Als vor sieben, acht Jahren der Kampf der Volks- und der Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) weltweit verfolgt wurde und noch dazu bekannt wurde, für welche Werte sie stehen, gab es für Frauen weltweit kein Halten mehr. Viele machten sich auf nach Rojava und gründeten später die „Internationalistischen Frauenverteidigungseinheiten“ (YPJ International). Diese haben heute weder an Bedeutung noch an Anziehungskraft verloren, sondern sind angesichts der aktuellen politischen Lage in Kurdistan wieder wichtiger denn je. Deswegen hat die Redaktion des „Kurdistan-Report“ ein Interview mit Heval Dîlan von den YPJ International geführt.
Zunächst einmal, was sind die YPJ International und aus welchem Bedürfnis wurden sie aufgebaut?
Die YPJ International sind, wie der Name ja bereits besagt, eine internationalistische Struktur innerhalb der Frauenverteidigungseinheiten von Rojava. Wir organisieren internationalistische Freiwillige und geben ihnen die Möglichkeit, in Bildungsprozesse einzusteigen, die sich mit dem System Nord- und Ostsyriens, dem Demokratischen Konföderalismus, befassen. So ermöglichen wir, dass sie aktiv an der Frauenrevolution teilnehmen, aber auch auf Basis dieser Philosophie weltweit Allianzen schmieden und die Revolution ausweiten können.
Seit dem Kampf um Kobanê im Jahr 2015 besteht ein weltweites Interesse an den YPJ und immer mehr Frauen haben sich an uns gewandt und gefragt, wie sie uns erreichen und auch Teil dieses Projekts werden können. So sahen wir allmählich die immer größere Notwendigkeit eines internationalistischen Bataillons innerhalb der YPJ. Es sollte ein Ort geschaffen werden, der Frauen weltweit in die Lage versetzt, sich an diesem Kampf zu beteiligen. Und er wurde damals aufgebaut und wenn wir heute die YPJ International betrachten, dann sehen wir, dass sie zu diesem wichtigen Ort geworden sind, an dem Frauen von Frauen in allen Lebensbereichen ausgebildet werden. Sowohl auf ideologischer und militärischer Ebene als auch selbstverständlich politisch und gesellschaftlich.
Warum ist es wichtig, als Frauen Selbstverteidigung zu organisieren, und warum schließen sich Internationalistinnen aus der ganzen Welt den Verteidigungskräften von Rojava an?
Jeder lebende Organismus hat sein eigenes Verteidigungssystem, so wie eine Rose Dornen hat, um ihre Schönheit zu schützen. Seit den Anfängen des menschlichen Lebens war die Selbstverteidigung eine Aufgabe, die auf natürliche Weise von der Gesellschaft organisiert wurde. Mit der Institutionalisierung des Patriarchats, der Kapitalakkumulation und der Entstehung des Klassensystems riss die herrschende Klasse die Fähigkeit zur Selbstverteidigung an sich und Männer und Frauen wurden ihrer Mittel zur Selbstverteidigung beraubt. Es wurden Armeen aufgestellt und anstatt die Gesellschaft zu schützen, wurden und werden sie als mörderische Kriegsmaschinen eingesetzt, um die Völker der Welt auszubeuten.
Teil des historischen Erbes kämpfender Frauen
Wenn wir zu den Waffen greifen, tun wir das in Opposition zu diesem patriarchalen Militarismus, mit dem Ziel, Frauen und unser Volk zu verteidigen und eben nicht die Interessen des Kapitals oder der Nationalstaaten. Die YPJ sehen sich als Teil des historischen Erbes der Frauen, die ihr Land gegen Faschismus und Besatzung verteidigten oder Revolutionen schützten, wie die Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg, die Partisaninnen im Kampf gegen den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs und die vietnamesischen Frauen, die ihr Land gegen die Besatzung verteidigten.
Die Rojava-Revolution hat eine Basisdemokratie aufgebaut, in der die Gesellschaft durch örtliche Kommunen und Räte organisiert wird und Frauen autonome Frauenstrukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen schaffen. Das System der Ko-Vorsitzenden garantiert dabei die Mitwirkung von Frauen in allen politischen Gremien, ihre Bildung ist durch Akademien umfassend organisiert und Frauenkooperativen geben ihnen die Möglichkeit, wirtschaftlich unabhängig zu werden. Jineolojî – die Wissenschaft der Frau – bietet eine wissenschaftliche Grundlage für die Frauenrevolution, ohne positivistische Doktrinen zu reproduzieren; Frauenjustizräte zielen darauf ab, Gerechtigkeit zu schaffen, und mit den YPJ haben Frauen ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte gebildet. Diese Errungenschaften sind für die Frauen auf der ganzen Welt erbracht worden und sollen der Entwicklung echter Demokratien zugutekommen.
Der türkische Faschismus und islamistische Gruppen wie der Islamische Staat greifen laufend die befreiten Gebiete in Nord- und Ostsyrien an. Sie versuchen, unser befreites Land zu besetzen und ihr frauenfeindliches, unterdrückerisches System durchzusetzen. Darüber hinaus sind die Hegemonialmächte bestrebt, die Revolution von Rojava zu diffamieren und als ein Projekt des kurdischen Separatismus zu verkaufen, indem sie den Krieg, den sie uns aufzwingen, als einen Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen darstellen. Die Rojava-Revolution ist aber keine rein kurdische Revolution. Sie basiert auf Abdullah Öcalans Konzept der demokratischen Nation, das alle religiösen, kulturellen und ethnischen Gruppen in der Region einbindet. Dieses Paradigma zielt darauf ab, eine Einheit zwischen den verschiedenen Völkern der Region zu schaffen. An der Revolution und dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft sind Menschen aus allen ethnischen Gemeinschaften in Rojava beteiligt. Da die Revolution von Rojava ein politisches Modell für eine religiöse, kulturelle und ethnische Zusammenarbeit anbietet, kann sie ein Lösungsmodell für den gesamten Nahen Osten darstellen.
Die YPJ als Weg, sich von 5000 Jahren Unterdrückung zu befreien
Die Hegemonialmächte haben den Nahen Osten in ein Spielbrett verwandelt, auf dem sie ethnische Gruppen gegeneinander ausspielen, und die Rojava-Revolution untergräbt diesen Plan und ist daher gefährlich für sie. Die Freiwilligen der YPJ International verstehen das Potenzial dieser Revolution und betrachten sie als ihre eigene Perspektive, nicht als eine auf das kurdische Volk beschränkte. Die drei internationalen Revolutionärinnen Ivana Hoffmann aus Deutschland, Anna Campbell aus England und Alina Sanchez aus Argentinien wurden zu Gefallenen in den Reihen der YPJ. Ihr Engagement ist für uns der Beweis, dass die Frauen, die nach Rojava gekommen sind, gefunden haben, was sie suchten: einen konkreten Weg, sich von 5000 Jahren Unterdrückung der Frau zu befreien. Frauen aus der ganzen Welt finden hier Freiheit und sind deshalb bereit, sie zu verteidigen.
Sie selbst hatten mittlerweile die Möglichkeit, viele Internationalistinnen aus verschiedensten Ländern kennenzulernen. Was ist Ihr Eindruck von ihnen? Was wird in den Bildungen diskutiert? Und welche Strategien werden entwickelt, um den Angriffen auf Frauen im kapitalistischen System zu begegnen?
Obwohl unsere Mitglieder aus verschiedenen Regionen der Welt kommen, haben wir einen gemeinsamen Feind. Imperialismus, Kolonialismus, Krieg und Faschismus sind existenzielle Bedrohungen für Frauen auf der ganzen Welt. Der Kapitalismus unterdrückt Frauen doppelt: Sie müssen ihre Arbeitskraft für weniger Geld verkaufen als Männer und sind gleichzeitig gezwungen, als unbezahlte Arbeitskräfte für die Reproduktionsarbeit in ihren Häusern verantwortlich zu sein. Wir wissen, dass es diese wirtschaftlichen Bedingungen sind, die Frauen in die Abhängigkeit von Männern drängen, was sie angreifbarer für Gewalt macht. Der Kapitalismus verwandelt alles in eine Ware. Eine der größten Industrien der Welt, die Sexindustrie, benutzt Frauen als Ware und macht Profit aus ihrer sexuellen Ausbeutung. Wenn alles nur auf seinen materiellen Wert reduziert wird, werden immaterielle und ethische Werte verleugnet. Wir sind jedoch der Meinung, dass ethische Werte für den Erhalt starker Gemeinschaften unerlässlich sind. Wir müssen verstehen, dass dieses System sogar die Bedeutung der Liebe so weit herabgesetzt hat, dass „Liebe“ zu einer legitimen Entschuldigung für die Tötung von Frauen geworden ist. Dieses System ist ein Angriff auf das Leben selbst, und wir sind nicht bereit, diese mörderische Maschinerie weiterlaufen zu lassen.
Auf ideologischer Ebene sehen wir den Liberalismus als einen großen Angriff auf die Frauen und ihren Kampf. Wir sollen beschwichtigt werden, dadurch, dass er die Frauen in das ausbeuterische System integriert. Indem weibliche Chefs und Führungskräfte als vermeintlicher Beweis für die Emanzipation der Frauen herangezogen werden, sollen unsere Forderungen nach Befreiung unnötig erscheinen. Der Einfluss des Liberalismus auf den Feminismus verhindert einen radikalen Kampf und Wandel. Jede Entscheidung, die eine Frau trifft, wird als „feministische“ Entscheidung dargestellt, und die Frauen sind überzeugt, dass Unterdrückung keine Unterdrückung ist, solange sie sich frei dafür entscheiden können. Wir müssen verstehen, dass dies die materiellen und historischen Bedingungen, unter denen Frauen Entscheidungen treffen, völlig verleugnet. Es schneidet die Frauen von ihrer Geschichte ab und gibt vor, dass nur das Individuum und der Moment wichtig sind. Alles wird auf individuelle Entscheidungen reduziert und wir werden von der wahren Ursache unserer Probleme abgelenkt, nämlich dem ausbeuterischen patriarchalischen System. Wir sehen, dass dieser Ansatz jede kritische Debatte verhindert, weil die individuelle Autonomie als etwas betrachtet wird, das niemals in Frage gestellt wird oder in Frage gestellt werden kann. Wir verstehen den Individualismus als etwas, das den Aufbau starker Gemeinschaften verhindert, und haben festgestellt, dass Frauen immer mehr voneinander isoliert werden. Wenn Frauen voneinander getrennt sind, sind sie leichter zu kontrollieren. Und was noch gefährlicher ist – sie sind dadurch weniger bereit, füreinander einzustehen.
Die Revolution auch in sich selbst stattfinden lassen
In der Diskussion, die wir innerhalb von YPJ International führten, konnten wir sehen, wie sich diese Strategien auf die Psychologie der Frauen auswirken. Wenn sie das System nicht als Ursache ihrer Unterdrückung begreifen, glauben sie, dass sie selbst schuld sind, wenn sie ausgebeutet werden und Gewalt erfahren. Wir sehen, dass Scham- und Schuldgefühle häufige Muster in unseren Biografien sind. Deshalb betrachten wir den Liberalismus als einen ideologischen Angriff auf die Frauen. Wir sehen, dass überall auf der Welt die Frauen aufwachen und das Patriarchat nicht mehr hinnehmen. Aber wir sehen auch mit großer Sorge, dass der Liberalismus sich selbst als Lösung anbietet und die Frauen daran hindert, sich an einer revolutionären Politik zu beteiligen. Deshalb verspüren wir die dringende Notwendigkeit, über die Gefahren des Liberalismus aufzuklären und stattdessen ein revolutionäres Narrativ zu verbreiten. Ein Narrativ, das das System der Unterdrückung analysiert und Frauen befähigt, für ihre Befreiung zu kämpfen. YPJ International sind ein Raum, in dem sich Frauen in einem revolutionären Kontext bilden können, frei von der Kontrolle und Unterdrückung durch Nationalstaaten und Bürokratie. Gegen die Strategie der Isolation durch das unterdrückerische System wollen wir Einheit und Liebe unter den Frauen schaffen. Wir leisten Aufklärungsarbeit über die Geschichte der Unterdrückung von Frauen, aber auch über die Geschichte der Freiheit der Frauen. Wir lehren die Ideologie der Frauenbefreiung, ein Konzept, das seine Wurzeln in der kurdischen Frauenbewegung hat und Grundprinzipien für die Selbstbefreiung von Frauen enthält. Wir glauben an die Kraft der Bildung und wissen, dass das System Angst vor gebildeten, revolutionären Frauen hat. Deshalb sehen wir die Notwendigkeit, dass sich Frauen so entwickeln, dass sie andere inspirieren und die Revolution in der Welt verbreiten können.
Was muss eine Frau mitbringen, die sich Euch anschließen möchte? Also was für Voraussetzungen gibt es dafür, selbst Mitglied bei den YPJ International zu werden? Und wie können Frauen zu Euch Kontakt aufnehmen?
YPJ International sind ein Ort für Frauen, die auf der Suche nach Freiheit sind und bereit sind, Energie und Anstrengung aufzubringen, um die Frauenrevolution zu verstehen, zu entwickeln und zu verteidigen. Wir erwarten nicht, dass jemand eine Menge Theorie gelesen hat, sondern wir bitten die Menschen, offen zu sein, Werte wie kollektive Fürsorge, Mitgefühl und Selbstlosigkeit im täglichen Leben zu lernen und zu leben. Jede, die bereit ist, sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln, ist willkommen, sich uns anzuschließen. Teil einer Revolution zu sein bedeutet, die Revolution auch in sich selbst stattfinden zu lassen. In unserem täglichen Leben nutzen wir die Methode der Kritik und Selbstkritik, um zu analysieren, zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Aber natürlich braucht dieser Prozess Zeit, und deshalb ist Geduld gefragt, wenn man nach Rojava kommt. Obwohl die Frauen in Rojava schon viel erreicht haben, liegt noch ein langer Weg vor ihnen. Die Menschen sollten keine perfekte Revolution erwarten, in der alle Probleme oder Widersprüche gelöst werden. Um Zeit zu haben, die Sprache zu lernen, die Kultur kennenzulernen, eine militärische Ausbildung zu erhalten und die Philosophie der Revolution zu verstehen, sollten die Freiwilligen mindestens ein Jahr bleiben. Militärische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Wir sind per E-Mail zu erreichen ([email protected]) und auf Twitter unter @YPJ_volunteers zu finden. Wir möchten betonen, dass wir besonders daran interessiert sind, unsere Bündnisse mit Frauen in Lateinamerika, Asien und Afrika zu stärken, und wir laden sie ein, mit uns Kontakt aufzunehmen. Aus dem Herzen der Frauenrevolution grüßen wir alle unsere Schwestern, die sich dem kapitalistisch-patriarchalischen System widersetzen, und wir geben euch unser Wort, dass wir alles tun werden, um die Frauenrevolution zu verteidigen und zu verbreiten.
Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Ihnen und den YPJ International weiterhin viel Erfolg.
Sehr gerne und vielen Dank.
Titelfoto: Şopdarên Rojê ya Çandê