Wie Sara leben

Die HPG-Kommandantin Amara Gulistan erinnert sich an Sakine Cansız: „Ihr letztes Wort ist noch nicht gesprochen. Wenn sie mit dir sprach, berührte sie dich, und mit dieser Berührung heilte sie dich. Sie verstand dich und ließ es dich spüren.“

Die HPG-Kommandantin Amara Gulistan hat in einer Sondersendung bei Stêrk TV zum Jahrestag der Morde von Paris von ihren Erinnerungen an Sakine Cansız berichtet. Die PKK-Mitbegründerin wurde vor sieben Jahren zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez vom türkischen Geheimdienst in Paris ermordet.

Amara Gulistan, eine der Kommandantinnen an den Appollon-Akademien der Volksverteidigungskräfte HPG, sagte zu ihrem ersten Kennenlernen mit Sakine Cansız (Sara):

„Als ich in die Berge ging, hatte ich zwei große Träume: Ich wollte Rebêr Apo [Abdullah Öcalan] und Heval Sara sehen. Das erste, was einem zu Sara in den Sinn kommt, ist Widerstand. Sie lässt sich natürlich nicht mit einem einzigen Wort beschreiben. Eigentlich hat sie sowohl sich selbst als auch ihre Weggefährtinnen neu erschaffen. Sie stand mit ihrer Haltung für Tausende Frauen und wurde zu einem Aufschrei für sie. Sie ein einziges Mal zu sehen und zu umarmen, war einer meiner großen Träume. Als ich 2011 aus dem Gefängnis kam, habe ich sie in den Bergen getroffen. Im Gefängnis war ständig von ihrem Widerstand im Kerker von Amed gesprochen worden. Während meiner Haftzeit war sie eine Quelle der Hoffnung für mich. Ich sehnte mich nach ihr und nach den Bergen. Beide Hoffnungen erfüllten sich gleichzeitig. Für mich bedeuteten die Berge das gleiche wie Sara.

Erste Begegnung

Es war nachts, wir waren zu Besuch in ein anderes Gebiet gegangen. Es war dunkel. Dann kam anderer Besuch, wir begrüßten uns der Reihe nach. Ganz zuletzt kam eine Freundin und umarmte mich fest. Irgendwie spürte ich, dass es Heval Sara sein musste. Dann wurde Licht angemacht. Sie saß in einer Ecke und sah uns alle einzeln an. Das war eine ihrer schönsten Eigenschaften: Sie sah ihre Weggefährtinnen an, als ob es das erste Mal sei. Als sie zu mir blickte, sagte sie: ‚Du bist wahrscheinlich die Freundin, die aus dem Gefängnis gekommen ist.‘ Ich war überrascht, schließlich sah sie mich zum ersten Mal. Auf meine Frage, wie sie das erraten hat, antwortete sie: ‚Das kann man nur, wenn man selbst im Gefängnis gewesen ist.‘ Für mich war das ein ganz besonderer Moment, ein sehr besonderes Gefühl. Sie konnte mit einer Umarmung alle angesammelten inneren Wunden und Schmerzen heilen. Bevor du nur den Mund aufmachtest, sah sie dich an, sah deinen Zustand, deine Bewegungen, deine Augen. Sie verstand dich und ließ es dich spüren. Sie begriff deine Widersprüche, deine Schwierigkeiten und was du selbst nicht in Worte fassen konntest.

Jahrelange Wirkung: Wenn sie mit dir sprach, berührte sie dich

Ich hatte in dieser Hinsicht großes Glück, denn ich konnte sie umarmen, ihre Stimme hören und einen Moment mit ihr teilen. Für sie war es nicht notwendig, stundenlang mit einem Menschen zu sprechen oder ganze Tage mit ihm zu verbringen, um ihn zu verstehen. Sie gab einem das Gefühl, dass man sich schon jahrelang kennt. Für sie spielte es keine Rolle, was die Farbe, Religion oder Sprache eines Menschen war. Eine Unterhaltung mit ihr konnte eine jahrelang anhaltende Wirkung zeigen. Wenn sie mit dir sprach, berührte sie dich, und mit dieser Berührung heilte sie dich. Selbst bei einer kurzen Unterhaltung konnte man die Freiheit spüren. Ich spüre diese Wirkung immer noch.

Liebevoller Umgang und unglaubliches Vertrauen

Saras gesamte Haltung und Lebensweise sind zu einem Merkmal der Frauenbefreiungsbewegung geworden. Sie setzte die Vorstellungen von Rebêr Apo in die Praxis um. Wo er war, war auch Heval Sara und umgekehrt. Ihre Haltung ist zu einer globalen Widerstandskultur geworden. Auch heute noch ziehen Frauen, die Widerstand leisten, die sich selbst verteidigen, sich zu Wort melden, einen eigenen Willen haben und dafür kämpfen, ihre Kraft aus der Widerstandskultur von Sara. Dass Frauen im Leben präsent sein und auch auf militärischem Gebiet Mitspracherecht haben müssen, sind Feststellungen, die Sara beharrlich immer wieder zur Sprache gebracht hat. Auch ihr liebevoller Umgang mit Frauen war etwas ganz Besonderes. Sie hatte ein unglaubliches Vertrauen zu Frauen und ist ohne Vorbehalte auf alle zugegangen. Sie war auch die Erste, die sich für die Vorstellung von Rebêr Apo eingesetzt hat, dass Frauen bei jeder Aufgabe, jeder Arbeit und in jedem Bereich des Lebens sichtbar sein müssen.

Atemlose Suche nach Freiheit

Heval Saras Suche nach Freiheit hat niemals aufgehört. Diese atemlose Suche hat sie vorantrieben. Ständig hat sie daran gearbeitet, Frauen weiterzubilden und zu organisieren. Als sie sich noch vor der PKK-Gründung der ersten Gruppe um Rebêr Apo anschloss, wurde der Grundstein für den Frauenbefreiungskampf gelegt.

Das unbeugsame Gesicht von Dersim

Ihre Heimat Dersim hatte einen großen Einfluss auf Heval Sara. Dersim hat zwei Gesichter. Das eine Gesicht hat einen Genozid erlebt und kennt sich selbst nicht mehr. Das andere Gesicht leistet immer noch Widerstand und beugt sich nicht. Sara war das unbeugsame Gesicht von Dersim. Ihre Besonderheiten waren der Widerstand im Kerker von Amed, ihre kompromisslose Haltung, ihre Verbundenheit mit ihren Weggefährten und das beharrliche Verfolgen von Dingen, an die sie glaubte. Die Situation in Dersim fasste sie nicht als Schicksal auf, sondern ging dagegen vor. Sie blickte immer vorwärts und konzentrierte sich auf ihr Ziel.

Jeder Ort ein Kampfgebiet

Im Gefängnis wurde versucht, ihr Kopf und Herz zu nehmen. Sie wehrte sich und antwortete mit Freiheit. Damit übte sie Vergeltung an allen Systemen, die es für die Versklavung von Menschen gibt. Sie wäre nicht Sara gewesen, wenn sie die Unterdrückungspolitik und ein Leben in Finsternis akzeptiert hätte. Sie hatte einmal an der Freiheit gerochen und auch das Gefängnis konnte ihre Suche nicht aufhalten. Auch unter der Folter schützte und tröstete sie ihre Weggefährtinnen. Sie wartete nicht ab. Sie akzeptierte die Dinge nicht schnell. Je höher der Druck wurde, desto größer wurde ihr Widerstand. Für sie war jeder Ort ein Kampfgebiet. Ihre Verbundenheit mit Rebêr Apo und mit ihren Freundinnen und Freunden hielt sie auf den Beinen. Für sie musste um jeden Preis die Freiheit gewinnen.

Saras letztes Wort ist noch nicht gesprochen

Im Moment greift der Feind in allen vier Teilen Kurdistans an. Saras letztes Wort ist noch nicht gesprochen. Mit dem Mord an ihr wollte der Feind eine Botschaft vermitteln. Rebêr Apo hat in diesem Zusammenhang von einem Komplott gesprochen. Wer sich Heval Saras Haltung zu eigen macht, kämpft für Freiheit. Beharrlicher Kampf führt uns zur Freiheit. Ein Beharren auf der Art und Weise von Rebêr Apo und Heval Sara führt uns zur Freiheit. Wie Sara zu leben, ist die größtmögliche Botschaft, die wir vermitteln können.“