„Sollen alle Frauen ohne Männer leben?“

Seit etwa einem Monat befindet sich eine Delegation der Kampagne „Gemeinsam kämpfen“ in Rojava. Die Delegation konnte auch das Frauendorf Jinwar besuchen und traf auf die Internationalistin Nûjin.

Jinwar ist ein ökologisches Frauendorf, das in der Nähe der Kleinstadt Dirbesiyê entstanden ist. Inmitten des syrischen Bürgerkriegs verfolgt Jinwar das Ziel, einen alternativen, friedlichen Ort für Frauen zu schaffen, an welchem sie frei von jeglicher Gewalt zusammen leben können. Das Dorf wurde auf dem Prinzip der Selbstversorgung gegründet, um Frauen die Möglichkeit zu geben, für ihre eigenen Grundbedürfnisse aufzukommen. Von Frauen für Frauen aufgebaut, soll das Dorf in Nordsyrien Frauen aller Kulturen und Religionen sowie ihren Kindern ein Zuhause bieten.

Es ist eines der vielen Projekte, die durch Erdoğans Angriffskrieg bedroht sind. Eine der Frauen, die von Anfang an am Aufbau von Jinwar beteiligt waren, ist die Internationalistin Nûjin, die seit zwei Jahren in Rojava ist.

In Jinwar hatten wir die Gelegenheit sie zu fragen, wie sie Teil des Projektes geworden ist, welche Schritte nötig waren, um es aufzubauen, und wie die Frauen in Jinwar angekommen sind. Hier die Antworten auf unsere Fragen:

„Für mich war schon lange klar, dass in unseren Gesellschaften irgendetwas falsch läuft, dass es Ungerechtigkeit gibt. Ich fand es sehr schwer auszuhalten und habe mich dann auf die Suche nach einem anderen Leben gemacht. In der kurdischen Bewegung hat mich am meisten beeindruckt, wie der Umgang miteinander ist, zum Beispiel sich direkt zu kritisieren, ehrlich in den Prozess der Veränderung hineinzugehen. Hier gibt es einen Glauben an Veränderung, eine philosophische Grundlage, die vielleicht mit anderen Begriffen zum Ausdruck gebracht wird, als wir sie gewohnt sind.

Ein historischer Moment für die ganze Welt

Als ich von der Idee des Frauendorfes gehört habe, war ich fasziniert. Auch in Deutschland haben wir schon viel versucht, wurden aber immer wieder auf dieselben Fehler zurückgeworfen. Wir haben nicht den Schritt in eine nachhaltige Praxis geschafft, keine Schritte unternommen, die über unsere Denkgebäude und Alltagspolitik hinausgehen. Schon länger hatte ich darüber nachgedacht, eine Zeitlang nach Rojava zu gehen. Hier wird trotz aller Widersprüche so viel verwirklicht, verbunden mit großer gesellschaftlicher Kraft. Es ist ein historischer Moment für die ganze Welt. Als ich hierhergekommen bin, war ich zunächst im Kunst- und Kulturbereich aktiv. Ich habe immer wieder gefragt, ob es möglich ist, an dem Jinwar-Projekt mitzuarbeiten, aber es war noch gar nicht gestartet worden.

„Ich wollte nur ein paar Monate bleiben“

Im Mai 2017 konnte ich dann kommen. Mit einer anderen Freundin zusammen habe ich überlegt, ein paar Monate hierzubleiben und dann die Erfahrungen von hier wieder woanders einbringen zu können. Es war dann so, dass ich jeden Tag etwas Neues gelernt habe und unglaublich beeindruckt von den Frauen war. So bin ich hiergeblieben. Je tiefer man sich hier hineinbegibt, je enger die Verbindungen mit den anderen Frauen werden, je öfter man auf die eigenen Fehler und ‚Verkorkstheiten‘ zurückgeworfen wird und je mehr man sich im Leben und Arbeiten gemeinsam verändert, desto mehr lernt man auch. Es ist ein gemeinsamer Kampf, den wir führen, wo auch immer wir leben oder aufgewachsen sind.

Wenn man fragt, wie die Idee von Jinwar entstanden ist, hört man viele verschiedene Geschichten. Viele Frauen hatten viele Jahre lang den Traum, einen Ort aufbauen zu können, an dem Frauen selbstbestimmt und kollektiv zusammen leben können. Eine weitere wichtige Inspirationsquelle ist auf jeden Fall Abdullah Öcalan, der in seinen Schriften eine Frauenstadt ‚Starkent‘ vorgeschlagen hat. [türkisch Kent-Stadt, Star von der Göttin Ishtar] Es gab lange Diskussionen, wo ein solches Projekt verwirklicht werden kann. Die Revolution von Rojava hat eine ganz neue Basis eröffnet. Es wurde ein Komitee gegründet, in dem Institutionen und Einzelpersonen vertreten waren, zum Beispiel die Frauenbewegung Kongreya Star, Jineolojî, die Stiftung der Freien Frauen, die Vertretung der Familien Gefallener. Es fanden 21 Planungstreffen statt.

Offenheit und Skepsis zugleich

Die Frauen, die hier Ende 2016 die ersten Schritte gemacht haben, sind gleich in die umliegenden Dörfer gegangen, haben von der Idee erzählt und die Menschen nach ihren Perspektiven gefragt. Dort gab es viel Offenheit, aber auch Skepsis, denn viele konnten sich nicht vorstellen, dass ein solches Projekt funktioniert, aber dann sind viele Menschen aus den Dörfern hergekommen, um den Aufbau zu unterstützen. Sie haben ihr Wissen eingebracht und mitgeholfen, zum Beispiel im Garten. Die Frauen von Jinwar konnten im Gegenzug auch dabei helfen, Probleme in den Dörfern zu lösen. Das Vertrauen ist sehr schnell gewachsen, das hat man auch bei unserer Eröffnungsfeier am 25. November gesehen. Es sind sehr viele Menschen aus den Nachbardörfern gekommen.

Es gab ein Aufbaukomitee mit verschiedenen Verantwortlichkeiten, zum Beispiel eine Verantwortliche für den Bau, für Dokumentation, für den Garten, für die Gemeinschaftsküche. Am 10. März 2017 wurden die ersten Fundamente gegossen. Immer wieder kamen große Gruppen, zum Beispiel aus Akademien, um hier für einen Tag zu helfen, denn sie sind durch die gemeinsame Utopie mit dem Projekt verbunden.

Zwei Jahre Bauzeit

Es gab auch bezahlte Arbeit hier, sonst hätten Jinwar nicht mit einer solchen Geschwindigkeit aufgebaut werden können. Darüber gab es natürlich Diskussionen, aber es musste erst mal eine Grundlage geschaffen werden, das war schon eine realistische Entscheidung. Die Bauarbeiten dauerten knapp zwei Jahre. Natürlich kommen mit jeder Frau, die hierherkommt, auch neue Ideen, die umgesetzt werden. Bisher gibt es 30 Wohnhäuser mit jeweils zwei bis fünf Zimmern, eine Schule, die Jinwar-Akademie, eine Bäckerei, einen Laden, das Gesundheitszentrum und die Gemeinschaftsküche. Der Dorfladen wird als Kooperative organisiert. Abgesehen davon hat Jinwar auch noch Schafe, Hühner, einen großen Stall für die Tiere und ein Wasserbecken gebaut, das auch als Schwimmbad dienen kann. Das Land ist ehemaliges Regimeland, es gibt genug Land, so dass die Frauen sich selbst versorgen können.

Respektvoll und kommunal

Natürlich gab es auch viele Fragen. Zum Beispiel wurden wir gefragt, ob wir wollen, dass alle Frauen ohne Männer leben. Das Ziel ist nicht, dass alle Frauen so leben sollen, aber für einige ist das der logische Schritt. Zum Beispiel für Frauen, deren Ehemänner gefallen sind, das haben dann auch konservative Menschen verstanden. Das Schöne an Jinwar ist ja, dass hier unterschiedliche Frauen zusammenkommen und kommunale Lebensformen weiterentwickelt werden, die dann auch wieder andere Teile der Gesellschaft inspirieren können. Nicht als Insel, sondern immer im Austausch, als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Was die Menschen dann am allermeisten überzeugt hat, war die ganze Atmosphäre hier. Sie ist respektvoll und kommunal. Viele, die am Anfang skeptisch waren, wollten später gar nicht mehr weg.

Schritt für Schritt wurde auch eine gemeinsame Grundlage entwickelt und der Dorfrat aufgebaut. Es musste eine gemeinsame Form gefunden werden, das kollektive Leben und Arbeiten zu organisieren. Es wurden Seminare zum Thema Jineolojî durchgeführt, nicht als abstrakt vermittelte Ideenwelt, sondern auf der Grundlage der Gemeinsamkeit von Theorie und Praxis. Oft geht es dabei um sehr Dorf-nahe Themen wie beispielsweise die Weitergabe von Wissen über Naturmedizin.

Von Anfang an sind auch Frauen von feministischen Bewegungen aus aller Welt hierhergekommen. Es gab gemeinsame Diskussionen und viele haben Inspiration von hier mitgenommen. Dieses Dorf kann ein Modell sein, aktuell diskutiert die Frauenbewegung tatsächlich schon über ein weiteres Dorf bei Kobanê.“