Offener Brief von Frauen an Angela Merkel

Elf Frauenorganisationen fordern in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, die universellen Menschenrechte und demokratische Werte beim Staatsempfang des türkischen Präsidenten Erdoğan zu achten.

Mit einem gemeinsamen offenen Brief an die Bundeskanzlerin haben sich elf Frauenorganisationen aus Deutschland in die Debatte um den dreitägigen Deutschland-Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eingemischt.

Der offene Brief lautet:

„An Frau Bundeskanzlerin Merkel und die Bundesregierung!

Trotz der ernsthaften öffentlichen Kritik, wütenden Reaktionen und tiefer Sorge der BürgerInnen werden Sie den Präsidenten der Republik Türkei mit seinen Regierungsvertretern am 27. September 2018 in Berlin empfangen. Sie behaupten, dass Sie die Demokratie, die Menschenrechte und die Gerechtigkeit verteidigen, aber Sie werden ein Staatsoberhaupt eines diktatorischen Regimes mit einer diplomatischen Zeremonie auf höchster Ebene empfangen. Mit Ihrer Einladung legitimieren Sie das Vorgehen eines Staates, der jede mögliche menschenverachtende Maßnahme anwendet, damit sein Volk ein faschistisches System akzeptiert, in dem vor allem ethnische und religiöse Minderheiten verfolgt und unterdrückt werden.

Als Teil der deutschen Öffentlichkeit, die die demokratischen Rechte verteidigt, möchten wir als Frauen unser Recht, Ihnen und der Bundesregierung einige Fragen zu stellen, in Anspruch nehmen. Es ist noch nicht lange her, dass in Europa die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlebt wurde. Sie selbst wissen am besten, wie sehr die Bevölkerung in Europa unter dem Grauen des Zweiten Weltkrieges leiden musste und wie diese Geschehnisse bis heute nachwirken. Nun erlebt die Bevölkerung im Nahen und Mittleren Osten, vor allem in Syrien, die Tragödie und das Trauma des Dritten Weltkrieges, in dem hegemoniale und regionale Mächte einen Stellvertreterkrieg führen. Diese Tragödie aufzuhalten, ist die Aufgabe und Verantwortung von Politikerinnen wie Ihnen. Wir Frauen müssen Sie nicht daran erinnern, welche Politik Erdoğan gegenüber Frauen betreibt, aber uns interessiert, welche Haltung Sie gegenüber dem Präsidenten der Türkei einnehmen werden, wenn Sie vorgeben, Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. In Form dieses offenen Briefes möchten wir unsere Fragen stellen und Sie zur Verantwortung ziehen.

Werden Sie zulassen, dass Erdoğan und seine Regierung, die den IS, al-Nusra und andere islamistische Banden unterstützen, Kinder, Frauen und Männer in Afrin und Syrien massakrieren? Sie wissen, dass dies eine der Hauptursachen für die Flucht der Menschen aus Syrien in den vergangenen Jahren war. Erdoğan benutzt die Situation der Flüchtlinge als Druckmittel. Werden Sie ihm diese Möglichkeit der Erpressung geben, obwohl er mit seiner Kriegstreiberei selbst für die Krise verantwortlich ist? Oder werden Sie fordern, dass die Türkei von der Besatzungspolitik in Afrin und Syrien und der feindlichen Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung absieht, weil Sie wissen, dass eine Lösung der Flüchtlingsproblematik nur durch ein normalisiertes Syrien möglich ist?

Von den sechs Milliarden Euro des Flüchtlingsdeals verteilen die Vertreter der AKP-Regierung in den Flüchtlingslagern gerade einmal die allernötigsten Lebensmittel. Im Gegenzug für ein Paket Milch müssen Frauen sich prostituieren. Geflüchtete Frauen werden vergewaltigt. Kinder werden als billige Arbeitskraft missbraucht und zum Betteln gezwungen. Junge Mädchen werden über organisierte Netzwerke als Zweit- oder Drittfrau an alte Männer verheiratet. Werden Sie Erdoğan und seine Regierungsvertreter damit konfrontieren? Werden Sie ihn fragen, wo das Geld für die Versorgung von Flüchtlingen geblieben ist? Oder werden Sie zugunsten Ihrer Wirtschaftsinteressen wieder die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen in den Flüchtlingslagern verschließen? Werden Sie wirklich Ihre Werte von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte für ein bisschen Geld und die Interessen von Waffenbaronen aufopfern?

Erdoğan bekämpft gegenwärtig die elementarsten Werte der Menschheitsgeschichte. Ihr Treffen mit Erdoğan bedeutet die Zustimmung zu seinem Krieg gegen Frauen, die eigene Bevölkerung sowie seine militärischen Operationen in Syrien und Irak. Auch die Waffen, die Ihre Regierung verkauft hat, werden in den völkerrechtswidrigen Kriegen und gegen die Bevölkerung in der Türkei eingesetzt! 

Mit der Einführung des Präsidialsystems durch die Wahl vom 24. Juni 2018 wurde der Ausnahmezustand zum Normalzustand und die Europäische Menschenrechtskonvention für die Türkei außer Kraft gesetzt. Immer wieder kommt es zu willkürlichen Festnahmen von oppositionellen PolitikerInnen, AkademikerInnen, JournalistInnen und jungen Menschen, welche sich gegen Erdoğans Unterdrückungspolitik positionieren. Friedliche Proteste wie die der „Samstagsmütter“, die wegen ihrer verschwundenen Kinder und Verwandten auf die Straße gehen, werden verboten. Werden Sie Erdoğan an die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit erinnern, im Angesicht der Grausamkeit, der Folter und der Rechtlosigkeit in den Gefängnissen und im Justizsystem? Alle, die mit der Politik Erdoğans nicht einverstanden sind und sich für die demokratischen Rechte und das Recht zu Leben einsetzen, werden von Erdoğan aufgefordert, das Land zu verlassen. Werden Sie ein solches Politikverständnis akzeptieren?

Oder können Sie diese Punkte nicht ansprechen, weil sie mit den neuen Polizeigesetzen und der Kriminalisierung politisch aktiver KurdInnen und ihrer FreundInnen ebenfalls die demokratischen Rechte beschneiden? Werden Sie weiterhin akzeptieren, dass Erdoğan seinen Feldzug gegen eine demokratische Organisierung der Gesellschaft im Mittleren Osten sowie gegen die Rechte der Opposition mit den Mitteln eines ausländischen Geheimdienstes auch in Ihrem Land fortführt?

Erdoğan spricht Frauen grundsätzliche Rechte ab: er behauptet, die Gleichheit von Frauen und Männern sei gegen die menschliche Natur; er meint die Frau existiere nur innerhalb der Familie; er ermahnt alle Frauen mindestens drei Kinder zu bekommen; er lässt erklären, Frauen hätten auf der Straße nicht zu lachen; er möchte die Verheiratung von vergewaltigten 12-14-jährigen Mädchen mit ihren Vergewaltigern gesetzlich regeln. Seit dem Machtantritt der AKP nimmt die Gewalt gegen Frauen laut allen Statistiken stetig zu, inzwischen werden monatlich über 30 Frauen ermordet. Parallel dazu ist die Zahl des sexuellen Missbrauchs und der Prostitution horrend gestiegen. Skandale über Kindesmissbrauch an staatlich-religiösen Schulen häufen sich. Werden Sie mit Erdoğan und seiner Delegation über das Recht der Frauen auf ein gleichberechtigtes und unversehrtes Leben sprechen?

Frau Merkel, wir erwarten, dass die europäischen PolitikerInnen und vor allem die deutsche Bundesregierung aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs lernen und entsprechend handeln. Denn sie entscheiden mit ihrer Politik über das Schicksal der Menschen im Mittleren Osten. Das Recht darauf, sein Leben frei und selbstbestimmt zu leben, darf sich nicht auf die Menschen in Europa und den USA beschränken; das Sterben, die Armut, und die politische und soziale Willkür dürfen nicht das Schicksal der Menschen im Mittleren Osten bestimmen.

Die Beziehungen zwischen zwei Ländern und die Beauftragten für diese Beziehungen werden in dem Maße von der Bevölkerung angenommen und respektiert, wie sie die internationalen Menschenrechte beachten und für humanistische Werte einstehen. Das Gegenteil ist der Fall, wenn sie sich durch Ihre Geldpolitik und Waffenexporte für die schmutzigen Kriege dieser Welt mitverantwortlich machen. Wir als Frauen fordern, dass Sie und Ihre Regierung die universellen Menschenrechte und die demokratischen Werte achten, während Sie sich mit Erdoğan und seinen Regierungsvertretern treffen!

Wir rufen alle Menschen, die diese Forderungen teilen, dazu auf, am 26. und 28. September in Berlin und am 29. September in Köln mit lauter Stimme den Freiheitskampf der Frauen und den Kampf für Demokratie und Freiheit zu verstärken und zu verteidigen!

Darüber hinaus möchten wir an Eines erinnern: die Regierungen, PräsidentInnen und KanzlerInnen werden von BürgerInnen nur so lange gewählt, wie diese Respekt vor den Wünschen und Forderungen ihrer MitbürgerInnen haben. Wir als Frauen- und Menschenrechte verteidigende Bürgerinnen erwarten eine Antwort auf unsere Fragen und die Umsetzung unserer Forderungen!“

Der Brief ist unterzeichnet von Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden, YJK-E - Verband der Frauen aus Kurdistan in Deutschland, DAKB - Bund der Alevitischen Frauen, SMJÊ - Dachverband des Ezidischen Frauenrats, Fraueninitiative für einen demokratischen Islam, Union der Frauen aus Rojava in Europa, Freie junge Frauen, JXK – Studentinnen aus Kurdistan, Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg, Feministische Partei DIE FRAUEN und Gemeinsam Kämpfen – Feministische Kampagne für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie.