friedensverhandlungen mit dem türkischen Staat drei mögliche Lösungswege für die kurdische Frage. Er differenziert dabei zwischen diesen Möglichkeiten:
a) dem traditionellen Plan der Verleugnung und nationalen Vernichtung (die militärische Lösung durch die Nationalstaaten der Türken, Perser und Araber und westlicher Unterstützer)
b) dem föderalistisch-nationalistischen Lösungsplan
c) dem demokratischen Lösungsplan (vertreten von der kurdischen Freiheitsbewegung in den vier Teilen Kurdistans durch das politische Konzept des demokratischen Konföderalismus)
Zu dem föderalistisch-nationalistische Lösungsplan, der heute vor allem von der PDK-Administration vertreten wird, schreibt Öcalan in der Roadmap folgendes:
„Hinter diesem Plan, den die kurdische Regionalregierung im Irak umsetzt, stehen die traditionellen kolonialistischen Nationalstaaten der Region und die globalen Hegemonialmächte. Sie operieren in einem allgemeinen Konsens, wenngleich sie unterschiedliche Interessen vertreten. Die Unterstützung für diesen Plan bezweckt, das revolutionär-demokratische Potential der Kurden zu verzerren und zu kanalisieren. Die USA sind diejenige Hegemonialmacht, die die kurdische Regionalregierung am offensten unterstützt. […] Die Politik des »Teile und herrsche!« wird vor allem über das »Klein-Kurdistan«-Projekt umgesetzt. Insbesondere die revolutionären, radikaldemokratischen und sozialistischen Kräfte sollen auf diesem Wege unschädlich gemacht werden. Eines der Hauptziele dieses Plans besteht in der Isolation der PKK. Es gibt ein umfangreiches Projekt von GLADIO, das ein »Klein-Kurdistan« als Gegenleistung für die Isolation und Liquidierung der PKK vorsieht. Dieser Plan findet auch breite Unterstützung auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Ein Trio aus US-, türkischer und irakischer Regierung plus der kurdischen Regionalregierung versucht im Rahmen dieses Plans momentan, die PKK zum Verzicht auf den bewaffneten Kampf zu bewegen. Wegen der Interessenkonflikte der Beteiligten funktioniert dieser Plan allerdings nicht gut genug und wird nur begrenzt umgesetzt. Da er von weiten Teilen der kurdischen Gesellschaft nicht unterstützt wird, birgt er wenig Hoffnung. Weil er den Interessen einer kleinen Elite dient, wird er zunehmend diskreditiert und seine Akteure werden isoliert. […] Diese Lösung, die sich auf Südkurdistan und die Südkurden stützt, reflektiert im Wesentlichen den Lösungsstil der westlichen Hegemonialmächte.“
Wie zu Beginn beschrieben, stützt sich die PDK als traditionelle Führungselite auf ausländische Mächte, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die Frage, die sich hier aus der Perspektive der betroffenen Menschen in der Region Kurdistans stellt, ist die, inwiefern eine Lösung durch fremde Kräfte, deren Interessen wirtschaftlicher und hegemonialer Natur sind, eine Antwort für die dort in einer Kolonie lebenden und nach Demokratie strebenden Bevölkerung überhaupt bieten kann.
Die Politik der PDK: Eine historische Konstante
Für viel innerkurdische Diskussion über die PDK sorgte der sogenannte 74. Ferman (kurd. für Genozid) an den Ezid*innen. Der IS hatte im Sommer 2014 große Teile im Norden und Osten des Irak überrannt. Am 3. August verübte er im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal einen Völkermord, dem etwa 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, und weitere Tausende werden bis heute vermisst. Die militärischen Peschmerga-Einheiten der PDK, deren Aufgabe der Schutz und die Verteidigung der Menschen der Region war, packten kurz vor dem drohenden Angriff des IS ihre Sachen, brachten sich selbst und ihre Waffen in Sicherheit und überließen die Bevölkerung bewusst einem Genozid und Feminizid. Die Ezid*innen waren dem IS schutzlos ausgeliefert.
Auch am sechsten Jahrestag des Völkermords wird verschwiegen, wer den Befehl zum Rückzug gab. Der widerstandslose Rückzug der Peschmerga aus Şengal und der dadurch verursachte Genozid an den Ezid*innen ist jedoch nur ein Beispiel für die Resultate dieser politischen Linie. Ein Blick in die Geschichte der PDK ist deshalb lehrreich:
So wie die PDK gegenwärtig von der Türkei unterstützt wird, wurde sie ab 1963 durch das iranische Schah-Regime militärisch auf den Beinen gehalten. Das damals zum westlichen Lager gehörende iranische Regime hatte nicht nur ideologische Schwierigkeiten mit der pro-sowjetischen Militärführung in Bagdad, sondern es bestand auch ein Territorialkonflikt zwischen den beiden Staaten am Fluss Schatt al-Arab. Aus der anfänglichen Unterstützung für die PDK entstand rasch eine enorme Abhängigkeit. So musste die PDK im Gegenzug für die Militärhilfen gegenüber dem Iran die Garantie abgeben, keine Kämpfer*innen ihrer Schwesterpartei PDK-I die irakisch-iranische Grenze passieren zu lassen. Die PDK-I befand sich damals im offenen Konflikt mit dem iranischen Regime und war auf die Rückzugsgebiete in Südkurdistan/Nordirak angewiesen. In einer vollständigen Katastrophe endete dieses Abhängigkeitsverhältnis, als die iranische und die irakische Führung sich 1975 bei einer OPEC-Versammlung in Algier einigten, der Irak umstrittene Gebiete an den Iran abtrat und das Schah-Regime im Gegenzug die Militärhilfen für die PDK einstellte. Nach diesem Abkommen kapitulierte Mistefa Barzanî, stellte den Widerstand ein und zog seine rund 40.000 Kämpfer*innen über die iranische Grenze ab. Der kurdische Widerstand brach in sich zusammen und Barzanî ging ins US-Exil, wo er später verstarb.
Ein weiteres Beispiel für die Prinzipienlosigkeit dieser Linie gab es im Jahr 1996. Nachdem die Kurd*innen die genozidale Anfal-Kampagne mit rund 180.000 Toten erfahren hatten und gleich mehrfach zu Hunderttausenden aus ihrer Heimat flüchten mussten, riefen sie im Oktober 1991 ihre Autonomie aus. In der Folgezeit verschärfte sich allerdings der Krieg unter den kurdischen Parteien um die Vorherrschaft im Autonomiegebiet. Zwischen 1994 und 1996 erlebte dieser Konflikt eine Zuspitzung. Als es im Zuge von bewaffneten Kämpfen Celal Talabanîs YNK (Patriotischen Union Kurdistans) gelang, die Stadt Hewlêr unter ihre Kontrolle zu bringen, zögerte die PDK nicht, Saddam Husseins Armee in das befreite Autonomiegebiet einzuladen und mit ihr zusammen die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Die PDK stellte mit diesem Akt unter Beweis, dass sie für ihr eigenes Fortbestehen dazu bereit ist, selbst mit einem Regime zusammenzuarbeiten, das man zuvor über Jahrzehnte hinweg bekämpfte und das noch wenige Jahre zuvor einen Genozid an der kurdischen Bevölkerung verübt hatte.
Halten wir uns nur diese beiden Beispiele vor Augen, wird deutlich, wie brandgefährlich die politische Linie der PDK für die Interessen der kurdischen Bevölkerung ist. Die gegenwärtige Abhängigkeit von der Türkei hingegen stellt nichts anderes dar als eine konsequente Kontinuität dieser Linie.
Besatzungsoperation in Südkurdistan und Diskurs der PDK gegen die kurdische Freiheitsbewegung
Seit Mitte Juni führt der türkische Staat nun eine Besatzungsoffensive in Südkurdistan gegen die von der PKK kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete durch. Neben der Grenzregion Heftanîn und den Qendîl-Bergen gehören auch das Geflüchtetencamp Mexmûr (Machmur) und die von der Religionsgemeinschaft der Ezid*innen bewohnte Region Şengal (Sindschar) zu den Angriffszielen der türkischen Armee. Unterstützt wird diese Besatzungsoffensive der Türkei von der südkurdischen Regierungspartei PDK und deren Geheimdienst Parastin. In Begleitung von Sondereinheiten der PDK werden in den Medya-Verteidigungsgebieten an Positionen, die vom türkischen Geheimdienst MIT festgelegt wurden, Stützpunkte aufgebaut, von denen aus Bewegungen der Guerilla verfolgt und Waffendepots und Finanzquellen ausfindig gemacht werden sollen. Die dort von südkurdischer Seite gesammelten Informationen werden an den MIT weitergeleitet, woraufhin die genannten Orte in der Region Kurdistans bombardiert werden. Bei diesen Bombardierungen werden Zivilbevölkerung und Freiheitskämpfer*innen ermordet, Anbauflächen, die für die Ernährung der Gesellschaft genutzt werden, zerstört und die Natur vernichtet.
Angesichts der zeitgleichen Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete, Şengal, Mexmûr und weitere Orte in Südkurdistan vom 15. Juni 2020 muss nicht weiter darüber spekuliert werden, wozu diese Stützpunkte der Koalition von PDK und MIT dienen. Es ist ein Vernichtungsakt gegen die eigene Gesellschaft.
Parallel zu den Besatzungsangriffen auf Heftanîn und andere Regionen der Medya-Verteidigungsgebiete auf südkurdischem Territorium, errichtet die PDK an der Grenze nach Nordostsyrien neue Militäranlagen und Beobachtungsposten. Die seit einem Monat andauernden Bauarbeiten finden im Grenzdreieck Rojava-Bakur-Başûr (Syrien-Türkei-Irak) statt und reichen im Süden bis nach Şengal. In einigen Gebieten werden Gräben gezogen. Die Militärbewegungen an der Grenze haben nach dem Ankara-Besuch des Präsidenten der Autonomieregion Kurdistan, Nêçîrvan Barzanî, am 4. September zugenommen. In der Abschlusserklärung des Treffens wurde ein gemeinsamer Kampf gegen den „Terrorismus“ beschlossen.
Fazit
Wir haben uns in diesem Artikel an der Analyse eines politischen Kurses in Kurdistan versucht, den wir als PDK-Linie bezeichnet haben. Es ist nicht nur die PDK selbst, die diese politische Linie verfolgt, doch sie ist historisch wie gegenwärtig ihre wichtigste Vertreterin in Kurdistan. Die PDK und der Kampf von Mistefa Barzanî für eine Autonomie der KurdInnen im Irak galten gerade in ihren frühen Jahren als Inspirationsquelle für viele junge Menschen in allen Teilen Kurdistans. Sehr viele Menschen haben sich über die Jahrzehnte hinweg diesem Kampf angeschlossen, um für die Freiheit und gegen die brutale Unterdrückungspolitik, die eine Konstante des irakischen Staates seit seiner Gründung darstellt, einzustehen. Unzählige dieser Menschen haben auf diesem Weg ihr Leben gelassen.
Das Andenken dieser Menschen, aber auch die Hoffnung auf Freiheit und Frieden in Kurdistan erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem politischen Kurs, den wir als PDK-Linie bezeichnet haben. So sehr die PDK-Führung über ihre Medien auch den Anschein zu erwecken versucht, sie vertrete die Interessen der südkurdischen Bevölkerung, legt sie durch ihr politisches Agieren immer deutlicher ihre eigentliche Intention offen: den eigenen Machterhalt zum Preis der Kollaboration mit der Türkei. Die PDK ist gegenwärtig zu einer zentralen Handlangerin des türkischen Vernichtungsfeldzugs gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung verkommen. Damit setzt die PDK nicht nur die Errungenschaften in Rojava/Nordsyrien und den Freiheitskampf in Nordkurdistan einer ernsthaften Gefahr aus. Sie verrät auch die Ideale, für die Abertausende Kämpfer*innen in ihren Reihen ihr Leben gelassen haben.
Die Autorin Berfin Gözen ist Mitarbeiterin des Düsseldorfer Vereins Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. (Cenî). Der Text ist im Original in der Ausgabe 212 für November/Dezember 2020 des zweimonatlich erscheinenden Kurdistan Reports erschienen