Kurdische Seniorin als Terroristin angeklagt

In Amed beginnt morgen der Prozess gegen Meryem Soylu. Die 1941 geborene Kurdin engagiert sich für den Verein MEBYA-DER, angeklagt ist sie unter anderem als „KJA-Kader“. Die aktive Phase der KJA hat Soylu aber verpasst, weil sie zu der Zeit inhaftiert war

An einem Gericht in Amed (tr. Diyarbakir) beginnt am Dienstag der Prozess gegen Meryem Soylu. Die 1941 geborene Kurdin befindet sich seit Anfang März unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ in Untersuchungshaft. Grundlage ist ein Verfahren gegen den Solidaritätsverein MEBYA-DER, der sich für Menschen engagiert, die Angehörige im kurdischen Befreiungskampf verloren haben. Die Organisation ist legal, wird von den Strafverfolgungsbehörden dennoch kriminalisiert. Soylu ist Beisitzerin im Vereinsvorstand. Nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir bestünde eine „organische Verbindung“ zwischen MEBYA-DER und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Als vermeintliche Beweise für die behauptete PKK-Mitgliedschaft von Soylu zieht die Anklagebehörde unter anderem die Buchführung des Vereins heran, Mitgliedschaftsformulare, ihre Teilnahme an Veranstaltungen von MEBYA-DER und Beerdigungen von gefallenen Guerillakämpfer:innen. Laut der kafkaesken Auffassung der Staatsanwaltschaft habe die Seniorin die Beisetzungen „im Namen der PKK organisiert“, weil sie eine „führende Position im spirituellen Flügel der Organisation” einnehme. Die Anklage stützt sich zudem auf die Aussagen der zwei Belastungszeugen Yasmin Yalçın und Temur Güzel, die behaupten, MEBYA-DER sei als Nachfolgeorganisation des im Zuge des missglückten Putschversuchs 2016 per Notstandsdekret geschlossenen Vereins MEYA-DER gegründet worden.

Meryem Soylu (mit weißem Kopftuch) im Frauengefängnis Diyarbakir

Des weiteren wird Soylu vorgeworfen, „Kader“ der Dachorganisation der autonomen Frauenstrukturen in Nordkurdistan, Kongreya Jinên Azad (KJA) – zu Deutsch: Kongress der freien Frauen, gewesen zu sein. Der Dachverband wurde im Februar 2015 gegründet und im Herbst 2016 ebenfalls durch ein Dekret verboten. Die aktive Phase der KJA hat die bald 80 Jahre alte Seniorin Meryem Soylu aber verpasst, da sie von 2009 bis 2018 wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis saß. Darüber hinaus wird in der Anklageschrift die Schlichtung eines Streits zwischen zwei kurdischen Familien kriminalisiert. Den Zwist hatte MEBYA-DER zusammen mit der HDP-Amed beilegen können.

Verhandelt wird der Prozess gegen Meryem Soylu am 5. Schwurgerichtshof Diyarbakir. Sollte die Frau verurteilt werden, droht ihr ein Freiheitsentzug von mindestens siebeneinhalb und maximal 15 Jahren. Im Zuge der Ermittlungen gegen den Solidaritätsverein befinden sich insgesamt zwölf Vereinsangehörige seit März in Untersuchungshaft, darunter die 71-jährige Beisitzerin Hatun Aslan und die Ko-Vorsitzenden Yüksel Almas und Şeyhmus Karadağ. Wann das Verfahren gegen sie beginnt, ist unklar. Auch gegen 18 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wird im Zusammenhang mit MEBYA-DER ermittelt, weil sie Mandate von Mitgliedern des Solidaritätsvereins übernommen haben. Auch die Zweigstellen der Vereinigung, deren voller Name „Hilfs- und Solidaritätsverein für Menschen, die ihre Angehörigen in der Wiege der Zivilisationen verloren haben“ lautet, befinden sich im Fokus der staatlichen Repression. In Wan etwa befinden sich vierzehn Aktivist:innen von MEBYA-DER seit letzter Woche in Polizeigewahrsam. Was ihnen genau vorgeworfen wird, ist unbekannt, weil die Ermittlungsakte unter Geheimhaltung steht und auch die Anwält:innen keine Akteneinsicht bekommen.