Wenn südkurdische Machthaber Geschlechtergerechtigkeit fordern

Der Femizid an einer 25-Jährigen durch ihre drei Brüder erschüttert derzeit Südkurdistan. Die politischen Machthaber sind entsetzt und fordern Gendergerechtigkeit, dabei trägt ihr Handeln kaum zum Abbau von Ungleichheiten in Geschlechterverhältnissen bei.

Vor wenigen Tagen ermordeten drei Brüder im südkurdischen Kelar in der Germiyan-Region ihre 25-jährige Schwester, indem sie sie vor den Augen ihres Kindes erhängten. Die mittlerweile verhafteten Männer rechtfertigten den Mord als ein „gesellschaftliches Problem”. Zu denjenigen, die diesen kurz vor dem 25. November, dem internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen geschehenen Femizid in den sogenannten sozialen Medien verurteilten, gehörte auch der Premierminister der Autonomieregion, Mesrûr Barzanî (PDK). Bei Twitter forderte er: „Alle Frauen Kurdistans müssen die Möglichkeit haben, ein gleichberechtigtes, freies, sicheres und würdevolles Leben ohne Gewaltandrohungen führen zu können“. Soweit die Worte des südkurdischen Premierministers, der es bisher tunlichst vermieden hat, auch nur ein einziges Mal mit einer Frau aus seiner Familie öffentlich aufzutreten.

Noch während der brutale Mord in Kelar von zahlreichen Regierungsvertretern verurteilt wurde, richtete sich Solîn Êvê aus der Stadt Dihok mit einem Aufruf zur Verhinderung ihrer Inhaftierung an alle Frauen, die gesamte südkurdische Gesellschaft und die internationale Öffentlichkeit. Die 25-jährige politische Aktivistin war vor zwei Jahren während eines Bewerbungsgesprächs bei einer Frauenentwicklungsorganisation vom männlichen (!) Vertreter der Institution sexuell angegriffen worden. Sie verteidigte sich gegen den Übergriff, schwieg nicht, zeigte den Täter an und zog vor Gericht. Doch endete das Verfahren kürzlich nicht etwa mit der Verurteilung des männlichen Täters. Stattdessen wurde Êvê, die sich gegen den sexuellen Angriff verteidigt hatte, für schuldig erklärt. Das Gericht bewertete ihren Akt der Selbstverteidigung als „Anwendung von Gewalt” und verurteilte sie zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe.

Vorgetäuschte Unterstützung zielt auf Schwächung von Frauenkämpfen

Diejenigen, die in Online-Netzwerken Gewalt gegen Frauen verurteilen und Betroffenen Gerechtigkeit versprechen, verfallen in Bezug auf die riesige Ungerechtigkeit, die Solîn Êvê jüngst erfahren musste, in tiefes Schweigen. Denn weder glauben sie selbst an ihre eigenen Worte, mit denen sie Gewalt gegen Frauen verurteilen, noch verteidigen sie aufrichtig die Gleichberechtigung von Frau und Mann.

Solîn Êvê | Foto: privat

Wir können immer wieder beobachten, dass Vertreter patriarchaler Männlichkeit immer dann Forderungen der Frauenbewegungen unterstützen beziehungsweise vorgeben dies zu tun, wenn es ihnen gelegen kommt. Dabei steht ihre eigene Praxis in krassem Widerspruch dazu. Auf dieses Phänomen stoßen wir überall auf der Welt. Insbesondere die politischen Machtvertreter versuchen sowohl die Unterstützung von Frauen zu gewinnen, als auch deren Kampf zu schwächen, indem sie Beistand für deren Forderungen bekunden und sich selbst verständnisvoll zeigen.

Diese angebliche Unterstützung für die Forderungen der Frauenbewegungen, mit der sie letztendlich ihres Kerns beraubt werden sollen, unterstreicht die Stärke, die der Kampf der Frauen mittlerweile erreicht hat. Der weltweit von Frauen vorangetriebene Kampf für Freiheit und Gleichheit hat dazu geführt, dass die frauenfeindliche Mentalität nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren offen vertreten werden kann. Auch wenn das System in dieser Frage sich nicht aufrichtig verhält, wird die Gleichberechtigung der Geschlechter an vielen Orten der Wert als Maßstab für Demokratie verstanden.

Doch da wären noch immer die Kreise, die ununterbrochen patriarchale Mentalität, gesellschaftlichen Sexismus, Spaltung, Gewalt gegen Frauen und Frauenfeindlichkeit reproduzieren. Dadurch treten sie als Verteidiger der männlichen Hegemonie, als direkte Repräsentanten und Teil des männlichen Systems auf. Die Lippenbekenntnisse dieser Kreise zur Freiheit der Frau sind Ausdruck äußerst subtiler Absichten.

Verlogener männlicher Logik mit besonderer Vorsicht begegnen

Indem sich der Liberalismus im Verlauf der letzten 30 Jahre zum Vorreiter dieser Haltung entwickelte, hat er letztendlich die patriarchale Mentalität stets beschützt und immer wieder neu hervorgebracht. Das können wir eindeutig erkennen, wenn wir uns die Zahlen zur Gewalt gegen Frauen während des von der Corona-Pandemie dominierten Jahres 2020 ansehen, insbesondere die Statistiken bezüglich westlicher Gesellschaften.

„Die Rolle des Menschen in der Gesellschaft und im Leben wird durch seine Handlungen und Fähigkeiten bestimmt, nicht von Männlichkeit oder Weiblichkeit.“ - Wandbild in Silêmanî, erstellt von Aktivist*innen der Organisation Rasan. Die NGO setzt sich in Südkurdistan und im Irak für Gendergerechtigkeit, insbesondere die Rechte von LGBTI-Menschen ein.

Zu einer Zeit, in der Frauen die verschiedenen Formen männlicher Gewalt in aller Deutlichkeit entlarven und ihr Bewusstsein für die Notwendigkeit von Selbstverteidigung gegen die männlich-staatliche Gewalt stärken, müssen wir dieser verlogenen Logik mit besonderer Vorsicht begegnen. Denn dieselbe Logik organisiert sich auch in unserem unmittelbaren Umfeld, direkt neben uns. All diejenigen, die sich gegen Gewalt an Frauen aussprechen, müssen wir immer wieder an diese Notwendigkeit erinnern. Wir müssen einen aktiven und radikalen Kampf führen.

Wenn Gewalt ein Problem der Gesellschaft ist, ist es unausweichlich, dass wir den Kampf gegen männliche Gewalt vergesellschaften. Doch dürfen wir dabei nicht vergessen, klare Maßstäbe zu formulieren, während wir auch den Mann in den Kampf gegen die Gewalt an Frauen mit einbeziehen. Denn nur so wird eindeutig erkennbar, wer Freiheit und Gleichheit aufrichtig verteidigt – und wer den Kampf und die Forderungen der Frauen für die Wahrung der eigenen Macht instrumentalisiert.


Meral Çiçek studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während ihres Studiums begann sie, als Korrespondentin und Redakteurin für die einzige kurdische Tageszeitung in Europa Yeni Özgür Politika zu arbeiten, für die sie heute eine wöchentliche Kolumne schreibt. 2014 gründete sie mit anderen Frauen das Kurdish Women's Relations Office (REPAK) in Silêmanî, dessen Vorsitzende sie ist. Außerdem ist sie Mitglied der Redaktion des dreimonatlich erscheinenden Magazins Jineolojî (kurd. „Wissenschaft der Frau”). Der hier veröffentlichte Artikel erschien erstmals am 24. November 2020 auf Türkisch.