Die Rechtsanwaltskammer Istanbul hat der Juristin Eren Keskin eine Rüge erteilt. Hintergrund ist ein Schuldspruch gegen die 61-Jährige aus dem Jahr 2017 wegen Präsidentenbeleidigung. Mit der Rüge wolle die Kammer fast vier Jahre später den vermeintlichen Verstoß der Juristin, die zugleich Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist, gegen ihre anwaltlichen Berufspflichten ahnden. Die Anzeige hatte das Rechtsbüro des Generalsekretariats im Präsidialamt erstattet. Der Kammervorstand begründete die Rüge damit, dass die von der ordentlichen Gerichtsbarkeit verhängte Strafe nicht ausgereicht habe, die Verletzung des Ansehens eines Anwalts zu ahnden.
Eren Keskin kritisierte die Schikane als Schlag gegen die Meinungsfreiheit. Die Menschenrechtsanwältin und Trägerin des Aachener Friedenspreises gehört zu den Lieblingszielscheiben des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP). Gegen sie laufen derzeit mehr als 140 separate Strafverfahren wegen Artikeln, die sie als symbolische Chefredakteurin der inzwischen verbotenen pro-kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlichte. Im Oktober 2019 wurde ihr Haus durchsucht und sie wurde von Beamten der Anti-Terror-Abteilung der Generaldirektion für Sicherheit – die Zentralbehörde der türkischen Polizei – in Istanbul vernommen, weil sie in sozialen Medien Beiträge mit Kritik an der Invasion des ehemals selbstverwalteten Kantons Efrîn in Nordsyrien geteilt hatte.
In einzelnen der „Özgür Gündem“-Verfahren sind bereits in erster Instanz Urteile gegen Eren Keskin ergangen. Die dabei verhängten Strafen beliefen sich bis 2020 auf insgesamt siebzehn Jahre und zwei Monate Haft sowie Geldstrafen im höheren fünfstelligen Bereich. Keskin setzt sich seit Jahrzehnten unbeirrt für Menschenrechte in der Türkei ein. So unterstützt sie beispielsweise Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, sowie Angehörige von Minderheiten und erhebt ihre Stimme immer wieder für die Meinungsfreiheit. 1997 gründete sie in Istanbul das Projekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden“. Ihr Engagement brachte ihr vorübergehend ein Berufsverbot und mehrere Morddrohungen ein, unter anderem von der ultranationalistischen „Türkischen Rachebrigade“ (TİT). 1999 war Eren Keskin eine der ersten zwölf Anwält*innen, die den PKK-Gründer Abdullah Öcalan nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei vertreten haben.