Am 3. August jährt sich der Beginn des IS-Genozids und Femizids an der ezidischen Bevölkerung der Şengal-Region zum achten Mal. Die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (Komalên Jinên Kurdistanê, KJK) fordert, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und angesichts der andauernden Angriffe für Şengal einzutreten.
Die Erklärung lautet: „Am 3. August 2014 begann der 73. Ferman (Massenmord) an den Ezid:innen. Der Genozid hat sich tief in unser Gedächtnis eingegraben und die Erinnerung ist noch so frisch, als wäre er gestern geschehen. Grund dafür ist nicht nur der Schmerz, sondern auch die akute Bedrohung durch einen 74. Genozid.
An diesem Tag würdigen wir den Kampf für die Freiheit, der von den ezidischen Frauen angeführt wurde, und wir erinnern uns voller Dankbarkeit an unsere Gefallenen, die den Weg für den Widerstand geebnet und uns im Kampf ermutigt haben. Die ezidischen Kurd:innen sind ein Volk und eine Glaubensgemeinschaft, die es geschafft hat, zu überleben und ihren Glauben, ihre Identität, ihre Kultur und ihre Existenz zu bewahren, obwohl sie in ihrer Geschichte bereits 73 Genoziden ausgesetzt waren.
Das ist historisch einmalig. Alle Tyrannen, Kaiser, Schahs und Sultane, die versucht haben, die Ezid:innen auszulöschen, sind gescheitert. Die Ezid:innen sind der Ursprung, die Wurzel von uns Kurd:innen, einem der ältesten Völker dieser Region, in der die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte sesshaft geworden ist.
Weil die ezidische Gemeinschaft eine Gesellschaft ist, deren Geschichte weit über die Geschichte der staatlich dominierten, ausbeuterischen, sogenannten Zivilisation der Menschheit hinausgeht, hat sie all diese Völkermorde überlebt und die Kraft bewiesen, ihre Existenz und ihre Werte am Leben zu erhalten. Kein Tyrann, Schah, Sultan oder Diktator war jemals in der Lage, eine so tief verwurzelte historische gesellschaftliche Realität vom Angesicht der Erde zu tilgen.
Wer sich mit der Geschichte der Menschheit befasst, weiß, dass die Kurd:innen eine Gesellschaft bilden, die sich jedem Angriff der Kräfte der ‚Zivilisation‘ widersetzt, indem sie sich in die Tiefen der Berge zurückzieht und dort ein neues Leben aufbaut und sich abschottet. Diese Kurd:innen sind vor allem die ezidischen Kurd:innen.
Auch die kapitalistische Moderne des 21. Jahrhunderts hat nicht erreicht, woran ihre ältesten und mächtigsten Vorgänger gescheitert sind. So als ob aus diesen furchtbaren Vernichtungsangriffen nichts hätte gelernt werden können, glaubte man, das Vernichtungsziel nun mit den von der kapitalistischen Moderne geschaffenen bigotten IS-Banden zu erreichen. Der Şengal-Genozid im August 2014 fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Er ging als 73. Genozid in die Geschichte ein und war ein Verbrechen, bei dem die Welt ohne mit der Wimper zu zucken zusah.
Der IS stützte sich auf den kurdenfeindlichen türkischen Staat, von dem er Kraft und Informationen bezog. Auch der Iran und die reaktionären Machtzentren der arabischen Staaten wie der Irak waren direkt und indirekt an der Unterstützung dieses Völkermords beteiligt. Als der Genozid begann, war die verräterische Kollaborateurspartei PDK für die Sicherheit von Şengal verantwortlich. Als der IS angriff, zog sich die PDK, ohne einen Schuss abzufeuern, fluchtartig zurück. Hunderttausende ezidische Kurd:innen, Frauen, Kinder und Alte wurden der Willkür des IS überlassen. Wir alle kennen die Folgen. Die skrupellosen, frauenfeindlichen Verbrecher vom IS haben mehr als 5.000 ezidische Kurd:innen in Şengal, egal ob Frauen, Kinder, Junge und Alte, ermordet. Der IS entführte und vergewaltigte Tausende von Frauen und Kindern und verkaufte sie auf den von ihm eingerichteten Sklavenmärkten. Hunderttausende Ezid:innen mussten aus der Region fliehen, in der sie seit Anbeginn der Geschichte zu Hause waren. Wenn die Guerilla die Region nicht erreicht hätte, wäre der IS in der Lage gewesen, die ihm gestellte Aufgabe erfolgreich abzuschließen. Er war weit genug vorgerückt, um das zu erreichen. Eine Handvoll HPG-, YJA-Star-, YPG- und YPJ-Kämpfer:innen konnten durch ihr historisches Eingreifen Hunderttausende von ezidischen Kurd:innen vor dem Genozid bewahren.
Wir erinnern hiermit erneut voller Dankbarkeit an unsere Gefallenen, die mutig Widerstand geleistet und ihr Leben gegeben haben, und verurteilen die Täter des Genozids voller Hass.
Die ezidischen Kurd:innen zogen sich, wie bei jedem Massenmord in ihrer Geschichte, tief in die Berge zurück. Zehntausende flohen nach Nord- und Südkurdistan. Viele flohen nach Rojava. Die Guerilla kam ihnen in Windeseile zur Hilfe und brachte die Ezid:innen wieder auf die Beine. Sie schlossen sich der Guerilla an und schickten ihre Söhne und Töchter an der Seite der Guerilla in den Kampf. Mit der Kraft und Moral der Guerilla bauten die Menschen in Şengal ihre eigenen Widerstandseinheiten, die YBŞ und YJŞ, sowie einen Rat, in dem vom Volk gewählte Vertreter:innen versammelt wurden, auf. Sie verteidigten ihre Kultur, ihren Glauben und ihre ethnische Identität. Wir begrüßen den Aufbau der Selbstverwaltung der Bevölkerung und der Frauen von Şengal und ihre Haltung im Angesicht des Genozids.
Nichts hat sich nach dem Plan der Unterdrücker entwickelt. Şengal konnte den ezidischen Kurd:innen nicht weggenommen werden und auch den Religionskrieg konnten sie nicht gewinnen. Die Sieger:innen waren die ezidischen Kurd:innen, die Seite an Seite mit der Guerilla Widerstand leisteten. Der türkische Staat, der Irak und die kollaborierende südkurdische PDK haben es nicht verkraftet, dass die ezidischen Kurd:innen den mörderischen Angriff des IS überlebten und durch Widerstand gesiegt haben. So leiteten sie mit dem Abkommen vom 9. Oktober 2020 den 74. Ferman ein. Es gibt gar keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesem Abkommen um ein neues Vernichtungsvorhaben handelt. Diese Kräfte versuchen erneut, die ezidischen Kurd:innen ohne Verteidigung, ohne Selbstverwaltung und ohne Willen zurückzulassen, und greifen deshalb an. Der Hauptakteure des 74. Ferman sind der kolonialfaschistische türkische Staat mit seinen fast täglichen Drohnenangriffen, aber auch der Irak, der mit Schikanen und Angriffen am Boden und Invasionsdrohungen vorgeht, sowie die PDK, welche die Region durch provokative Operationen unter ihre Herrschaft bekommen will.
Am achten Jahrestag des Völkermordes verurteilen wir diese Kräfte, die den Widerstand der Frauen des ezidischen Volkes zu vernichten versuchen. Wir fordern die internationalen Mächte auf, ihren Verpflichtungen gerecht zu werden. Wie viele Staaten haben den IS-Angriff auf Şengal als Völkermord anerkannt? Diese Entscheidung sollte auch den anderen Staaten als Präzedenzentscheidung gelten. Die Länder, die den Völkermord anerkannt haben, müssen aber auch entsprechend der Entscheidung handeln und von den verantwortlichen Kräften Rechenschaft verlangen.
Fünftausend Menschen wurden brutal ermordet, rund 80 Massengräber wurden identifiziert, Tausende Einwohner:innen von Şengal sind entführt worden und es gibt immer noch keine Nachricht von Tausenden von gefangenen Frauen und Kindern. Unzählige Menschen sind immer noch auf der Flucht, weit weg von ihrer Heimat, und existieren unter schwierigsten Lebensbedingungen in Lagern. Die gesamte Infrastruktur von Şengal wurde während des Krieges zerstört, Bildungs-, Gesundheits- und Gebetsräume, die zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehören, wurden dem Erdboden gleichgemacht. Vor dem Hintergrund dieser Realität sind die Menschen in Şengal mit einem neuen Angriffskonzept von Ländern wie der Türkei und dem Irak konfrontiert. Das ist eine Schande für die Menschheit.
Es sind acht Jahre seit dem Genozid vergangen. Bis zu 400.000 Menschen sind vertrieben worden. Nur einige Zehntausend von ihnen sind bisher zurückgekehrt. Hunderttausende befinden sich noch immer in Lagern und Zelten, Tausende wurden massakriert. Tausende liegen noch immer in Massengräbern. Die internationalen Mächte schweigen dazu. Als Şengal im Oktober 2015 befreit wurde, hat die internationale Gemeinschaft Hilfe für den Wiederaufbau des Stadtzentrums versprochen. Dieses Wort, das den Ezid:innen gegeben worden war, wurde schnell wieder vergessen oder einfach nicht erfüllt. Es gibt immer noch 3.000 Frauen und Kinder aus der Şengal-Region, die noch auf ihre Rettung aus den Händen der IS-Monster warten. Obwohl acht Jahre vergangen sind, ist immer noch keine der für den Völkermord verantwortlichen Mächte strafrechtlich verfolgt worden, die Schuldigen wurden nicht entlarvt, und die juristischen und politischen Prozesse dazu sind bisher nicht in Gang gekommen.
Auch acht Jahre nach dem Beginn des Genozids wurden die offensichtlich dafür verantwortlichen Kräfte nicht zur Rechenschaft gezogen. Dafür tragen auch die internationalen Mächte und die Weltöffentlichkeit Verantwortung. Wir sind dafür verantwortlich, den Völkermord aufzuklären, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und dafür zu sorgen, dass die Wunden des ezidischen Volks gelindert und neue Genozide verhindert werden.
Daher sollte jetzt überall anerkannt werden, dass es sich bei den Geschehnissen um Völkermord handelt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es müssen effektive internationale Maßnahmen ergriffen werden, um die immer noch gefangenen ezidischen Frauen und Kinder zu befreien. Die Geschehnisse müssen auch als Feminizid in das internationale Recht eingeschrieben werden. Wir rufen alle Kräfte dazu auf, diese Verantwortung zu übernehmen und auf effektivste Weise dafür zu kämpfen. Gerade für uns als Frauen ist es notwendig, den globalen Kampf zu stärken, dass sich ein solcher Genozid, der Ausdruck der sexistischen, nationalistischen, konfessionalistischen und fundamentalistischen Ideologie ist, nicht wiederholt. Dieser unmenschliche Angriff auf die ezidischen Frauen ist ein Angriff auf alle Frauen. Wir müssen dies als einen Angriff erkennen und es als unsere Pflicht ansehen, eine weltweite Frauensolidarität aufzubauen.
Um zu verhindern, dass sich diese Angriffe, die eine Ausgeburt des patriarchalen Denkens sind, wiederholen, müssen wir unseren gemeinsamen Kampf verstärken. Wir müssen ein globales Netzwerk des Kampfes aufbauen, das zu einer radikalen Transformation des patriarchalen Systems führt.
Zu diesem Anlass erinnern wir voller Respekt an die am 22. Juli bei einem Drohnenangriff des faschistischen frauenfeindlichen türkischen Staates ums Leben gekommenen Kommandantinnen der YPJ, Jiyan, Barîn und Roj. Sie waren Frauen, die in der ersten Reihe gegen den IS gekämpft haben. Wir rufen alle Frauen auf, die Organisationen nicht dulden, die sich auf Feminizid und Massaker stützen. Wir rufen dazu auf, gemeinsam gegen die reaktionären frauenfeindlichen Gesetze und das mörderische patriarchale System Widerstand zu leisten und diesen Kampf zu verstärken.“