TJK-E: Jede Aktion beschränkt den Radius des Patriarchats

Die kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) hat sich trotz Pandemie eine breite Frauenorganisierung zum Ziel gesetzt. Im ANF-Interview berichtet Dilda Roj über die Perspektiven und die Arbeit der Frauenbewegung.

Auch in Europa nimmt während der Lockdowns die Bedrohungslage für Frauen durch Feminizide zu. Die Kurdische Frauenbewegung in Europa (Tevgera Jinên Kurd li Ewropayê, TJK-E) versucht, durch Kampagnen und Organisierungsarbeit dagegen zu steuern. Im ANF-Gespräch berichtet Dilda Roj aus der Koordination der TJK-E über die aktuelle Kampagne der Frauenbewegung.

Wie würden Sie das Jahr 2020 in Bezug auf den Frauenkampf bewerten?

Wir haben ein Jahr hinter uns gelassen, in dem der herrschende Charakter der kapitalistischen Moderne in den Vordergrund getreten ist. Die kapitalistische Moderne zersplittert die Gesellschaftlichkeit und errichtet ihre Herrschaft über das vereinzelte Individuum. Dies hat sich im vergangenen Jahr in Chaos, Krieg, Armut und Gewalt deutlich gezeigt. Demgegenüber hat der Kampf der Frauenbewegung eine in dieser Intensität vielleicht nie zuvor dagewesenen universelle Wirkung entfaltet.

Das zeigen die Proteste nach der Ermordung von Daniela Carrasco in Chile und auch das weltweite Echo der Las-Tesis-Performance. Frauen auf der ganzen Welt haben sich diese Performance angeeignet und den Staat als Ausdruck der Vergewaltigungskultur gebrandmarkt.

Bemerkenswert waren auch die Aktionen von Frauen gegen die Feminizide in Argentinien. Frauen brannten dort das Verfassungsgericht nieder, um gegen das Nichthandeln des Staates gegen patriarchale Gewalt zu protestieren.

Angesichts der Gewalt, die Frauen im Sudan erleben, war es sehr wichtig, dass sich die Frauen unter der Parole „Der Platz der Frauen ist die Revolution“ gegen die Herrschaft des Diktators Umar al-Baschir stellten und sowohl seine Herrschaft als auch gegen Frauen gerichtete Strafen wie das Auspeitschen beendeten und die Strafbarkeit der Klitorisbeschneidung durchsetzten.

Ein weiteres wichtiges Signal stellen auch die Erfolge dar, die Frauen in Polen gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen durch organisierten Kampf errangen.

Der Widerstand von Frauenbewegungen überall auf der Welt, wo Frauen organisiert sind, stellt für das Jahr 2020 eine wichtige Entwicklung dar.

Wie sieht es bei den kurdischen Frauen aus?

Natürlich gab es in Kurdistan neben dem Widerstand auch Angriffe des Staates. Die systematischen Angriffe des Staates auf die kurdische Frauenbewegung gingen weiter. Der Mord an Ipek Er, die Folter von Rojbin Çetin, das „Verschwinden“ von Gülistan Doku waren nur einige der Angriffe, die sich 2020 in das Gedächtnis der Frauen eingebrannt haben.

Die kurdische Frauenbewegung hat die Widerstandsgeschichte der Frauen von ihrem ersten Tag an für sich in Anspruch genommen und ihre Suche nach Freiheit in jedem Bereich verwirklicht. Das tut sie auch weiterhin. In diesem Sinne haben kurdische Frauen nie aufgehört, ihre Stimme gegen das AKP/MHP-Regime, das mit seiner Leugnungs- und Vernichtungspolitik jedes Mittel gegen die Frauen einsetzt, zu erheben. Frauen hören nicht auf, ihre Stimme auf den Straßen gegen die Erdoğan-Diktatur, die auch die kleinste alternative Regung nicht tolerieren kann und durch Repression zu vernichten sucht, laut werden zu lassen. Die Frauen haben die Straßen nicht einen Moment verlassen. Im Jahr 2020 stellten die Frauen ihre Entschlossenheit zur Freiheit trotz Verleugnung, Vernichtung, Krieg und aller möglichen Formen von Gewalt, mehr denn je in den Mittelpunkt.

Sie führen gerade eine Kampagne durch. Was hat Sie dazu veranlasst?

Die patriarchale Mentalität hört nicht auf, die Methoden der Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt, Einschüchterung und Vernichtung anzuwenden, um die Kontinuität ihrer Herrschaft in allen Bereichen der Gesellschaft und in allen Lebensbereichen zu gewährleisten und sich selbst weiter zu institutionalisieren. Jede Aktion auf der Straße, jede Stimme, welche die Frauen erheben, jede Aktivität, die von Frauenbewegungen organisiert wird, jede Bildungsarbeit, jede niedergeschriebene Frauengeschichte, die Frauenlieder, die gewerkschaftlichen Kämpfe für gleiche Bezahlung, die von Frauenräten gegenüber der Gesellschaft entwickelte Informations- und Sensibilisierungsarbeit, all das sind wichtige Formen des Widerstands gegen die patriarchale Mentalität und Mittel von ihr, Rechenschaft zu verlangen. Als kurdische Frauen führen wir einen heftigen Krieg gegen die patriarchale Mentalität. Wir haben diese Kampagne begonnen, um Rechenschaft von dem Diktator, der diese kaputte Mentalität vertritt, zu verlangen. In den 18 Jahren, in denen Erdoğan an der Macht ist, hat er Hunderte von Verbrechen gegen die Gesellschaft und gegen Frauen begangen. Wir sind entschlossen, für mehr als hundert Verbrechen, die auf Erdoğans Befehl geschehen sind, Rechenschaft zu verlangen.

Worauf zielt Ihre Kampagne ab?

Mit dieser Kampagne werden wir wieder zeigen, dass Frauen durch die Vernichtungspolitik nicht zum Schweigen gebracht werden können. Im Gegenteil, sie erweitern ihre Forderungen nach Rechenschaft. Als kurdische Frauenbewegung haben wir bisher in vielen Bereichen durch Widerstand bedeutende Entwicklungen geschaffen. Wenn wir zum Beispiel die Position der Frau im sozialen Leben betrachten oder die Bewusstseinsbildung, die Partizipation von Frauen in der aktiven Politik durch das System des Ko-Vorsitzes, wenn wir die Entwicklung einer Frauenperspektive im Bereich der Kunst und Kultur betrachten oder auch die Entwicklung von Methoden und Institutionen zur Frauenselbstverteidigung, dann können wir sehen, dass Frauen befreite Gebiete geschaffen und den Raum des Patriarchats beschränkt haben. Mit dieser Kampagne werden wir den Schuldigen zur Verantwortung ziehen, um die Folgen des Erdoğan-Faschismus zu beseitigen. Wenn wir als kurdische Frauen den Erdoğan-Faschismus zur Verantwortung ziehen, dann nehmen wir auch die Vernichtungspolitik von Diktatoren in anderen Regionen ins Visier, wir werden uns mit den Frauen in diesen Regionen im Kampf vereinen.

Worauf wird sich Ihre Kampagne fokussieren, wie werden Sie arbeiten?

Wie nie zuvor findet in Kurdistan und im Mittleren Osten eine schmutzige, unmoralische Politik statt, durch die Besetzung, Verleugnung und Vernichtung umgesetzt werden. In den Bergen Kurdistans kämpfen die kurdischen Frauen einen gewaltigen Kampf, sie zeigen mehr denn je ihre Entschlossenheit, die Jahrtausende alte Widerstandskultur auf das höchste Niveau zu bringen. Bei der TJK-E glauben wir, dass der einzige Weg, diese Kultur des Widerstands in Europa aufleben zu lassen, darin bestehen wird, keine einzige Frau unorganisiert zu lassen. Als kurdische Frauenbewegung in Europa werden wir diese Arbeit auf vielen Ebenen durchführen. Eine Seite sind natürlich Aktionen. Wir glauben, dass jede Aktion gegen das patriarchale Denken, ob institutionell oder von einer Organisation oder individuell, den Radius des Patriarchats einschränkt. Im Rahmen der Kampagne sind Unterschriften- und Informationsstände, Video-Screenings und Veranstaltungen geplant. Trotz der globalen Pandemiebedingungen werden wir unsere Aktionen auf höchstmöglichem Niveau durchführen. Eine weitere Dimension besteht darin, unsere Organisationsbemühungen auszuweiten. Wie alle Frauenräte, Initiativen und Kommunen machen wir am Anfang des neuen Jahres eine Bewertung des vergangenen Jahres. Sicher, die Pandemiebedingungen beeinflussen unseren Arbeitsrhythmus, aber es finden dann eben Treffen unserer Delegierten in kleinerem Kreis statt. Mit Online-Seminaren und Meetings, an denen alle unsere Organisationsstrukturen teilnehmen können, versuchen wir, die Auswirkungen der Pandemie auf unsere Selbstverwaltungsmechanismen zu minimieren.

Sie haben Aktivitäten bis zum 8. März geplant. Was heißt das konkret?

Obwohl wir im Rahmen der Kampagne viele Pläne haben, stehen einige der wichtigsten Aktionen schon jetzt auf der Tagesordnung. Es handelt sich um die Proteste, die anlässlich des Jahrestages des Massakers von Paris am 9. Januar durchgeführt werden sollen. Die Aktion, die jedes Jahr zentral in ganz Europa am Ort des Massakers in Paris durchgeführt wurde, wird in diesem Jahr aufgrund der Pandemie in Form von dezentralen Demonstrationen und Kundgebungen stattfinden, an denen Tausende von Menschen teilnehmen werden. Am Mittwoch, dem 6. Januar, werden schwarze Kränze vor französischen Konsulaten niedergelegt werden. Jeden Mittwoch werden unsere Räte an ihren Orten Informationsstände aufstellen.

Im Januar und Februar werden Veranstaltungen und Kurse stattfinden, um sowohl ein juristisches Netzwerk, aber auch ein Netzwerk von Frauenbewegungen und Institutionen zum gemeinsamen Kampf, aufzubauen. Das soll in Zentren wie zum Beispiel Universitäten unter anderem in offenen Diskussionsrunden stattfinden.

Im März werden dann die Ergebnisse dieser Diskussionskreise auf einem europaweiten Symposium zusammengetragen werden. Dort sollen praktische Schritte zum gemeinsamen Kampf diskutiert werden. Wir sehen weitere juristische Schritte zur Verurteilung des Diktators vor.