Feyziye setzt ihre Erzählung fort: „Die vom IS kamen jeden Tag, um mit uns zu sprechen. Sie sagten, dass wir Muslima werden sollen. Wir antworteten nicht auf ihre Fragen und reagierten nicht, wenn sie mit uns sprechen wollten. Eines Tages kamen sie und brachten alle Frauen, die noch da waren, nach Kesen Meheb in Telafer. Dort blieben wir drei oder vier Monate. Sie brachten uns den Islam bei. Tag und Nacht bedrängten sie uns damit. Wir haben gar nichts gesagt. Den IS-Leuten gegenüber zu schweigen, war der einzige Weg, unseren Glauben zu bewahren.
Von Telafer wurden wir nach Mosul gebracht und nach einem Monat zurück nach Telafer. Unser Aufenthaltsort änderte sich ständig, nichts war auf Dauer. In Telafer wurden wir, eine Gruppe Frauen, vor einer Schafherde abgesetzt. Sie sagten: Ihr werdet euch um die Schafe kümmern, Milch, Joghurt und Käse machen und alles tun, was wir wollen.“
Wie lange können die Seele und der Körper einer Frau aushalten?
Feyziyes Stimme ist gebrochen, als sie uns ihre Geschichte erzählt. Sie spricht schnell und ohne Unterbrechung, als ob sie so schnell wie möglich fertig werden will. Ihre dunklen Haaren sind zurückgebunden, eine Strähne fällt ihr ins Gesicht. Mit den Händen hält sie ihre zitternden Finger fest. Ihr Gesicht ist wie gefroren, die Körpersprache ein Teil ihrer Geschichte. Am meisten redet sie mit den Händen. Ihre Augen zeugen weniger von Schmerz als von Hass und Wut. Uns sieht sie vertrauensvoll an.
„Es ist das erste Mal seit ich aus den Händen des IS befreit worden bin, dass ich rede. Zum ersten Mal erzähle ich laut, was ich erlebt habe“, sagt Feyziye. Sie spricht jedoch nur so laut, dass ich sie verstehen kann. Weiter soll ihre Stimme nicht reichen. Wir sitzen in einem gemütlichen Zimmer und sind trotzdem mittendrin in dem, was Feyziye widerfahren ist. Während sie alles noch einmal erlebt, höre ich ihr zu und versuche mich in ihre Lage zu versetzen, in die Lage von Tausenden ezidischen Frauen, die vom IS verschleppt wurden. Wie lange können die Seele und der Körper einer Frau eine solche Hölle aushalten? Während ihrer Schilderung befinden wir beide uns mitten in einer Hölle, die keiner anderen Hölle gleicht.
Von Şengal nach Raqqa
Aus Telafer werden Feyziye und die anderen ezidischen Frauen gruppenweise weggebracht. Feyziye erzählt weiter:
„Erst haben sie die Männer weggebracht, dann die Kinder über acht Jahren und zuletzt die Mädchen im Alter zwischen acht und zehn Jahren. Wir wussten nicht, wo sie hingebracht werden, aber alle wurden gruppenweise geholt. Wir Übriggebliebenen wurden in eine Schule in Heyli Xatira gebracht. Dort waren wir drei bis vier Tage. Morgens um acht Uhr wurden wir in Busse gesetzt. Wir fuhren an Şengal vorbei und waren am nächsten Morgen um sieben Uhr in Raqqa. Bei der Fahrt durch Şengal haben unsere Herzen gezittert. Überall in Şengal war der IS. Sie waren überall. Und Şengal war eine Ruine. Wir alle empfanden bei dem Anblick den gleichen Schmerz. Weil wir nicht miteinander reden durften, trösteten wir uns gegenseitig mit Blicken.
Ich kenne den Weg nach Raqqa nicht beim Namen, aber wenn ich heute an der gleichen Stelle in einen Bus steigen würde, könnte ich ihn beschreiben. Ich vergesse diese Straßen nie. In Raqqa wurden wir im Keller eines Hauses eingesperrt. Dort wurden wir zwanzig Tage festgehalten. Alles war verboten. Es waren sehr schwere Bedingungen, nicht nur emotional, sondern auch körperlich. Wir waren hungrig und müde. Irgendwann kamen sie und schrieben unsere Namen auf. Meine Kinder waren immer noch bei mir. Der IS hat es erlaubt, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter bei der Mutter bleiben. Ich habe es mehrmals miterlebt, wie anderen Frauen die Kinder weggenommen wurden, aber meine Kinder holten sie nicht. Die Kinder waren mein einziger Trost. Wenn der Schmerz zu groß wurde, habe ich mein Gesicht in meinen Kindern vergraben und geweint.
„Wir baten Tawûsê Melek um Vergebung“
Nach einer Weile wurden meine Kinder und ich mit anderen Frauen und Kindern nach Tedmur in das Haus eines Offiziers gebracht. Wir waren knapp dreißig Familien. In dem Haus wurde uns Religionsunterricht gegeben, wir wurden zum Fasten gezwungen. Wir alle waren Eziden. Wir hörten ihnen zu und taten so, als ob wir fasten würden. Aber wenn wir auf die Toilette gingen, tranken wir Wasser und baten Tawûsê Melek um Vergebung. Wir mussten fünf Mal am Tag beten. Wenn wir uns Köpfe senkten, beteten wir zu unserem eigenen Gott: Tawûsê Melek, vergib uns, wir werden dazu gezwungen. Eigentlich haben wir gar nichts wirklich gemacht, wir haben es nicht zugelassen, dass wir innerlich beschmutzt werden. Nach sieben Tagen in dem Haus kamen sie nach dem Abendessen an und sagten, dass sie uns wegbringen und wir uns fertig machen sollen.
„Ich wurde an einen Iraker verkauft“
Wir wurden in ein Haus gebracht, in dem sehr viele IS-Leute waren. Diesen Männern wurden wir einzeln vorgeführt. Wir wurden ihnen angeboten. Jeder IS-Mann suchte sich eine, zwei oder mehrere Frauen aus. Sie verkauften uns für Geld. Ein Mann aus Saudi-Arabien kaufte mich und zwei weitere Frauen. Er kaufte uns zu einem sehr günstigen Preis. Dieser Saudi nahm eine Frau für sich selbst und verkaufte mich und eine andere Frau für einen höheren Preis weiter. Mich verkaufte er an einen Iraker namens Yusuful Iraqi. Dieser irakische Mann hat mich etliche Male gefoltert und vergewaltigt. Ich habe alles getan, um mich aus seinen Händen zu befreien. Nur an den Tod habe ich nicht gedacht, weil meine Kinder bei mir waren und ich für sie weiterleben musste. Wenn ich in den Händen des Irakers schrie, flüchteten die Kinder wortlos in eine andere Ecke des Hauses.
Der IS-Mann wollte mir mein kleinstes Kind wegnehmen, um es meiner Familie zu verkaufen. Ich wehrte mich dagegen und er beharrte nicht weiter darauf. Ich war zwei Monate in Yusuful Iraqis Händen. Dann heiratete er eine IS-Frau und verkaufte mich an einen anderen IS-Mann.
„Verkaufe mich an meine Familie, dann hast du Geld“
Dieses Mal wurde ich an einen saudi-arabischen Mann verkauft. Der Saudi tat mir nichts. Ich blieb fünf Tage bei ihm. Er verkaufte mich an einen Mann aus Raqqa. Dieser IS-Mann behandelte mich sehr schlecht, er folterte und vergewaltigte mich jeden Tag. Es gibt nichts, was er mir nicht angetan hat in diesen 23 Tagen, die ich bei ihm war. Meine Kinder konnte ich nur sehr schwer vor ihm schützen. Ich hämmerte ihnen ein, dass sie sich unsichtbar machen sollen, wenn der Mann nach Hause kommt. Das Kleinste wiegte ich in den Schlaf.
Nach 23 Tagen verkaufte er mich an einen anderen, bei dem ich nicht lange blieb. Er behandelte mich nicht besonders schlecht, aber auch nicht besonders gut. Ich sagte ihm: Verkaufe mich und meine Kinder an meine Familie, dann hast du Geld. Und er sagte: Wie soll das gehen, wie erreichen wir deine Familie? - Als ich in die Hände des IS gefallen bin, habe ich die Telefonnummer meines Mannes in eine hölzerne Haarspange eingeritzt. Diese Haarspange habe ich niemals abgenommen. Ich gab dem IS-Mann die Nummer und sagte: Du kannst meine Familie über diese Nummer erreichen. Er rief an, aber meine Familie glaubte ihm natürlich nicht. Er sagte: Ich bin vom IS und habe eure Tochter. Keine Familie kann so etwas glauben. Die IS-Leute haben viele Familien betrogen und zu einer Stelle gelockt, wo sie dann verschleppt wurden. Meine Familie hatte von vielen ähnlichen Vorfällen gehört.
Dann wurde ich an einen anderen IS-Saudi verkauft, der sich Abu Shedschaha nannte. Er behandelte mich nicht besonders schlecht, auch meine Kinder nicht. Ich schlug auch ihm vor, mich an meine Familie zu verkaufen. Er willigte ein und übergab mich einem Muharib. Der Mann wurde als Muharib, also als Vermittler bezeichnet, und verkaufte ezidische Frauen und Kinder gegen ein Lösegeld an ihre Familien. Der Muharib brachte mich und meine Kinder in eine Wohnung und versteckte mich. Ich traute ihm nicht, denn die IS-Leute sagten niemals die Wahrheit.
Von Raqqa zurück nach Şengal
Der Muharib rief meine Familie an. Meine Familie glaubte ihm zuerst nicht. Dann machte der Muharib Fotos und Videos von mir und meinen Kindern und schickte sie an meine Familie. Das überzeugte sie. Der Muharib gab mir den Ausweis seiner Frau und ich musste einen Hijab überziehen. Es war das erste Mal, dass ich so etwas anzog. Beim IS trugen ezidische Frauen keine schwarze Verhüllung. Wir sollten ständig sichtbar sein, damit wir nicht fliehen können. In der schwarzen Verhüllung und mit dem Ausweis seiner Frau fuhren wir von Raqqa nach Amûdê und von dort aus in ein arabisches Dorf. Es gab keine Probleme auf der Fahrt. Der Muharib verständigte meine Familie: Kommt an die Grenze und holt eure Tochter und ihre Kinder ab. Am selben Tag wurde ich an die Grenze von Şengal gebracht und für ein Lösegeld meiner Familie übergeben.“
„Die ezidischen Frauen sollen über den IS richten“
Unsere lange Unterhaltung mit Feyziye neigt sich dem Ende zu. Sie erzählt uns ihre Geschichte vollständig und beim Erzählen schweifen immer wieder ihre Augen ab. Wir können die Spuren einer schmerzhaften Vergangenheit sehen. Feyziye hat in unserer Gegenwart nie geweint. Das deuten wir als Widerstand. Als sie mit ihrer Erzählung fertig ist, wirkt sie wie von einer Last befreit. In ihrem Gesicht kehrt Ruhe ein. Ihre Augen kehren aus der Ferne zu uns zurück. In ihrem Gesicht sehen wir das Dilemma sowohl dieser Welt als auch einer Welt, die nicht die ihre ist. Wir können ihr ansehen, was sich aufgestaut hat. Ihre Schreie zum Himmel, ihr Flehen sind jetzt am äußersten Rand einer Wut: Was Feyziye jetzt will, ist dass die Leute, die ihr das angetan haben, bestraft werden. Ihre wie ein glühendes Feuer nicht versiegende Wut konzentriert sich darauf, dass ihre Folterer und Vergewaltiger nicht davonkommen. Die Menschen, die in ihrem eigenen Dorf mit ihren Familien gelebt und gearbeitet und dabei keinem Lebewesen etwas angetan haben, die niemandem auch nur den geringsten Schaden zugefügt haben – was haben sie verbrochen, dass sie derartiges erleben mussten? Diese Frage lässt uns beide nicht los.
Ich frage Feyziye, was sie nach all dem von der Welt erwartet. Sie wiederholt immer wieder: „Ich will nur eine Sache: Die IS-Leute, denen ich und die anderen ezidischen Frauen verkauft wurden, sollen uns übergeben werden, den Ezidinnen. Die ezidischen Frauen sollen über sie richten. Ich werde nie vergessen, was sie mir und den anderen Frauen angetan haben. Ich bin tagelang gefesselt vergewaltigt worden und das haben sie mit allen ezidischen Frauen getan. Angesichts unserer Erlebnisse hat die Menschheit versagt.
Wir wollen, dass in Şengal endlich Ruhe einkehrt. Im ganzen Irak gibt es keine Stabilität, das macht uns Angst. Damit wird einem weiteren Ferman der Weg offengehalten.“
Den Kindern heimlich vom Ezidentum erzählt
Feyziye hat in ihrer IS-Gefangenschaft ein Jahr in Telafer und sechs Monate in Raqqa verbracht. In dieser Zeit ist sie an insgesamt sechs IS-Männer verkauft worden. Diese Männer haben ihr jede Grausamkeit angetan, die ihnen in den Kopf gekommen ist. Feyziye ist in jeder Wohnung, in der sie festgehalten wurde, zur Haus- und Sexsklavin gemacht worden. Nach anderthalb Jahren beim IS wurde sie gegen ein Lösegeld an ihre Familie verkauft.
Dass sie in dieser Zeit ihre Kinder behalten konnte, war das wichtigste, sagt Feyziye: „Sie haben mir meine Kinder nicht weggenommen. Dass sie bei mir bleiben konnte, war mein großes Glück in dieser Zeit. Ich habe ihnen ständig von ihrem Vater erzählt und nicht zugelassen, dass sie Arabisch lernen. Wenn sie Arabisch gelernt hätten, wären sie auf der Straße zu den IS-Kindern gegangen und hätten mit der Zeit ihr Gerede über den Islam übernommen. Ich habe ihnen immer heimlich vom Ezidentum erzählt. Meine Kinder waren sehr klein. Das Größte war drei, das andere zwei Jahre alt. Das kleinste hatte ich ihm Arm, als der IS mich gefasst hat. Es war erst zwei Monate alt. Beim IS habe ich immer gedacht: Wären ich und meine Kinder doch in Şengal gestorben und nicht in die Hände des IS geraten.“
„Es ist nicht deine Sünde“
„Meine Verwandten, mit denen ich zusammen verschleppt wurde, habe ich nie gesehen. Der IS änderte die Namen von allen, die er gefangengenommen hatte. Wir durften mit niemandem sprechen. Es gab auch niemanden, den ich hätte fragen können, und ich kannte die Namen nicht. Als ich zurück nach Şengal kam, war die Region teilweise bereits befreit, aber ein Teil war noch in der Hand des IS. Ich ging zu meiner Familie in ein Lager in Südkurdistan. Es machte mich sehr glücklich, wieder bei meiner Familie zu sein. Als ich zu meinem Mann kam, begrüßte er mich herzlich. Das hat mich sehr bewegt. Er sah das, was der IS mir angetan hat, nicht als meine Sünde an, sondern als Sünde der Welt. Seit meiner Rückkehr habe ich meinem Mann und auch sonst niemandem von meinen Erlebnissen erzählt. Ich erzähle es das erste Mal.“