Die Ko-Vorsitzende des Zivilrats von Raqqa, Leyla Mustafa, ist bei der Wahl zum diesjährigen „World Mayor“ mit dem Jurypreis geehrt worden. Mit der Auszeichnung werden die Bemühungen der Kurdin um den Wiederaufbau Raqqas nach der Besetzung durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gewürdigt, gab die auslobende Stiftung „City Mayors” in der Nacht zu Dienstag in London bekannt. Die ersten beiden Plätze belegten Ahmed Aboutaleb (Rotterdam, Niederlande) und Philippe Rio (Grigny, Frankreich), die sich von nun an „Weltbürgermeister“ nennen dürfen.
Leyla Mustafa (auch Leila Mustapha) ist seit der Gründung des Zivilrats von Raqqa im April 2017 die weibliche Hälfte in der genderparitätisch besetzten Doppelspitze des Amtes. Die 1988 geborene Kurdin ist studierte Bauingenieurin, ein wesentliches Plus für den Wiederaufbau von Raqqa. Doch ohne den Kontext der Stadt zu beachten gelingt es nicht wirklich, Mustafas Leistungen tatsächlich zu begreifen, so die Stiftung City Mayors. Raqqa ist eine antike Stadt mit griechischer, römischer, byzantinischer, osmanischer, islamischer und katholischer Geschichte, und war von 2014 bis 2017 die Hauptstadt des selbstproklamierten IS-Kalifats. Die erste Zeit der Besetzung von Raqqa erlebte Mustafa mit eigenen Augen, denn es ist ihre Geburtsstadt: Steinigungen, Enthauptungen, Kreuzigungen, Amputationen. Die sah auch die Sklavenmärkte, auf denen aus Şengal verschleppte Ezidinnen verkauft wurden, und floh mit ihrer Familie nach Qamişlo. Aus der Ferne beobachtete sie den Abstieg von Raqqa in die Hölle.
Als am 17. Oktober 2017 die Befreiung von Raqqa verkündet wurde, lagen über 80 Prozent der Stadt in Trümmern. Die meisten Gebäude waren vom IS oder der Anti-IS-Koalition zu Schutt und Asche bombardiert worden, es gab de-facto keine Infrastruktur mehr, kein fließendes Wasser und auch keinen Strom. Die medizinische Versorgungssituation war prekär, die Aufräumarbeiten wurden von den vom IS hinterlassenen Sprengfallen erschwert. Doch seit Leyla Mustafa wieder in Raqqa ist, erblüht die Stadt langsam aber sicher in neuem Glanz. Das Museum von Raqqa, das einst das vielfältige kulturelle, religiöse und historische Erbe der Region repräsentierte, wurde wieder aufgebaut und als Symbol für die Wiedergeburt restauriert. Der ebenso symbolträchtige Al-Naim-Platz, der dem IS als öffentliche Hinrichtungsstätte diente, hat sich in ein florierendens Geschäftsviertel verwandelt. Es ist der Ort, an dem vor vier Jahren die an vorderster Front gegen den IS kämpfenden Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) ihre Erklärung zur Befreiung von Raqqa abgaben. Leyla Mustafa hat den Platz inzwischen in „Freiheitsplatz“ umbenannt. Es war eine ihrer ersten Amtshandlungen als Ko-Vorsitzende des Zivilrats.
„Wer hätte gewusst, dass diese Stadt, die bei ihrer Befreiung vollständig zerstört war, die unter der Barbarei von bösartigen Männern gelitten hatte, von einer jungen Frau regiert werden würde?” – Der Filmemacher Xavier de Lauzanne porträtiert mit seinem Dokumentarfilm „9 Days in Raqqa“, der derzeit in Frankreich läuft, einen Ausschnitt vom Leben Leyla Mustafas. Für das Werk begleitete der Regisseur eine Reise von Marine de Tilly, die zwischen 2019 und 2020 als Reporterin mehrmals nach Raqqa ging. Auf einem Treffen mit Leyla Mustafa entstand die Idee eines Buches über ihr Leben: „La femme, la vie, la liberté” – die zentrale Losung der kurdischen Frauenbewegung „Jin, Jiyan, Azadî” (Frau, Leben, Freiheit).
Auch die Strom- und Wasserversorgung wurde schrittweise wiederhergestellt, ebenso wird am Wiederaufbau von Krankenhäusern, lokalen Gesundheitszentren und Schulen gearbeitet. Alle Komponenten, die zur „Wiedergeburt von Raqqa” beitragen – Wohnhäuser, Märkte, Geschäfte und das Gemeindeleben werden wiederhergestellt, denn die Vertriebenen sind größtenteils in ihre Heimat zurückgekehrt und versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Es geht zwar nur langsam voran, da die von internationaler Seite mehrfach versprochene Wiederaufbauhilfe wenn überhaupt lediglich in geringem Maße vor Ort ankommt, es an Fachrkräften, Lehrpersonal, Gesundheitsbediensteten fehlt und Maschinen, Baugeräte und Material benötigt werden. „Doch Leila hat die Entschlossenheit und den Mut, sich von diesen großen Problemen, Hindernissen und Bedrohungen nicht unterkriegen zu lassen. Mit ihrer Energie und ihrem Engagement zeigt sie täglich, wie Menschen aus verschiedenen Schichten dieser Gesellschaft zusammenarbeiten können, sowohl auf der strategischen Ebene des Zivilrats als auch - und vielleicht noch wichtiger - an der Front des Wiederaufbaus”, schreibt die City Mayors Foundation über diese faszinierende Frau. Aber Leyla Mustafa hat neben dem Wiederaufbau noch eine andere Mission, die sie nicht aufgeben will: Demokratie und Versöhnung. Der IS konnte Raqqa auch deshalb drei Jahre lang beherrschen, weil es in der Bevölkerung Unterstützung gab.
Preis wird nicht von Jury ausgewählt
Hinter der City Mayors Foundation steht ein internationales Netzwerk aus Journalist:innen und Ökonom:innen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, im Internet „über gute Kommunalpolitik in den Städten unserer Welt aber auch über ihre Probleme zu berichten und das Engagement von Bürgermeister:innen hervorzuheben, die sich in besonderer Weise um ihre Stadt verdient gemacht haben”. Die Auszeichnung „World Mayor“ vergibt die Denkfabrik für städtische Angelegenheiten seit 2004 – zu Beginn jährlich und mittlerweile alle zwei Jahre. Die Bürgermeister:innen, die für den Preis in Frage kommen, werden aber nicht von einer Jury ausgewählt, sondern von Menschen aus Städten auf der ganzen Welt nominiert und unterstützt. Die Stiftung nimmt die Bewertung der Nominierungen und Stimmen vor. Die Regeln ermöglichen es so, auch Stadtoberhäuptern aus kleineren Orten und sogar Dörfern, mit denen aus großen Metropolen zu konkurrieren. Denn bei der Auswertung wird mehr Wert auf die Kraft und die Überzeugungen der Aussagen gelegt als auf die Anzahl der Stimmen. In diesem Jahr gab es insgesamt 81 Nominierte aus 21 Ländern weltweit.