Über die Parallelen zwischen rebellischem Land und kurdischer Diaspora

Der mexikanische Anthropologe Alberto Colin Huizar befasst sich mit Widerständen indigener Völker. Im Februar nahm er am langen Marsch für Abdullah Öcalan teil und zeigt nun die Parallelen zwischen dem Land der Zapatistas und der kurdischen Diaspora auf.

Schwarzer Tee, Brot und Joghurt sind auf dem Tisch jeder in Europa lebenden kurdischen Familie unverzichtbar. Für sie ist die Beibehaltung dieser kulturellen Praktiken außerhalb ihres ursprünglichen Territoriums ein Merkmal, das sie als Teil einer kollektiven Geschichte ausweist, die sich trotz der Gewalt der Staaten, die ihren sozialen Tod planen, weigert, vergessen zu werden. Die Bilder von Che Guevara, Abdullah Öcalan und Sakine Cansiz als Symbole des Widerstands sowie die Fahnen, die oft die Flure ihrer Häuser schmücken, spiegeln ihrerseits die Bedeutung und den Stellenwert des revolutionären Kampfes im täglichen Leben der Kurden auf diesem Kontinent wider.

Die Diaspora-Erfahrung der kurdischen Bevölkerung außerhalb Kurdistans ist sehr unterschiedlich. Einige sind schon seit mehreren Jahrzehnten ansässig, andere sind erst in den letzten zehn Jahren gekommen und leben in fast allen Ländern verstreut, vor allem in Deutschland, wo sie mehr als eine Million Menschen zählen. In jedem der nationalen Kontexte, in denen sie sich niedergelassen haben, gründen sie lokale Unternehmen oder üben verschiedene Berufe aus, einige als Angestellte in Fabriken, andere in der Verwaltung oder im Transportwesen; mehrere Generationen kurdischer Kinder und Jugendlicher werden in diesem Gebiet geboren und wachsen dort auf, wo sie mit anderen Familien, die durch den Krieg im Nahen Osten vertrieben wurden, in Kontakt treten und ihre Geschichten teilen.

© Vidal C. | Kurdistán América Latina

Es ist eine Realität, dass das kurdische Volk neue Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben in einem Land aufbaut, das ihnen im Allgemeinen mit Verachtung begegnet, mit einem latenten Rassismus im Alltag, der größtenteils auf die politischen Beziehungen der deutschen Regierung zur Türkei zurückzuführen ist. Ein gemeinsames Merkmal ist jedoch, dass alle Familien auf die eine oder andere Weise Widerstand gegen diese strukturellen Bedingungen leisten, indem sie sich den verschiedenen Organisationsebenen der Bewegung anschließen, sich so weit wie möglich an den Aktivitäten beteiligen, einen hartnäckigen sprachlichen Widerstand aufrechterhalten und regelmäßig an den Treffen und Aufgaben teilnehmen, die von den verschiedenen Kreisen der Organisation in jeder Stadt ausgehen, insbesondere von den Frauen und der Jugend.

Bedeutung des Öcalan-Paradigmas für Diaspora-Familien

Die Internationalist:innen, die am langen Marsch für die Freiheit Abdullah Öcalans vom 6. bis 12. Februar teilnahmen, der über 110 Kilometer von Frankfurt nach Saarbrücken führte und mit einer großen Demonstration in Straßburg endete, konnten erleben, was das Paradigma des demokratischen Konföderalismus im Leben der kurdischen Familien in den verschiedenen Städten Deutschlands bedeutet. Diese jährliche Aktivität war nicht unbedeutend, da sie das konkrete Ziel verfolgte, die Freilassung des seit dem 15. Februar 1999 im Gefängnis von Imrali inhaftierten kurdischen Vordenkers zu fordern und zu versuchen, ein internationales Solidaritätsnetz zu festigen. Der Marsch bestand aus mindestens 150 Personen aus 21 verschiedenen Ländern, die aus ihren Gebieten anreisten, um den kurdischen Kampf zu unterstützen und die Praxis der Bewegung kennenzulernen.

Praktische Beispiele der Organisationsform der kurdischen Bewegung

Zwei Elemente stechen aus diesem Eintauchen in das organische Leben der Bewegung hervor. Das erste bezieht sich auf die Tatsache, dass der lange Marsch ein Moment war, um die Art und Weise der Organisation der Bewegung zu erlernen und in die Praxis umzusetzen, von der Bildung von Kommunen, die von vielfältigen Menschen (mit verschiedenen Muttersprachen) gebildet wurden, über die Solidaritätsarbeit, um sich gegenseitig auf dem Weg zu versorgen, bis hin zur Ausübung von Kritik und Selbstkritik durch das Tekmil am Ende jedes Tages des Marsches. Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass Dutzende von kurdischen Familien, die in den verschiedenen Städten leben, in denen der lange Marsch stattfand, die Internationalist:innen am Ende eines jeden Tages in ihren Häusern beherbergten. Diese Maßnahme war der Schlüssel, um den Teilnehmenden des Marsches eine weitaus umfassendere Lernerfahrung zu ermöglichen, da wir so direkt erfahren konnten, was die Menschen, die mit der Bewegung verbunden sind, über ihren Kampf, ihre Lebensgeschichten und die ihrer Gefallenen fühlen und denken, wie sie den Widerstand selbst, den Wert von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] und die Herausforderungen der Revolution verstehen. Gemeinsam mit ihnen zu Abend zu essen, Tee zu trinken und sich gegenseitig von unseren Kämpfen zu erzählen, war vielleicht der wertvollste Teil des langen Marsches.

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Die Gastfreundschaft als zentrale und gemeinsame Eigenschaft der kurdischen Familien in der Diaspora, die uns willkommen hießen, war eine Lektion in militanter Ethik und ein immenser Lernprozess. Ich erlebte, dass ich von Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten aufgenommen wurde, z. B. von Menschen mit einer langen Geschichte in der Bewegung aus dem Untergrund, einem jungen Flüchtling in einer bescheidenen Wohnung, Müttern, die das Bild ihrer Gefallenen auf ihrem Handy haben, und sogar Frauen, die mir sagten: „Wenn ich keine Kinder gehabt hätte, wäre ich jetzt in den Bergen und würde mit meinen Kamerad:innen kämpfen.“ Die Vielfalt ihrer Geschichten ist schier unendlich, und gleichzeitig ist es sehr aufschlussreich, wie die Kurd:innen versuchen, auf revolutionäre Weise zu leben und gegen die kapitalistische und patriarchalische Persönlichkeit zu kämpfen. Diese Erfahrung erinnerte mich an meine Erlebnisse in der sogenannten Escuelita Zapatista, einer Initiative der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) im Januar 2014, die im Wesentlichen darin bestand, Menschen einzuladen, die daran interessiert waren, zu erfahren, wie die Autonomie in den autonomen Städten und Gemeinden der zapatistischen Rebell:innen täglich aufgebaut wird.

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Bei dieser Gelegenheit versammelten sich die Menschen, die dem Ruf des Zapatismus gefolgt waren, sowohl aus Mexiko als auch aus dem Rest der Welt, im sogenannten Caracol Jacinto Canek, wo wir auf die verschiedenen Regionen, in denen die Organisation präsent ist, verteilt wurden. Vom ersten Tag an wies die EZLN allen Schüler:innen in der Escuelita eine bestimmte Compañera oder einen Compañero als Votán zu, d.h. als unseren Vormund, der uns beibringen sollte, wie man Autonomie lebt. Mit unserem Votán arbeiteten wir auf dem Maisfeld oder der Kaffeeplantage, wir gingen auf den Hügeln spazieren, wir studierten die Bücher über Autonomie und vieles mehr. Der Votán wurde unser Lehrer, seine Familie nahm uns liebevoll auf und sein Haus war unser gemeinsamer Raum. Während der fünf Tage, die wir bei den Familien der zapatistischen Basis lebten, lernten die Schüler:innen, dass es ein wenig Würde, eine Menge Rebellion und ein wenig mehr Organisation braucht, um „die Autonomie aufzubauen, die heute die Welt in Staunen versetzt“ (Subcomandante Marcos sic).

Parallelen zwischen „Demokratischer Nation“ und „Aufbau einer Welt“

In der Escuelita Zapatista erfuhren wir anschaulich, wie die indigenen Mayas das kapitalistische System verstehen und wie sie es jeden Tag mit einem sozialen, kulturellen und politischen Projekt bekämpfen, das auf lokaler und regionaler Autonomie beruht. Im Fall des langen Marsches stellt die Aktion, Menschen in kurdischen Häusern solidarisch aufzunehmen, ihnen ein Dach für die Nacht, eine Dusche und einen Teller mit Essen (Bohnen im mexikanischen Südosten, Weizen in der kurdischen Diaspora) anzubieten, eine ideale Gelegenheit dar, die „Völker in Bewegung“ zu verstehen, die hier und jetzt für ein anderes Gesellschaftsprojekt kämpfen und es aufbauen. Was die kurdischen Völker als demokratische Nation bezeichnen, ist dem, was die Zapatistas als Aufbau einer Welt bezeichnen, in die viele Welten passen, sehr ähnlich.

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Die Parallelität mit der kurdischen Bewegung ist über den Zapatismus hinaus latent vorhanden. Während des Zusammenlebens mit den kurdischen Familien habe ich verstanden, dass die Lebensweisen der Völker in Abya Yala sehr ähnlich sind und es mehr Übereinstimmungen als Unterschiede gibt, was angesichts der geografischen Entfernung der Völker überraschend ist. Sicher ist, dass die Geschichten des Globalen Südens ein gemeinsames Paradigma des globalen Kampfes zur Veränderung der historischen Unterdrückungsbedingungen des Weltkapitalismus aufweisen, das sich auf der Ebene der Nachbarschaft, der Gemeinschaft, der Region und des Landes ausdrückt. Das größte Problem ist, dass das System selbst uns gelehrt hat, dass unsere Kämpfe nicht miteinander verbunden sind, dass das, was in Kurdistan geschieht, nichts mit der regionalen Gewalt in Mexiko zu tun hat, sondern dieselben Formen der Ausbeutung und Macht der hierarchischen Nationalstaaten sind, die uns dem Spiel der repräsentativen „Demokratie“ unterwerfen. Vielleicht kann der lange Marsch dazu beitragen, diese Muster der kolonialen geografischen Distanzierung zu durchbrechen und an das wachsende Gefühl zu appellieren, alles verändern zu wollen.

Erzeugung eines kollektiven Gefühls der Hoffnung

Eine der Schlussfolgerungen, die aus dem langen Marsch gezogen werden können, ist die Wirkung auf die Erzeugung eines kollektiven Gefühls der Hoffnung bei den Kurd:innen, die die organisatorische Arbeit des demokratischen Konföderalismus in Europa und Kurdistan ausmachen. Die Aktion, sechs Tage lang durch die Straßen Deutschlands zu laufen und Parolen für die Forderung nach Freiheit des Rêber Apo zu rufen, die Schikanen der Polizei zu ertragen, die es nicht erlaubte, das Gesicht Öcalans zu zeigen, und die autoritären Zensurmaßnahmen der deutschen Regierung, durch die untersagt ist, bestimmte Parolen zu rufen, hallte nicht nur in unseren individuellen Wegen und als Subjekte in kollektiven Kämpfen wider, sondern auch in all jenen kurdischen Familien, die täglich den langen Marsch durch die Berichterstattung über die Aktion im Fernsehen, in den Zeitungen und im Radio verfolgten. Diese Arbeit der freien kurdischen Medien ist von grundlegender Bedeutung und hatte eine unvorstellbare Wirkung auf diejenigen von uns, die an dem langen Marsch teilgenommen haben. Dies ist ein wesentlicher Wert der heutigen Bewegung: Die Revolution, die heute auf dem von Abdullah Öcalan entwickelten Paradigma aufbaut, hat die Kraft, das Leben aller Menschen zu verändern, die auf die eine oder andere Weise von der Befreiung der Gesellschaft in Kurdistan durchdrungen und inspiriert worden sind.


Alberto Colin Huizar ist Anthropologe und lebt in Mexiko. Er ist Doktorand in Sozialwissenschaften am Institut für historische Sozialforschung der Universidad Veracruzana im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Weltweit begleitet er Widerstandsprozesse indigener Völker mit einem Schwerpunkt auf die Entstehung lokaler Bildungsprojekte. Im Original erschien der hier veröffentlichte Text auf Spanisch unter dem Titel „Die kurdische Bewegung und der lange Marsch für die Freiheit von Abdullah Öcalan“.