„Damit wir frei, gleich, fair, in gegenseitigem Vertrauen und ökologischem Gleichgewicht leben können, ist die Forderung nach Rechenschaft genauso unverzichtbar wie ein ununterbrochener Widerstand von Frauen wie der freien Gesellschaft gegen sexistische, kapitalistische Ausbeutung nötig; und dies von Kurdistan bis Chile, von Polen bis Sudan, von den Vereinigten Staaten bis zum Iran, von Indien bis Europa, der Türkei, kurz ein Widerstand von Frauen und den freien Gesellschaften auf der ganzen Welt, damit wir es schaffen, die Unterdrückung, die Vergewaltigungen, die Morde an Frauen, das Ignorieren und Verletzen von Rechten und Belästigungen wirklich zu beenden.” Mit diesen Worten kündigt die Kurdische Frauenbewegung in Europa (Tevgera Jinên Kurd li Ewropayê, TJK-E) an, zum internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen am 25. November eine neue Kampagne einzuleiten: „100 Gründe, um den Diktator zu verurteilen”. Die Initiative zielt auf die internationale Anerkennung von Feminizid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Aburteilung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor dem Strafgerichtshof. Zu der aktuellen Kampagne sprach der Kurdistan Report mit den Mitarbeiterinnen des Kurdischen Frauenbüros für Frieden Cenî e.V., Berfin Gözen und Yvonne Heine.
Die Kurdische Frauenbewegung in Europa (Tevgera Jinên Kurd li Ewropayê, TJK-E) hat zum internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen am 25. November 2020 eine neue Kampagne eingeleitet unter dem Titel „100 Gründe, um den Diktator zu verurteilen”. Warum habt ihr euch als Cenî für solch eine Kampagne entschieden und was sind eure Ziele?
Das Kurdische Frauenbüro für Frieden Cenî e.V. wurde im Mai 1999 von in Europa lebenden kurdischen und türkischen Frauen mit dem Ziel gegründet, die internationale Solidarität von Frauen für Friedensprozesse in Kurdistan und weltweit zu stärken. Friedensengagement bedeutet für uns nicht nur, uns gegen Kriege und jede Form von Unterdrückung zu stellen. Vielmehr ist der Einsatz für eine freie und ökologische Gesellschaft, die auf sozialer Gerechtigkeit beruht und eine Alternative zum patriarchalen Herrschaftssystem darstellt, ein wesentlicher Bestandteil unserer Friedensarbeit.
Mit dieser Zielsetzung führt Cenî Kampagnen gegen Gewalt im Namen der „Ehre” und andere Formen des Feminizids durch. Wir veranstalten die jährlichen Zîlan-Frauen-Festivals, initiieren Veranstaltungen, Projekte und Aktionen sowie Delegationsreisen nach Kurdistan. Ein weiterer wichtiger Arbeitsbereich ist die Solidarität mit Frauen, denen durch Krieg, Folter, Vertreibung, politische Verfolgung, rassistische und geschlechtsspezifische Unterdrückung Leid zugefügt wurde. Durch unsere Publikationen wollen wir die Stimmen und Forderungen von Frauen für einen gerechten Frieden in die Öffentlichkeit tragen, verschiedene Organisationsansätze und Arbeiten von Frauenbewegungen vorstellen und die internationale Vernetzung von Frauenorganisationen stärken. Deswegen war es für uns eine Selbstverständlichkeit, an dieser Kampagne teilzunehmen.
Solidarität ist für uns ein wichtiger Bestandteil unseres politischen Selbstverständnisses. Das bedeutet nicht nur, an der Seite von Betroffenen zu stehen, sondern vielmehr für diejenigen einzustehen, die es für sich selber nicht mehr können oder dürfen. Das Jahr 2020 war gekennzeichnet von politischen Festnahmen in der Türkei. Die AKP-Regierung hat gezielt versucht mit den Festnahmen von Frauen, die starken Stimmen einer anti-patriarchalen Politik mundtot zu machen. Frauen wurden unter anderem zu 3 Jahren Haft verurteilt, weil sie am 8. März, dem Weltfrauentag auf der Straße waren und sich für ihre Rechte stark gemacht haben. Das ist ein Zustand, den wir nicht dulden wollen und können! Wir wollen Signale setzen und uns solidarisieren mit diesen Frauen, denen das Recht auf Meinungsäußerung genommen wird. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass eine solche frauenfeindliche Politik eine Gefahr für die ganze Gesellschaft darstellt. Wir in Europa müssen unsere Stellung und Position nutzen, um diese Frauen erneut zu stärken, ihnen zu zeigen, dass wir hinter und auch vor ihnen stehen. Das verstehen wir unter einem gemeinsamen internationalen Kampf.
Die kurdische Frauenbewegung fordert seit längerem von der UNO, die systematische Ermordung von Frauen als Feminizid zu definieren und als eigene Kategorie im internationalen Recht aufzunehmen, wie es nun auch diese Kampagne fordert. Warum nimmt dies eine so zentrale Stellung im Frauenkampf ein, und was wäre mit einer Aufnahme von Feminizid in internationales Recht erreicht?
Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. Die Symptome zeigen sich überall auf der Welt auf unterschiedliche Weise, haben aber ein gemeinsames Ziel: die Unterdrückung der Frau. Die Diskriminierung der Frau ist institutionell und gesellschaftlich eingebettet und somit rund um die Uhr eine Bedrohung und Gefahr für alle nicht der Geschlechterordnung entsprechenden Identitäten. Das, was wir als Feminizid bezeichnen ist ein Resultat einer solchen patriarchalen Ordnung: die systematische Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Solange wir diesen Zustand nicht ernst nehmen und den Begriff des Feminizids nicht anerkennen, leugnen wir diese Realität von Menschen innerhalb unserer Gesellschaft und gewährleisten, dass diese menschenverachtenden Zustände weiterhin anhalten. Was wir anhand der 100 Gründe, die die Kampagne zum Beispiel aufzeigt ganz deutlich erkennen. Wir müssen hier fast sagen, dass wir NUR 100 Frauen aufgezählt haben, es gibt leider unendlich viele, nicht nur in der Türkei, sondern überall. Wir haben auch hier mit Kampagnen und Veranstaltungen auf Feminizide in Deutschland aufmerksam gemacht. Sie müssen sich vorstellen: Wir leugnen patriarchale Morde an Frauen, nennen es Familiendrama, Unglück oder sonst was, um damit vom eigentlichen Problem abzulenken. Was ist ein Familiendrama oder ein Unglück, ein Unfall? Nichts weiteres als individuelle Schicksale und persönliche Probleme. Die Ursache liegt dann nicht in der Gesellschaft oder gesellschaftlichen, politischen Strukturen und Institutionen. So können wir allerdings diese Zustände nicht beheben. Mit dem Begriff „Feminizid” gestehen wir uns endlich ein, dass es mehr als nur individuelle Schicksale sind und übernehmen als Gesellschaft Verantwortung für eine Lösung dieser Situation, die sich weltweit nicht groß unterscheidet.
Als kurdische Frauenbewegung sagen wir, die Frau war die erste Kolonie. Damit bringen wir zum Ausdruck, dass auch die heutigen Unterdrückungsmechanismen auf der Versklavung der Frau basieren. Wenn wir uns die Geschichte anschauen, dann wissen wir, dass diese Versklavung mit unbeschreiblicher Gewalt durchgesetzt wurde und bis heute anhält. Der Krieg gegen Frauen ist die Basis der heutigen Herrschaftsverhältnisse. Nur ist er so weit verschleiert und unsichtbar gemacht worden, dass wir sein Ausmaß nicht einmal mehr erkennen. Zum Beispiel ist Genozid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im internationalen Recht anerkannt, Feminizid aber nicht. Wir sehen da einen Widerspruch, da wir wissen, dass Genozide nur über Feminizide ausgeführt werden können! Wenn wir uns den Genozid und Feminizid in Şengal vor Augen führen sehen wir ganz deutlich, dass der Krieg gegen Frauen eine Methode und systematisch ist, um eine Gesellschaft auszulöschen. In Şengal wurden ganz gezielt êzîdische Frauen versklavt, vergewaltigt und ermordet, insbesondere auch um über den direkten physischen Angriff hinaus die Zerstörung und Traumatisierung der Gesellschaft fortzuführen. Im Krieg zeigt das Patriarchat sein wahres Gesicht ganz unverschleiert, und wir sollten nie vergessen, dass die heutigen Nationalstaaten auf diesem Grund gebaut sind.
Ihr bezeichnet Erdoğan, den türkischen Staatspräsidenten, als Haupttäter der Feminizide. Warum?
Wie wir gerade schon beschrieben haben, liegen die Wurzeln von Feminizid im patriarchalen System. Erdoğan verfolgt mit seiner Politik genau ein solches System, bewusst, gezielt und absolut geplant. In einem Gedicht von Erdoğan heißt es zum Beispiel: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Minarette sind unsere Bajonette … die Moscheen sind unsere Kasernen”. Am 8. März 2008 erklärte er öffentlich: »Der Feminismus hat aus ethischer und sozialer Sicht negative Folgen. Sobald eine Frau der feministischen Bewegung verfällt, erklärt sie mit der Idee der bedingungslosen Freiheit viele Regeln und Werte, die für die Familie unverzichtbar sind, für nichtig.«
Die Zitate sprechen für sich und spiegeln den Charakter seiner Politik und seiner Partei wieder. Wer eine solche Linie verfolgt und in die Praxis umsetzt, vergiftet bewusst die Gesellschaft und fördert Frauenfeindlichkeit. Je mehr die AKP ihre Macht innerhalb des Staates ausweitete, um so mehr entpuppte sie sich als eine autokratisch-diktatorische Partei, die auf allen Ebenen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, vor allem gegen Frauen. Somit hinterlässt Erdoğan bei jedem Feminizid seinen Fingerabdruck. Wir wollen das Problem an der Wurzel packen und nicht oberflächlich ankratzen, deswegen muss er verurteilt werden. Wir müssen uns klar vor Augen führen, dass die Verurteilung Erdoğans nicht nur der Moment des Sieges der Gerechtigkeit ist, sondern auch viele Menschenleben rettet.
Wie ist eure Kampagne konkret gestaltet und wie kann eine Unterstützung dafür aussehen?
Die Kampagne ist unser aller Kampagne! Lange haben wir diese Zustände verfolgt, haben uns wie viele andere Menschen auch, Gedanken dazu gemacht, was wir tun können, um endlich diese gezielte Kriegsgewalt und die Angriffe auf die Menschheit zu stoppen. Wir haben uns viel den Kopf darüber zerbrochen wie wir gerade hier in Europa, aber auch weltweit eine Sensibilisierung für die Zustände in Kurdistan schaffen und die immer wieder auf- und abebbende Empörung in konkrete Handlungsmacht umwandeln können. Diese Kampagne trifft den Kern und die Ursache. Ein Erfolg dieser Kampagne bedeutet gleichzeitig auch ein Erfolg für betroffene Menschen, die sich eben nicht wehren können bzw. deren Mittel und Methoden eingeschränkt sind aufgrund ihrer Lebenssituation. Ein Erfolg dieser Kampagne bedeutet, dass wir weltweit endlich Signale setzen gegen Diktatoren, patriarchale Verhältnisse und somit auch gegen Krieg. Ein Erfolg dieser Kampagne bedeutet, insgesamt einen riesengroßen Schritt in Richtung einer friedlichen und gemeinschaftlichen Zukunft zu machen.
Die Unterschriften sind wichtig, damit wir zusammen den nächsten Schritt machen und auf institutioneller Ebene etwas erreichen können. Aber es reicht nicht, einfach nur selber zu unterschreiben. Wir wünschen uns, dass alle solidarischen Menschen ihr Umfeld auf diese Kampagne aufmerksam machen und mit dem Aufmerksam-machen auf diese Kampagne eine Sensibilität für Kriegszustände weltweit wecken. Also nicht nur selber zu unterschreiben, sondern Freund*innen, Familie, Arbeitskolleg*innen usw. mitzuziehen und eine kollektive Kampagne daraus zu machen. Wir freuen uns auf Aktionen, Veranstaltungen und Austausch. Auf unserer Kampagnenseite sind Materialien wie Plakate, Infomationsdossiers und weitere spannende Sachen rund um dieses Thema. Gerne könnt ihr uns auch anschreiben, euch Informationen holen, mit uns gemeinsam Aktionen und Veranstaltungen planen. Es ist UNSERE Kampagne im Sinne von, dass wir alle ein Teil davon sind und werden können.
Das Interview mit den Mitarbeiterinnen des Kurdischen Frauenbüros für Frieden Cenî e.V., Berfin Gözen und Yvonne Heine ist im Original in der Ausgabe 213 für Januar/Februar 2021 des zweimonatlich erscheinenden Kurdistan Report erschienen.